Minenfeld ist überall
Wenn der «Globus» im Grunde (bzw. am Grunde) ein «geborstener» ist (vgl. Im Welttheater: «Die Welt zu Gast bei Freunden»), dann ist er es dort, wo auf der Karte «Falkland-Inseln» steht, erst recht. Der Falkland-Krieg, der in Lola Arias «Minenfeld» nach-erzählt wird, passt – in Ottos Worten – «auf keine Kugel». Und eine Definition von Krieg, die darin aufscheint, könnte lauten: Zwei nicht kompatible Erzählungen müssen mit Waffen, Verletzten, Toten, mit Hass auf die andere Nation, mit zerstörten Biografien usw. ausgefochten werden. Daraus sollte «eine Welt» entstehen, es entsteht aber «eine Wunde». Wenn man genauer hinschaut, sind es sehr viele Wunden. So viele so genannte Veteranen, die diesen Krieg «überlebt» haben – und jedes Mal eine Biografie, die darin und dadurch ihre ganz eigene Wunde auch und gerade darin erfährt, dass Kriegs-Heimkehrer immer Exilierte sind und bleiben: exiliert aus dem, was Frieden und Alltag dort heisst, wo sie herkommen – ihrem Land, ihrer Gesellschaft, ihrer Heimat.
Sechs dieser Überlebenden, drei von der damals britischen, drei von der argentinischen Seite, finden in einer Produktion und Aufführung zusammen, die wiederum nicht «eine» sein kann, und auch nicht «eine» ist. Das ist Teil der Dramaturgie: es wird sichtbar gemacht, wie unmöglich es wäre, diese Erfahrungen und diese sechs realen Männer in ein Stück zu zwingen (auch wenn es nur drei von ihnen, und nur eine Seite des Konfkliktes wäre, wäre es unmöglich). Dennoch – und da spielt etwas, was unbeholfen und falsch manchmal «Magie des Theaters» genannt wird – mündet das Stück in einen «Schlussakkord» (einen Rock-Song-förmigen lauten Schrei); und, was diesen Sonntagabend in Zürich betrifft, in einen Moment der auf der Bühne fühlbaren kollektiven Moment der Emotion; schliesslich: einen lange dauernden Applaus, etwas wie eine «Standing Ovation».
Da stehen sie, die sechs Charakterköpfe, alle irgendwie um die 60 Jahre, und empfangen diesen Applaus. Im Kopf des Betrachters, der Teil der Emotion wurde und dessen Hände mitklatschen, regt sich die Frage: Wie – Applaus? Und – wo ja gerade ihr allfälliges Heldentum, auch Theater-Heldentum, noch einmal in Brüche ging – wofür? Vergleichsweise einfache Antworten wären: Sie haben sich der Vergangenheit gestellt. Sie haben sich der Begegnung mit dem personifizierten «Feind» (dem Briten, dem Argentinier) – und damit der Begegnung mit sich selber – gestellt. Als einzelne haben sie in einer Art Wahrhaftigkeit ihr Täter- und Opfersein bezeugt. Oder auch – nicht mehr ganz so einfach: Sie haben diesen Abend hinter sich gebracht. Haben eine Angst, die im Grunde eine Theaterangst ist, überwunden. Haben uns das Gefühl gegeben, dass man Kriege – nachdem klar ist, dass sie an den Orten ihres Ausbrechens unausweichlich sind – nicht führen muss. Theater hat, auch in dieser Ausformung (also im Sichtbarmachen der Unmöglichkeit einer Moral) eine Moral. Theater hat auch in dieser Ausformung (also im Sichtbarmachen der Unmöglichkeit einer Katharsis) eine Katharsis.
In der anschliessenden Frage-Antwort-Runde sagt einer der drei Argentinier, sein Leben sei vor drei Jahren ein ruhiges und unabhängiges gewesen. Nun sei es durch sein Mittun in diesem Projekt ein Minenfeld geworden. Er sagt nicht genauer, was er meint, aber man kann ahnen: Der Krieg ist nicht vorbei. Auch Jahrzehnte später kann man in den Augen der Angehörigen des eigenen Landes ein Verräter sein. Indem man mit dem Feind auf die Bühne steigt. Mit ihm Bier trinkt. Einem Publikum den Eindruck vermittelt, dass eine geteilte, oder wenigstens sichtbar geborstene, Wahrheit möglich sei. Das Minenfeld, auch in Friedenszeiten, an vermeintlich Friedensorten (wie etwa Theater-Festivals), auch auf vermeintlich neutralem oder symbolisch-fantastischem Terrain (wie etwa Theaterbühnen), ist immer zuerst ein inneres.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Ruedi Widmer, *1959, ist Kulturwissenschaftler und Kulturpublizist. Er leitet den Master Kulturpublizistik an der ZHdK und ist verantwortlich für die Plattform Kulturpublizistik.