Nandi und der Schlangenhäuptling
Ein Märchen im Märchen.
Es war einmal eine junge Frau, ihr Name war Nesindano «Nunu» Namises. In ihrem Land Namibia war sie bekannt für ihre vielen guten Taten. Sie war sehr klug und setzte sich in ihrer künstlerischen Arbeit für die Rechte von Frauen und Kindern ein. Eines Tages bekam Nunu Besuch von Freunden. Es waren das südafrikanische Künstlerkollektiv Khoi Khonnexion und die Band Kante aus Hamburg. Grund für dieses Zusammenkommen war ein geplantes Abenteuer. Gemeinsam wollten sich die acht Freunde auf die Spuren der Märchen begeben, die vor geraumer Zeit ihren Weg von Europa nach Südafrika gefunden haben. Jetzt, nach langer Vorbereitung, waren sie endlich bereit. Und so begann ihre Reise.
Mit dem Schiff fuhren sie ans südliche Ende von Afrika, nach Kapstadt. Dort, wo auch die deutschen und niederländischen Siedler sich zuerst niederliessen, wollten sie mit ihrer Spurensuche beginnen. Es ward schon dunkel, als der Hafen endlich in Sicht kam. Nachdem sie angelegt hatten, mussten sie nur noch eine Bleibe für die Nacht finden. In der ganzen Stadt waren die Lichter bereits aus, bis auf ein kleines etwas abgelegenes Häuschen, indem sie einen gelben Schein vernahmen. Sie packten ihre sieben Sachen und machten sich auf den Weg. Dort angekommen, klopften sie dreimal an die Holztür. Ein freundlicher, älterer Herr öffnete ihnen. Die Reisenden baten um ein Nachtlager, sie seien erschöpft vom langen Tag auf See. Wie es der Zufall wollte, hatte der alte Mann hinter seinem Häuschen noch eine kleine Scheune mit weichem Stroh und Decken, wo sie alle die Nacht verbringen konnten. Zuvor hatte er gerade den Kessel vom Feuer genommen und wollte sich sein Abendessen schmecken lassen. Grosszügig wie er war, deckte er den Tisch für die reisenden Freunde und teilte sein Essen mit ihnen. Mit vollen Bäuchen machten sie es sich in einer gemütlichen Ecke des kleinen Häuschens bequem. Und als sie so dasassen, erzählten sie dem alten Mann von ihrer Reise und ihrer Suche nach den Märchen. Auf einmal begannen die müden Augen des Greisen zu leuchten. «Ich weiss, wo ihr hingehen müsst, um die Märchen zu finden. Geht weiter Richtung Norden. Dort, wo die Erde zu Sand wird und die Bäume zu wachsen aufhören, findet ihr eine weise, alte Frau. Sie wird euch helfen können. Jetzt aber will ich euch eine Geschichte erzählen.»
Und so erzählte er ihnen die Geschichte der ersten Menschen. «Vor über 2000 Jahren haben sich in dieser Gegend die Khoikhoi – später von den Holländern abfällig als Hottentotten bezeichnet – angesiedelt. Sie waren in Gruppen wie ihr unterwegs und waren gut in der Viehzucht und des Keramikhandwerks kundig. Sie führten ein friedliches Leben. Jahrhunderte später kamen aus dem weiten Norden Menschen auf dem Wasserweg hinab. Zuerst war dieses Land für sie nur ein Halt auf ihrer Reise weiter in den Osten, nach Indien. Schon bald aber bauten diese Menschen hier einen Hafen, um sich mit Proviant und ihre Erkrankten verpflegen zu können. Ein Spital wurde gebaut, schliesslich folgten bald auch Häuser, Höfe und Farmen. Aus der ehemaligen Versorgungsstation wurde die erste europäische Siedlung auf afrikanischem Boden. Und damit war der erste Schritt zur Kolonialisierung Südafrikas getan. Die Einwanderer stammten grösstenteils aus den Niederlanden oder waren norddeutsche Siedler. Schnell wurden aus wenigen viele und sie brauchten mehr Platz. Platz, auf dem bis anhin die Khoi lebten. In Konflikten behaupteten sich dank Gewehren und Pferden die Einwanderer, die Khoi wurden immer mehr aus ihrer Heimat vertrieben, ihrem Vieh, ihrem Land und ihren Wasserquellen beraubt. Nach und nach wurden die ehemals unabhängigen indigenen Völker zu abhängigen Arbeitern gemacht. Vor allem das Jahr 1713 war ein schlimmes für die Khoi, damals wütete eine der verheerendsten Pockenepidemien hierzulande. Von Europa eingeschleppt, dezimierte die Krankheit die Khoikhoi-Bevölkerung, es war eine Katastrophe. Danach waren die meisten Khoi von den Europäern abhängig.»
Die Reisenden machten grosse Augen. Doch der alte Mann war mit seiner Geschichte noch nicht am Ende. «Ein Stück weiter im Norden, in Namibia, war zu dieser Zeit noch wenig von den Einwanderern zu spüren. Hundert Jahre später aber kamen vor allem deutsche Siedler in dieses Gebiet und gründeten auch hier eine Kolonie. Der Grund war das sogenannte ‹Klippekies› – Diamanten, die im Sand der Wüste und der Strände zu finden waren. Die Deutschen strömten in Scharen ins Land, in der Hoffnung auf grossen Reichtum. Zunehmend stiess dieses rücksichtslose Verhalten aber auf Widerstand der dort angesiedelten Khoi-Völker, vor allem der Herero und der Nama. Auch ihre Situation verschlechterte sich durch den Einfluss der Einwanderer immer mehr. Immer häufiger kam es zu Konflikten, die schliesslich in einen Kolonialkrieg gegen die Khoi-Völker mündete. Der Krieg dauerte von 1904 bis 1908 und wuchs zu einem regelrechten Vernichtungskrieg an, dem etwa 70’000 Menschen zum Opfer fielen. Nicht wenige bezeichnen die brutale Niederschlagung der Aufstände, die in dieser Zeit stattfanden, als Völkermorde an den Nama und Herero.» Und so füllte sich der Sack der Reisenden an Stelle eines Märchens mit einer traurigen Geschichte.
Am nächsten Morgen bedankten sich Nunu und die Musiker bei dem alten Mann für seine Gastfreundschaft und führten ihren Weg, wie ihnen geheissen, nach Norden fort. Schon bald kamen sie zu der Stelle, wo die Erde zu Sand wurde und die Bäume verschwanden. Dort wohnte die weise Frau. Sie hatte silbernes Haar, das in der Sonne glänzte. Sofort bemerkten die Reisenden, dass sie diejenige war, die der alte Mann beschrieben hatte. Aufgeregt erzählten sie ihr von ihrer Reise, ihrem Vorhaben und der Geschichte, die ihnen der alte Mann mit auf den Weg gegeben hatte. Die weise Frau lächelte. «Ihr seid auf dem richtigen Weg. Doch die Märchen sind nicht mehr bei mir. Ich will euch aber nicht mit leeren Händen weiterziehen lassen. Darum lasst mich euch eine Geschichte erzählen. Sie handelt vom Geschichtenerzählen selbst.» Die Freunde nahmen im Schatten des grossen Sonnensegels Platz und lauschten den Worten der weisen Frau. Sie wusste viel über die alten Bräuche des Erzählens und über die verschlungenen Pfade, auf denen die Märchen der europäischen Siedler zu den Khoi gelangt waren, und liess die acht Reisenden daran teilhaben. Zum Schluss fügte sie noch an: «Da ihr so freundlich wart, mir Gesellschaft zu leisten und meinen Worten zu lauschen, möchte ich euch sagen, wo ihr die Märchen findet. Lauft weiter in die Wüste, tief hinein. Wenn ihr zu einem Dorf kommt, fragt nach einem kleinen Mädchen namens Malou. Sie wird euch geben können, wonach ihr sucht.»
Die acht Reisenden bedankten sich bei der weisen Frau und machten sich auf den Weg in die Wüste. Schliesslich war auch diese Geschichte noch kein Märchen, und so war auch ihre Reise noch nicht zu Ende. Als die Wasservorräte immer knapper wurden und Nunu, Kante und Khoi Khonnexion beinahe am Ende ihrer Kräfte waren, sahen sie in der Ferne die Umrisse des Dorfes, das ihnen die weise Frau mit dem silbernen Haar beschrieben hatte. Neuen Mutes nahmen die Reisenden ihre letzten Kräfte zusammen und liefen so schnell, wie sie konnten, um das kleine Mädchen zu finden. Bereits die erste Person, die sie im Dorf nach Malou fragten, konnte ihnen sagen, wo sie zu finden ist: «Sie ist im grossen Zelt, sie wird gleich ein Märchen erzählen. Es ist das Märchen des Schlangenhäuptlings.»
Gerade noch rechtzeitig kamen die Freunde zum Zelt, als Malou den anderen Kindern zu erzählen begann: «Nandi war sehr arm. Ihr Mann war tot und sie hatte keine Söhne zum Hüten des Viehs und nur eine Tochter, die ihr bei der Feldarbeit helfen konnte. Im Sommer, wenn die Umdoni-Bäume üppig zartgelbe Blüten trugen, grub sie mit ihrer Tochter nach Südkartoffeln, die sie zu ihrem Maisbrei assen. Doch im Herbst, wenn die Blüten abgestorben waren, sammelte sie die purpurroten, süssen Umdoni-Beeren und gab sie ihren Nachbarn im Tausch gegen Streifen getrockneten Ziegenfleisches oder Kalebassen mit dicker, cremiger Sauermilch. Eines Tages, es war sehr heiß, ging Nandi wie gewöhnlich zum Fluss hinunter, um die purpurroten Beeren zu pflücken, doch sie konnte nichts finden. Nicht eine einzige Beere war zu sehen – nicht eine. Da hörte sie ein lautes Zischeln, ein lautes, schreckliches Zischeln. Als sie aufsah, erblickte sie eine riesige grün-graue Schlange, die sich rund um den dunkelroten Stamm des Baumes gewickelt hatte und ihren Kopf zwischen den Ästen wiegte. Und sie frass sämtliche Beeren auf. „Du stiehlst meine Beeren“, rief Nandi. „Oh, Schlange, du stiehlst mir meine ganzen Beeren. Was soll ich jetzt gegen Fleisch eintauschen, wenn du mir alle Früchte nimmst?“ Schlange zischelte wieder und liess sich langsam den Stamm hinunter gleiten. Nandi hatte Angst, aber wenn sie davonliefe, wäre es mit den Beeren ganz vorbei. „Was gibst du mir im Tausch für die Umdoni-Beeren?“ zischelte Schlange. „Wenn ich dir den Korb fülle, gibst du mir dann deine Tochter?“ „Ja“, rief Nandi. „Noch heute Abend gebe ich dir meine Tochter. Lass mich nur meinen Korb mit den purpurroten Früchten füllen.“
Doch als der Korb gefüllt war und Nandi sich auf den Heimweg machte, begann sie zu zittern ob des Versprechens, das sie abgegeben hatte. Wie konnte sie ihre Tochter nur einer so hässlichen Kreatur ausliefern? Sie musste dafür sorgen, dass Schlange nicht herausfand, wo sie lebte. Sie durfte nicht geradewegs nach Hause gehen, für den Fall, dass Schlange sie beobachtete. Nandi überquerte den Fluss an einer seichten Stelle und schlug den Weg in den Busch am anderen Ufer ein, wobei sie lautlos zwischen den Dornenbäumen hindurchschlüpfte. Sie wusste nicht, dass ein langer Dorn ihren Lederrock aufgekratzt hatte und dass ein winziges Stück Leder an einem Baum hängen geblieben war. Vorsichtig und leise ging sie durch das Schilf, wachsam nach Krokodilen Ausschau haltend, und watete durch den tiefen Teich. Sie wusste nicht, dass eine dicke purpurrote Beere aus ihrem Korb gefallen war und hinter ihr im Wasser hertrieb. Sie kroch zu einem riesigen Ameisenhaufen. Als sie an diesem vorbei war, musste sie ausser Sichtweite der Umdoni-Bäume sein. Aber sie blieb mit dem Fuß am Eingang des geheimen Tunnels der Wasserratte hängen. Sie wusste nicht, dass sie in der weichen, braunen Erde drei Perlen von ihrer Fusskette verloren hatte. Schließlich erreichte sie ihre Hütte und rief ihrer Tochter zu: „Mein Kind, ich habe etwas Böses getan. Ich habe dich Schlange versprochen für diesen Korb mit purpurroten Früchten.“ Und sie brach in Tränen aus.
Inzwischen war Schlange von dem Baum hinabgeglitten, um Nandi zu folgen. Hin und her wiegte sie ihren Kopf, bis sie ein kleines Stück Leder an dem Dorn sah; da wusste sie, welchen Weg sie zu nehmen hatte. Und noch einmal wiegte sie ihren Kopf hin und her, bis sie drei Perlen an der Mündung des Tunnels der Wasserratte liegen sah; da wusste sie, welchen Weg sie zu nehmen hatte. Gerade als Nandi in Tränen ausbrach, war ein lautes Zischeln am Eingang ihrer Hütte zu vernehmen; Schlange glitt hinein und rollte ihren langen, grün-grauen Körper auf. „Nein! Nein!“, schrie Nandi. „Mein Versprechen war nicht ernst gemeint. Ich kann dir meine Tochter nicht geben.“ Das junge Mädchen blickte auf. Ihre dunklen, braunen Augen waren sanft und ganz ohne Furcht. „Versprochen ist versprochen, Mutter“, sagte sie. „Schlange hat ein Anrecht auf mich.“ Sie streckte die Hand aus und streichelte Schlange den grün-grauen Kopf. „Komm“, sagte sie. „Ich hole dir etwas zum Fressen.“ Und sie brachte eine Kalebasse voll dicker, cremiger Sauermilch und gab sie ihr zum Trinken. Dann faltete sie ihre Decke zusammen und bereitete ihrem Herrn, der Schlange, ein Lager.
Mitten in der Nacht wachte Nandi auf. Was hatte sie geweckt? Hatte Leopard gehustet? Hatte Hyäne den Mond angesungen? Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Sie lauschte wieder. Stimmen. Sie konnte Stimmen hören. Es war ihre Tochter, die da sprach. Aber wem gehörte die andere Stimme? Diese tiefe, kräftige Stimme? Lautlos kroch sie unter ihren Felldecken hervor. Was sah sie da? Schlief sie noch und träumte? Neben ihrer Tochter saß ein hübscher junger Mann, gross gewachsen und stark. Bestimmt der Sohn eines Häuptlings, vielleicht sogar ein Häuptling selbst. Ihre Tochter machte einen Halsschmuck, flocht die bunten Perlen zu einem Hochzeitsmuster. Und während sie arbeitete, sprach der junge Mann sanft und liebevoll zu ihr. Nandi betrachtete die gefaltete Decke, auf der die Schlange zur Ruhe gebettet worden war. Darauf lag eine lange, zusammengerollte grün-graue Haut. Sie hob sie auf und warf sie ins Feuer, das in der Mitte der Hütte noch immer vor sich hin glomm. „Jetzt ist der Bann gebrochen“, sprach der Schlangenhäuptling, „Denn ein tugendhaftes Mädchen hat sich meiner erbarmt, und eine einfältige alte Frau hat meine Haut verbrannt.“ Doch trotz dieser schroffen Worte schenkte er Nandi ein warmes Lächeln. Nandi hat inzwischen drei Enkelkinder – einen Jungen zum Hüten des Viehs im Grasland und zwei Mädchen, die ihr helfen, das Unkraut zwischen den Maispflanzen heraus zu hacken und nach Süßkartoffeln zu graben. Umdoni- Beeren aber braucht sie nicht mehr zu sammeln, denn alle haben genug zu essen.»
Endlich hatten die Reisenden gefunden, wonach sie gesucht hatten. Rapunzel. Das Märchen vom Schlangenkönig war nur eines von vielen, das sie mitnehmen werden. Und endlich auch konnten sie ihren Sack mit fröhlichen Geschichten füllen. Doch die richtige Geschichte ist jene ihrer ganzen Reise, der Spurensuche gleichermassen wie der Aufarbeitung der historischen Geschehnisse.
Dieses Märchen im Märchen entstand durch die Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte Namibias und Südafrikas, der Migration europäischer Märchen in die Regionen der Khoi-Völker und sowie der Entstehungsgeschichte des Musik-Theater-Projekts «Das Haus der herabfallenden Knochen», in dem die Künstlerin Nesindano «Nunu» Namises, die Band Kante und die Gruppe Khoi Khonnexion von dieser Migration erzählen.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Valérie Hug, *1993, ist Studentin im Master Kulturpublizistik.