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Ava Slappnig

Oh meine Liebe

An Dramatik kaum zu übertreffen: Das Tanzstück vom libanesischen Choreografen und Tänzer Ali Chahrour befasst sich mit einer Liebesgeschichte aus dem neunten Jahrhundert. Das Spiel mit dem Licht lässt Zuschauer:innen auf intime Weise am Schicksal der beiden Männer teilhaben.

Die Bühne ist ein schwarzer Schlund. Das Licht wird ganz langsam heller und es beleuchtet zwei halbnackte Körper auf einem Sockel in der Mitte. Das warme Licht wird eins mit den sanften, schlängelnden Bewegungen des einen Oberkörpers, der andere schläft. Aus den Tüchern am Rand der Bühne schiebt sich die Silhouette einer Frau, sie singt mit rauer Stimme und Inbrunst – die Melodie ist schwer und traurig und für westliche Hörgewohnheiten auch etwas dissonant. Die Stimme der Frau begleitet die Bewegungen der Tänzer und liefert den Soundteppich des Tanzstücks. Die alte Geschichte, welche sich in der Choreografie entfaltet, handelt von einer grossen, unerfüllten Liebe, von Abschied und von Schmerz. Die singende Frau drängt sich auf der Bühne immer wieder sanft zwischen die Tänzer und verändert durch ihre Eingriffe die Dynamik der beiden Männer – ist sie ihre Mutter? Das soziale Tabu? Das schlechte Gewissen? Gott? Das arabische Lied, dessen Melodie sich wie ein Mantra wiederholt und das Strophe um Strophe von der Sängerin erzählt wird, singt man traditionellerweise am Karfreitag. Dann, wenn an die Kreuzigung erinnert wird und Maria um ihren Sohn trauert: Immer wieder ruft sie «Wa Habibi» – Oh meine Liebe. Die Tänzer bewegen sich gemeinsam in Slow Motion, schmelzen aus den Armen der Frau weg und formen zusammen neue Figuren. Ich glaube immer wieder, religiöse Symbole zu erkennen; die Hand Gottes, eine Schlange, ein Kreuz, Flügelschläge. Das schwarze, halbtransparente Tuch, das die Frau gegen Ende des Stücks über das Gesicht des einen Tänzers legt, wirkt wie ein Vorbote des Elends, dass ihn heimsuchen wird. Dieses Spannungsfeld zwischen Erotik, Liebe und Tradition ist aufregend, aber was besonders fasziniert, ist der sorgfältige Umgang mit dem Licht: Die Tänzer werden zum Kunstwerk.

Das Licht erforscht die Körper der beiden Männer wie eine unbekannte Landschaft. Einzelne Körperteile werden so punktuell und präzise beleuchtet, dass das Publikum immer wieder das grosse Ganze vergisst und sich in den einzelnen Wölbungen und scheinbar mikroskopisch kleinen Bewegungen der Männerkörper verliert. Man bildet sich ein, Hühnerhaut zu erkennen, wie sich einzelne Härchen aufstellen, den zittrigen Atem. Dieser Zoom auf die Körper ist so intensiv, erotisch und privat, dass sich Zuschauen eher wie Eindringen anfühlt. Die kleinen Störungen in der Choreografie, die ungewohnten Töne, die unerwarteten Zuckungen, die Risse und Brüche in der Harmonie sind wie Kniffe in die Arme der Zuschauer:innen, um wieder etwas Abstand zu finden. Zum Schluss wird es ob der ganzen Liebe eng ums Herz; dann, als der eine Tänzer auf der Brust seines Partners kauert und sich von ihm bewegen lässt, wie eine Maschine, die nur gemeinsam funktioniert. Es schmerzt, als die letzte Figur auseinanderbricht, ein perfekt symmetrischer Körper aus zweien, wo Gliedmassen scheinbar keine andere Funktion mehr haben, als sich gegenseitig zu ergänzen. Im wahnsinnig dramatischen Höhepunkt versinkt ein Liebender unter den Scheinwerfern und das Licht erlischt. Wa Habibi.

 

 

Der Choreograf und Tänzer Ali Chahrour (*1989 in Beirut) hat im Libanon und in Europa Tanz und Theater studiert. In seinen Werken setzt er sich jeweils mit arabischen Mythen und den politischen, sozialen und religiösen Kontexten seines Heimatlands auseinander. Dabei interessieren ihn die Beziehungen von Tradition und Moderne, Körper und Bewegung. Das Stück «The Love Behind My Eyes» (2021) ist die Abschlussinszenierung seiner Trilogie zum Thema Liebe und basiert auf einer tragischen Liebesgeschichte zwischen zwei Männern aus dem neunten Jahrhundert. Vor diesem Werkzyklus hat der Choreograf und Tänzer bereits eine andere Trilogie beendet; hier ging es um Todesrituale der arabischen Kultur. Die Sängerin von «The Love Behind My Eyes», Leïla Chahrour, ist die Mutter von Ali Chahrour und war schon mehrfach an seinen Produktionen beteiligt.

 

 

Regie und Choreografie: Ali Chahrour

Performance: Leila Chahrour, Chadi Aoun, Ali Chahrour

Musik: Abed Kobeissy

Lichtdesign und Szenografie: Guillaume Tesson