Migration, Demokratie und die Figur des Fremd- und Vieltuers. Interview mit der Philosophin Christine Abbt
KATHARINA FLIEGER: Frau Abbt, mit Johan Rochel haben Sie das Buch «Migrationsland Schweiz. 15 Vorschläge für die Zukunft» herausgegeben. Motivation dafür war, wie Sie es nennen, eine diskursive Sackgasse, in der man hierzulande stecke. Was ist gemeint?
CHRISTINE ABBT: In der Migrationsdebatte sind die Positionen oft klar bezogen. Manche sehen eine Gefahr und möchten Mauern bauen. Andere wollen helfen und Menschen willkommen heissen. Ein Anliegen der Philosophie ist es, aus solchen verfestigten Positionen herauszukommen und zu einem sachlichen Gespräch zurückzufinden: Was macht vielleicht doch Sinn? Welche Lösungen können gemeinsam erarbeitet werden?
Um dies zu erreichen, müsste man eine Leserschaft voraussetzen, die bereit ist, die im Buch versammelten Beiträge anzunehmen, darüber nachzudenken, vielleicht auch zu diskutieren. Was kann ein solches Buch leisten?
Im Idealfall trifft man sich mit Freunden und hat zwei, drei Vorschläge aus diesem Buch gelesen, hat sich aufgeregt, lehnt sie ab oder findet sie gut. Wenn das passiert und die Diskussion intensiv in Gang kommt, hat es sich gelohnt.
Sie kritisieren, im Bereich des gesellschaftlichen Zusammenlebens würden relevante Erkenntnisse von aus Forschungen zu selten ins Politische übersetzt – die Rede ist von einem verpassten Dialog. Wer verpasst diesen und warum?
Heute werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wenig motiviert, ihr Wissen einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Wenn man die Kriterien betrachtet, nach denen wir beurteilt werden, dann wird Vermittlungstätigkeit nur gering eingeschätzt. Viel wichtiger sind Publikationen in anerkannten Forschungsjournalen. Auch die Lehre oder öffentliche Vorträge sind zweitrangig. Wissenschaftlich Tätige agieren heute in einem hochkompetitiven und ausdifferenzierten Feld. Der öffentliche Intellektuelle, der sich einmischt und Stellung bezieht, ist kein Subjekt der Gegenwart. Das war nicht immer so.
Und die Rolle der Medien? Geben sie der Wissenschaft eine geeignete Bühne?
Die Nachfrage ist da. Doch die Formate sind kleinförmiger geworden. Medienschaffende suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die kurz, prägnant und provokativ ihre Thesen formulieren können. Komplexe Forschungsvorhaben sollen quasi in Tweetform vermittelt werden. Doch die Fähigkeit, Phänomenen möglichst so auf die Spur zu kommen, wie sie sich zeigen oder sind, und auf der anderen Seite prägnante und möglichst noch mit einem Bild versehene schnittige Sätze zu formulieren, sind zwei unterschiedliche Kompetenzen.
Sie forschen unter anderem zu Demokratietheorie. Wo sehen Sie Bezüge Ihrer Forschung zu politischer Philosophie und gegenwärtigen Debatten zu Migration?
Ich frage nach der Bedeutung des Fremden für offene Gesellschaften, insbesondere für Demokratien. Dort ist die Frage, wie sehr eine Demokratie darauf angewiesen ist, dass es immer wieder Menschen oder auch Erfahrungen gibt, die neu sind: Fremdes, Anderes, Unvorhergesehenes. Mir scheint, dass dies sehr wichtig ist. Dass sich eine Gesellschaft nicht darauf berufen kann, frei zu sein, wenn sie diese nicht erprobt. Und erproben kann sie dies im Umgang mit Dingen und Menschen, welche sie herausfordern. Das ist zunächst einmal eine Zumutung. Doch ich glaube, ohne solche Zumutungen werden Gesellschaften eng und geschlossen. Freiheit ist kein gegebener Status, sondern etwas, das wir ausprobieren und behaupten müssen. Das fängt bei Beziehungen an, bezieht sich aber auch auf den Staat und auf die Welt. In der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung steht, dass nur frei ist, wer seine Freiheit einsetzt und anwendet.
Und Migrierende stehen in Ihrer Betrachtung für das Fremde, Andere, Neue und Unvorhergesehene?
Im öffentlichen Diskurs sind Migrierende typische «Fremde». Die kommen von irgendwo, mit irgendwelchen Erfahrungen und Eigenschaften. Insofern würde ich sagen, Migrierende repräsentieren eine Form des Fremden. Ich sage aber auch, wenn wir uns mit unseren Nächsten beschäftigen würden, würden wir merken, dass sie viel Fremdes an sich haben. Aber wir sind gern bereit, das zu übersehen.
Wenn ich Sie so sprechen höre, ist oft von «Anderen» die Rede. Gleichzeitig sprechen Sie von einem «wir» und setzen damit voraus, dass ich beispielsweise nichts mit Migration zu tun habe, oder dass die Autoren und Autorinnen dieses Buches keine Migrantinnen oder Migranten sind. Es bleibt bei einer Zuschreibung von «Anderen». Sie haben im Buch geschrieben, Ziel sei es unter anderem auch, den Sprachgebrauch kritisch zu hinterfragen. Mir scheint diese Kritik nicht sehr ausgeprägt zu sein.
Da haben Sie Recht. Bezüglich des «Wir» wurde diese Diskussion intensiv geführt. Da gingen die Meinungen zwischen Schreibenden und uns als Herausgebenden teilweise auseinander. Wenn ich vorher gesagt habe, Migrierende seien «Fremde», beziehe ich das auf die mediale Darstellung. Wenn man Zeitungen im Hinblick auf Migration und die Darstellung von Fremden untersucht, gibt es häufig eine Engführung. Das heisst nicht, dass sie das sind. Im Grunde sind wir alle Fremde.
Welche Bedeutung schreiben Sie der Sprache im demokratischen System zu?
Dass Sprache zentrale Bedeutung hat, wird kaum jemand abstreiten. Doch scheint mir problematisch, dass sich heute viele Nachrichten im Netz in keiner Weise mehr an Objektivität oder Neutralität messen. Ich bin nicht der Ansicht, dass es eine sogenannte «Objektivität» per se gibt. Doch als Ideal scheint es mir wichtig, ob sich jemand darum bemüht, einen Sachverhalt in nachvollziehbarer Weise darzustellen oder ob er oder sie einfach seine beziehungsweise ihre Meinung ins Netz stellt. Für eine demokratische Gesellschaft ist es zentral, sich zu vergegenwärtigen, welche Informationsmöglichkeiten man nutzen will und wie man das Ideal der Objektivität schützen möchte.
In aktuellen Beiträgen greifen Sie den Begriff «Fremd- und Vieltuerei» auf und setzen ihn in einen neuen Kontext. Was ist damit gemeint, warum ist er wichtig?
Der Fremd- und Vieltuer ist eine Figur der Antike. Die damals vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen von Philosophen, Schriftstellern und Geschichtsschreibern wie Platon, Aristophanes oder Herodot gingen davon aus, dass jeder Mensch seine Bestimmung hat: Der Soldat ist Soldat, der Hausherr Hausherr, der Philosoph Philosoph und nichts anderes – jeder tut das je Seinige. Die Figur des Fremd- und Vieltuers steht im Gegensatz dazu. Sie wird eher negativ verstanden und als umtriebiger Typ beschrieben, der vieles tut – gar vieles, für das nicht er bestimmt wäre, sondern andere. Interessant daran ist, dass der Mensch darin als Wesen bestimmt ist, das grundsätzlich alles sein kann, sowohl führender Kopf als auch Bettler, Privatmann oder Gelehrter. Er könnte alles sein, und alles geht ihn etwas an. Interessanterweise wurde der Fremd- und Vieltuer, obschon kritisch beschrieben, als Demokrat bezeichnet. Diese Verbindung scheint mir wichtig. Zur Demokratie gehört offenbar die Haltung, dass uns alles etwas angeht – nicht nur im Nationalstaat, sondern in der Welt. Die Vorstellung, dass es nicht mehr einen «Führer» von Gottes Gnaden gibt, sondern dass jeder grundsätzlich alles sein kann, ist zutiefst demokratisch.
In Ihren Texten nehmen Sie Bezug auf die Rolle von Kunstschaffenden und Schreibenden, die ebendiese Fremd- und Vieltuerei ausüben würden. Wie sehen Sie deren Rolle in der schweizerischen Demokratie?
Ich möchte Kunstschaffenden keineswegs vorschreiben, Fremd- und Vieltuer zu sein. Aber es gab in der Geschichte viele, die sich fremd- und vieltuerisch betätigten. Deren Rolle ist politisch wichtig, weil sie uns verschiedene Ausdrucksmöglichkeiten vor Augen führen. Sie zeigen, dass unser Selbstbild höchst fragil und viel lückenhafter ist, als wir denken. Ich glaube, dass Kunst insofern fremd- und vieltuerisch ist, als sie mit verschiedenen Formen, Identitäten und Lebensmöglichkeiten spielt. Gewisse Künstler oder Künstlerinnen zeigen, dass sie und wir anders und andere sein könnten. Sie konfrontieren uns mit Unerwartetem. Kunst versucht, Dinge und Konstellationen anders und neu sichtbar zu machen. Damit stellt sie einen Übungsraum für den Umgang mit Fremdem und Unerwartetem dar.
Sind Sie eine Fremd- und Vieltuerin?
Einerseits tue ich tatsächlich viel und habe den Eindruck, dass das, was an anderen Orten in der Welt passiert, auch mich etwas angeht, und andererseits könnte ich mir gut vorstellen, dass mein Leben an vielen Punkten andere Wendungen hätte nehmen können. Mir ist bewusst, dass die Existenz in vieler Hinsicht, privat und beruflich, brüchiger und unbestimmter ist, als man oft glaubt. Insofern ja.
Christine Abbt ist SNF-Förderungsprofessorin in Philosophie an der Universität Luzern. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Philosophie, das Verhältnis von Philosophie und Literatur, Anthropologie und Kultur- und Gedächtnistheorie. Sie ist Mitherausgeberin von «Migrationsland Schweiz» (2016), HIER UND JETZT, CHF 34. Im Januar erscheint der von Christine Abbt und Nahyan Niazi herausgegebene Band «Der Vieltuer und die Demokratie» (2017), COLMENA, Basel.
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Im Welttheater
Katharina Flieger (*1982) ist Kulturpublizistik-Absolventin und als Kulturjournalistin für verschiedene Medien tätig.