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Raffaela Kolb

Mein Turmbau – eine Emanzipationsgeschichte

Könnte es sein, dass es sich bei der der Geschichte des Turmbaus zu Babel, die uns Demut vor Gott lehren soll, um ein Missverständnis handelt? Könnte es sein, dass es in dieser Geschichte nur um das Verstehen und das Nichtverstehen geht? Dass alles Bauen, das sich wirklich lohnt, das Bauen eines Verständnisses der Kultur und der Geschichte ist? Und das diese Geschichte des Verstehens, als die Geschichte einer Person, aber auch der Gesellschaft, nie aufhört?

Ich sitze in den Trümmern von Babylon. Denn die Geschichten um mich herum sind alle schon geschrieben.

Meine Geschichte beginnt nicht mit mir als Himmelsstürmerin. Ich stochere in Ruinen herum. Sie beginnt nicht mit dem Streben nach göttlicher Macht, sondern im Gefühl der Ohnmacht. Mich bewegt darin nicht Hochmut wie die Bauherren von Babel, sondern Verwirrung und die Sehnsucht nach Verstehen. Sie wächst aus der Angst, die Zusammenhänge in unserer Kultur nie zu begreifen. Ich wurde in eine Familie hineingeboren, die nicht dieselbe Sprache sprach wie ich. So schien es mir jedenfalls. Als hätten meine kulturinteressierten Eltern und fachsimpelnden Brüder über eine Form der Verständigung verfügt, die mir nicht gebührte. Ich bin die Jüngste in der Familie – und irgendwie blieb ich immer aussen vor.

Ich erinnere mich, wie ich auf jenem merkwürdigen Stein sass. Obwohl ich dessen Bedeutung nicht verstand – oder mich einfach noch nicht für Zeitreisen interessierte –, sehe ich ihn noch immer sehr deutlich vor mir. Heute weiss ich, dass es ein Sarkophag war, der bei einem Erdbeben wie eine Zündholzschachtel den Berg hinunterstürzte, im verwüsteten Friedhof der antiken Stadt Termessos nahe dem kleinasiatischen Antalya. Es war nicht bloss ein Stein, auf dem ich mich niedergelassen hatte, umwuchert von immergrüner Macchia an den Hängen und Felswänden. Aber ich steckte zu jener Zeit in der Phase der Unklarheit zwischen Kind und Teenager, und die Angebote des Allinclusive-Resorts am Meer schienen mir verlockender als die Geschichten, die die sichtbaren Überbleibsel einer jahrtausendealten Stadt erzählen.

Ich möchte sie verstehen – unsere Menschheitsgeschichte, in die ich hineingeboren wurde, und die mich wie ein endloses Ruinenfeld umgibt. Die Vergangenheit prägt meine Gegenwart und wird meine Zukunft formen. Ich möchte Verständnis für die menschliche Geschichte und Kultur aufbringen, aber man muss so vieles kennen, um sich auszukennen. Kann man aus den Trümmern der Geschichte einen Turm bauen? Und diesen Turm dann hochsteigen, nur um einen Überblick zu gewinnen und um zu verstehen?
Pieter Bruegels babylonischer Turm, den er 1563 gemalt hat, wird für mich zum Symbol für unser Menschenwerk, unsere Kultur, unsere Geschichte. Je länger ich ihn betrachte, desto mehr erkenne ich darin aber auch mich selbst; mich und meine Suche nach Verständnis.

Ich bin eine der winzigen Figuren am Fuss des Turms. Ich stehe vor dem Felsvorsprung, der vom monumentalen Bauwerk wie von einem riesigen Monster einverleibt wird. Er erdrückt mich. Ich schaue hoch, nach links und rechts, aber erkenne nichts. Ich kann dieses immense Etwas, das vor mir aufragt, nicht fassen. Ich verliere mich. Meine Augen finden keinen Halt. Und dennoch fesselt mich diese Wucht, dieser riesige Komplex.
Es entsteht ein Sog, es zieht mich hinein, in den Mittelpunkt, in die klaffende Wunde des unfertigen Turms. Es zieht mich hinein, und ich erschrecke über die Masslosigkeit der menschlichen Gier, den Himmel zu stürmen und wie Gott zu werden. Ich verfange mich im Gewimmel der Menschen, die stumpf ihrer Arbeit nachgehen, ohne Pause und in sinnlosem Aktivismus. Es ist unmenschlich. Der Turm übermenschlich.

«Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte.» So steht es im Buch Genesis. Ein Bibeltext am Anfang: die Hybris und als Strafe die Sprachverwirrung. Ich war, glaube ich, nicht hochmütig. Ich wollte immer schon verstehen, aber ich glaubte, mit Ignoranz und Sprachlosigkeit bestraft worden zu sein.
Ich denke, es gab Wenige in meinem jugendlichen Alter, die so viele Kirchen und Kunstmuseen von innen gesehen hatten – wohl noch nicht mal von aussen. Aber bis ich die einen und die anderen Eindrücke miteinander verknüpfen konnte, dauerte es. Kultur wurde um mich herum gelebt, ich lebte an der Kultur vorbei. Als hätte Gott bei mir selbst eine Vielzahl von Sprachen in den Kopf gepflanzt, die ich hören, aber nicht in einen Sinnzusammenhang bringen konnte. Ich weiss nicht mehr, ob ich es als eine Art Strafe empfunden habe, aber ich erinnere mich, geglaubt zu haben, ohne die Fähigkeit zu verstehen geboren worden zu sein. Was mir fehlte, war eine Sprache für die Geschichten und die Kultur dieser Welt. Ich brauchte Anhaltspunkte.

Jetzt bin ich nicht mehr ameisenklein. Jetzt bin ich die kniende Person zu Füssen des Königs Nimrod, des Bauherrn des gigantischen Turms: Die Kopfbedeckung im Gras, die weisse Arbeitsschürze umgebunden, die Hände in ehrfurchtsvoller Geste erhoben. Die demütigen Gesichtszüge sind von der Seite her leicht erkennbar. Auch ich habe jetzt ein Profil. Ich will Kunsthistorikerin werden. Aber noch immer schaue ich hoch. Ich knie – im übertragenen Sinn – vor den Schreibern, die die Kunstgeschichte in Stein gemeisselt haben.
Ich nehme es an. Ich nehme es hin. Ich denke nicht selber. Der österreichische Kunsthistoriker Klaus Demus schreibt über Bruegels Bild: «Infolge des eklatanten Mangels an Koordination der zahllosen winzigen Einzelhandlungen, die einem undurchsichtigen, von Anfang an mit Unausführbarkeit belasteten Konzept folgen, gewinnen diese den Charakter hilfloser Lächerlichkeit gegenüber dem grandiosen Hohn eines alptraumhaften Bankrotts der Vernunft, den die gewaltige Baustelle ausdrückt.»
So fühle ich mich in meinem Studium. Ich erkenne kaum Zusammenhänge. Ich kann mir nicht vorstellen, im unendlichen Gewirr von geschichtlichen und kulturellen Gegebenheiten Orientierung zu finden. Mein Kunstverständnis ist eine Baustelle. Zum Scheitern verurteilt, es bröckelt wie die Fassade von Buegels Babelturm.

Der Evangelist Lukas schreibt in der Apostelgeschichte: «Als der Pfingsttag gekommen war, befanden sich alle am gleichen Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie waren. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen liess sich eine nieder. Alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und begannen, in fremden Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab.» Aber sie verstanden sich. Ein unerklärlicher Motivationsschub erfasste die Anhänger des gekreuzigten Jesus. Sie, die am Karfreitag nichts mehr begriffen und in einer elenden Verwirrung flohen, sie erzählten plötzlich mit Begeisterung von neuer Lebensqualität. Pfingsten war der Beginn einer neuen Bewegung.
Wann mein persönliches Pfingstwunder sich ereignete, wann genau ich von Desinteresse und Ohnmachtsgefühlen erlöst wurde, kann ich nicht mehr erinnern. Ich liess mich auf einmal faszinieren von geschichtlichen und kulturellen Phänomenen. Es ist kein Zufall, dass das Wort Begeisterung das Wort Geist beinhaltet. Mit ihr habe ich einen Weg aus meiner Sprachlosigkeit gefunden.

Ich stehe in schwindelerregender Höhe. Ich bin eine der kaum erkennbaren Personen auf der Spitze des Turms. Noch immer wird mir etwas mulmig, wenn ich nach unten schaue, auf die Vielschichtigkeiten und die Verknüpfungen der Geschichten der Welt. Aber ich blicke schon weit, auch wenn noch viel im Dunkeln liegt, im schweren Schatten, den der Turm auf die ganze Stadt hinter sich wirft. Von Stockwerk zu Stockwerk setze ich Baustein um Baustein zu einem Kulturverständnis zusammen. Lückenhaft, wie Bruegels Turm, dessen Hohlräume ich nach und nach ausfülle. Unvollendet, wie die Spitze, die den Himmel erreichen möchte. Nicht den Himmel der Macht, sondern den Himmel des Verstehens.
Ich realisiere, wie tiefgreifend die Mythen der Bibel in unserer Gesellschaft verankert sind, nicht allein auf einer religiösen Ebene, sondern geschichtsschreibend. Die Bibel ist für mich nicht das Wort Gottes. Sie dokumentiert die kulturelle Evolution des Menschen. Und meine eigene geistige Evolution. Meine Reise zur kulturellen Emanzipation.

Das lateinische Wort «infans» bedeutet «Kind» und «sprachlos». Ich war ein sprachloses Kind. Die Sprache ist nicht einfach gegeben. Es hat gedauert, bis ich das realisierte und meine Ohnmacht hinter mir lassen konnte. Ich musste mir meine Sprache erarbeiten. Ich brauche sie, um mich zurechtzufinden. Die Sprache ist wesentlich, um die eigenen Erfahrungen zu verstehen und durchzudenken. Denn Denkansätze und Weltbilder können nur sprachlich hinausgetragen werden. Nur durch meine Sprache kann ich Herkunft, Religion und Kultur verstehen – mindestens ansatzweise. Die Sprache ist, um es mit den Worten von Wilhelm von Humboldt zu sagen, mein Schlüssel zur Welt. Auch die visuelle Sprache der bildenden Kunst ist ein Schlüssel zur Welt, aber sie ist universell. Aber am Anfang des Verstehenlernens ist die Vielfalt der Sprachen, die schon innerhalb einer einzelnen Sprache in der Vieldeutigkeit ihrer Worte begründet ist. Wie könnte die menschliche Kultur so unglaublich vielfältig und interessant sein, wenn es nicht zunächst eine Sprachverwirrung gegeben hätte?

«Der babylonische Turmbau ist durch den biblischen Mythos symbolisches Paradigma dafür, dass alles Menschenwerk Stückwerk bleiben muss», so Klaus Demus. Ich habe jetzt realisiert, dass es nicht einfach Trümmer und blosse Steine waren, auf denen ich damals sass, und dass ich mein Kulturverständnis anhaltend erkämpfen und erweitern muss. Meine Familie hat das Fundament dafür gelegt. Und ich baue mir nun meinen eigenen Turm, der wie derjenige von Babel nie fertig sein wird, aber auch nicht von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist.