Mini-Reportage: Bus Stop
Bosnien ist kein Gefängnis. Doch die einen kehren heim, die anderen müssen bleiben. Im Morgengrauen hat der Gastarbeiterbus die Grenze überquert. Neun Stunden sind wir seit München unterwegs. Jetzt liegt die EU und mit ihr die Welt der Autobahnen hinter uns. Langsamer geht es nun voran und die Heimkehrer werden unruhig. Mit jedem Kilometer steigt der Puls. Balkanpop dudelt aus dem Radio.
Das Städtchen Žepče liegt am Fluss Bosna, in dem Plastikflaschen schwimmen und vereinzelte Fussbälle. An den Tütenfetzen in den Bäumen erkennt man den Stand des letzten Hochwassers. Einschusslöcher sind an den Häuserwänden zu sehen. Spuren des Krieges, der sie zu Pendlern machte, vor über zwanzig Jahren.
Der Bus hält an Gate 1 von 1. Straßenhunde trotten davon. Der Fahrer öffnet die Gepäckfächer, in denen sich die karierten Russentaschen türmen. Keiner reist hier mit kleinem Gepäck und so stapeln sich unten die Luxusgüter: Adidas und italienische Trauben. Heimkehr verpflichtet. Mancher schickt nur Taschen und arbeitet drüben weiter.
Dann ereignet sich die Szene, in der die einen auf die anderen treffen: Zwei Romakinder treten an den Bus. Sie sehen aus wie Brüder. Der Kleine, vielleicht sechs Jahre alt in dreckiger Jeans, die ihm um die Beine schlackert, beginnt zu singen. Der größere, vielleicht neun und mit einem grimmigen Lächeln im Gesicht, beobachtet ihn genau. Ganz der Pate, der er einmal werden will. Der kleine Sänger legt sich wirklich ins Zeug. Viel Seele liegt in jedem Ton, nur ist es der Stimme zu viel. Sie bricht und jagt den Tönen hinterher. Der Blick des Paten verfinstert sich, als hätte er das Desaster nicht schon hundertmal miterlebt.
Die Frauen im Bus sind aufgestanden, um sich das Schauspiel anzusehen. In den Gesichtern eine Mischung aus Rührung und Belustigung. Es ist ein bosnisches Volkslied und die Männer singen mit, lachen laut und klatschen sich unverhohlen auf die Schenkel. Der Kleine steigert seine Inbrunst, und scheitert glanzvoll.
“Aide, aide”, rufen die Frauen – los, los, und kramen in ihren Geldbeuteln nach Kleingeld. Der Große bekommt ein in Alufolie verpacktes Brötchen in die Hand gedrückt, der Sänger die Münzen. Sie untersuchen die Beute noch im Laufen.
Am Rand des Parkplatzes haben sich inzwischen auch die Hunde niedergelassen. Der Kleine hat das Geld gezählt und übergibt es stolz seinem Bruder. Er erntet einen Klaps auf den Hinterkopf. Der Pate packt das Brötchen aus, nimmt es auseinander, schaut unzufrieden. Trotzdem beißt er hinein und verteilt ein paar Bröckchen an die Hunde. Weiter geht die Fahrt. Die einen kehren heim, die anderen bleiben da. Bis Sarajevo sind es noch zwei Stunden.
Dieser Text entstand im ersten Reportagenworkshop der Plattform Kulturpublizistik und des Magazins REPORTAGEN. Erstmals erschien er in REPORTAGEN #14.
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Lisa Rüffer, *1981, ist freie Journalistin und lebt in München.