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Monique Ligtenberg

Mein koloniales Erbe – unsere gemeinsame Geschichte

Monique Ligtenberg ist Historikerin und Nachfahrin eines niederländischen Kolonialisten. In ihrem Essay erzählt sie, wie sie mit ihrer kolonialen Familiengeschichte umgeht, was das für ihre Identität bedeutet und welche Schlüsse sie daraus für eine postkoloniale Schweiz zieht.

Mein Name ist Monique Ligtenberg. Ich bin die Urenkelin des letzten «Controleur» von Westjava, des dritthöchsten Regierungsbeamten der niederländischen Kolonie im heutigen Indonesien. Meine Grossmutter kam um 1930 in Probolinggo zur Welt, einer Kleinstadt auf der Insel Java, die damals das Zentrum des niederländischen Kolonialreichs in Asien war. Mein Vater wiederum wurde in den Niederlanden geboren und immigrierte als junger Erwachsener in die Schweiz.

Der Geburtsort meines Urgrossvaters liegt in Südafrika. Wie seine Vorfahren dorthin gelangten, weiss ich nicht. Er trug den Namen Louis Noë und war Teil der weissen Siedlerbevölkerung zur niederländischen Kolonialzeit. Seine Vorfahren waren vermutlich Hugenotten, die im 16. Jahrhundert aus dem katholischen Frankreich in die Niederlande flohen. Noch vor dem Zweiten Burenkrieg 1899 verliess er Südafrika – aus mir unbekannten Gründen.

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Das Ziel meines Urgrossvaters war Niederländisch-Indien, das heutige Indonesien. Der Zeitpunkt seiner Auswanderung hätte günstiger nicht sein können. Errungenschaften in der Schifffahrts-, der Kommunikationstechnologie und der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhöhten die Lebenserwartung und -qualität der europäischen Kolonist*innen in den Tropen. Die Niederlande liberalisierten ihre Märkte und ihre Einwanderungspolitik für europäische Immigrant*innen.

Zeitgleich zur vermeintlichen «Modernisierung» der Kolonie führten die Niederlande brutale Kriege gegen diejenigen Sultanate, die sich noch nicht von den «Segen der europäischen Moderne» überzeugen liessen. Dies taten sie mit Hilfe modernster Waffentechnologie einigermassen erfolgreich. Zumindest gegen aussen schien es um 1900 so, als hätten die «Londo» – ein javanischer Ausdruck für Europäer*innen – die «Inlanders» – die «Einheimischen» – endgültig unterworfen. Die Niederländer*innen bauten daraufhin ihren Staatsapparat aus, um ihren Machtanspruch im malaisichen Archipel langfristig zu sichern. Mein Urgrossvater fand im Zuge dessen eine attraktive Beamtenstelle.

Seine Karriere entsprach einer relativ typischen kolonialen Bürokratenlaufbahn. Schritt für Schritt kletterte er die Leiter hoch, bis er schliesslich die dritthöchste Stufe des kolonialen Verwaltungsapparats erreichte. Vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges war er für die Verwaltung des gesamten Bezirks Westjava zuständig, eines Gebiets, das fast so gross ist wie die Schweiz. In Buitenzorg (heute Bogor), einer Stadt in der Nähe von Batavia (heute Jakarta), bewohnte er mit seiner Familie ein grosses Haus mit prächtigem Garten. Meine Grossmutter und ihre Geschwister wurden dort von einer «Baboe», einer javanischen Haushälterin, aufgezogen, zu der sie eine innige Beziehung gepflegt haben sollen. Meine Grossmutter soll «wie eine Prinzessin» aufgewachsen sein, heisst es in Familienerzählungen.

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Doch schon bald nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges fand die koloniale Weltordnung, in der sich meine Vorfahren bewegten, ein abruptes Ende. Im März 1942 kapitulierte die niederländische Kolonialregierung vor der japanischen Armee, die im Zuge des Pazifikkrieges Südostasien besetzte. Mein Urgrossvater wurde daraufhin zeitweise in einem Arbeitslager in Burma (Myanmar) gefangen gehalten. Seine Frau, meine Urgrossmutter, wurde am Fusse eines Vulkans tot aufgefunden. Die näheren Umstände ihres Todes sind unbekannt. Meine Grossmutter und ihre Geschwister hatten mehr Glück. Christliche javanische Nonnen und/oder (hier gehen die Familienerzählungen auseinander) die ehemaligen Angestellten ihrer Familie versteckten sie vor den japanischen Soldaten.

Nach Kriegsende und mit dem Ausruf der indonesischen Unabhängigkeit 1945 mussten sie in die Niederlande zurückkehren. In ihrer neuen alten Heimat soll sich meine Grossmutter nie wohl gefühlt haben. Ihre Sehnsucht nach der «tropischen, heilen Welt», in der sie geboren wurde, begleitete sie bis zu ihrem Tod.

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Ich selbst wurde in der Schweiz geboren, genauer gesagt in Zürich Wiedikon. Dennoch nahm ich sowohl die Niederlande als auch Indonesien schon von klein auf als Teil meiner Identität wahr, als Orte, die zugleich nichts und alles mit mir zu tun hatten. Die Niederlande besuchte ich als Kind häufig, Indonesien hingegen kannte ich lange nur aus Erzählungen, aus Dokumenten und Fotografien, die sich noch heute im Familienbesitz befinden.

Dementsprechend war mein Bild von Indonesien von einer einseitigen europäischen und vor allem kolonialen Sichtweise geprägt, von dem, was in den Niederlanden gemeinhin unter das Schlagwort «tempo doeloe», die «guten alten Zeiten», fällt. Unter «tempo doeloe» versteht man eine vereinfachte, romantisierte Vorstellung der Kolonialzeit als eine Ära, in der gutbürgerliche, europäische Familien mehr oder weniger friedlich mit «unzivilisierten» aber «liebenswürdigen» Indonesier*innen zusammenlebten. Die Omnipräsenz von physischer und epistemischer Gewalt, Rassismus und struktureller Ungleichheit in der situation coloniale wird dabei weitgehend ausgeblendet.

Dass diese Bilder eine verzerrte Darstellung der Vergangenheit vermitteln, verstand ich spätestens, als mir mein Grossonkel einst erzählte, dass mein Urgrossvater gelegentlich seine Angestellten erschoss, wenn sie ihm nicht gehorchten. Dass «tempo doeloe» aber nicht nur die Erinnerung prägte, wurde mir erst bewusst, als ich in meinem Geschichtsstudium mit dem Begriff Postkolonialismus vertraut wurde: Der Beobachtung, dass in der Kolonialzeit entstandene Bilder, aber auch ökonomische und politische Ungleichheiten in die Gegenwart nachwirken. Die postkoloniale Theorie liefert die Methoden, um diese Nachwirkungen zu erforschen und zu dekonstruieren.

Die koloniale Vorstellung weisser Überlegenheit hinterliess freilich nicht nur in Europa tiefe Spuren, sondern auch in den ehemaligen Kolonien selbst. Noch heute befinden sich etwa in den Regalen indonesischer Supermärkte mindestens ein Dutzend verschiedene Bleichungscreme-Marken, die eine weisse Haut als Schönheitsideal verkaufen. Noch heute roden mehrheitlich westliche Unternehmen die Regenwälder der indonesischen Insel Sumatra, die den Lebensraum bedrohter Tierarten wie des Orang Utans oder des Sumatra Tigers darstellen, und führen damit die Traditionen der kolonialen Plantageökonomie fort. Noch heute hetzen niederländische Politiker*innen, so etwa der Rechtspopulist Geert Wilders, gegen Migrant*innen aus muslimisch geprägten Ländern wie Indonesien, verstehen ihre «Kultur» als mit einer «westlichen Zivilisation» unvereinbar – und bedienen sich dabei eines Zivilisationsbegriffs aus dem 19. Jahrhundert.

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Dass wir heute über die koloniale Vergangenheit der Schweiz diskutieren, ist für mich genauso neu und überraschend wie vielleicht für Sie. Ich wurde nur darauf aufmerksam, da ich mich als niederländisch-schweizerische Historikerin für die Beziehungen zwischen meinen beiden «Heimatländern» interessierte. Dabei stiess ich auf Forschung, die aufzeigte, dass diese Beziehung eine lange – und zutiefst koloniale – Geschichte hat. Bereits in der frühen Neuzeit heuerten einige Tausend Schweizer Soldaten, Köche, Seeleute und Handwerker bei der Niederländischen Ostindien-Kompanie an, die damals ein Monopol auf den südostasiatischen Gewürzhandel innehatte. Rund 7’500 Söldner aus der Schweiz kämpften im 19. Jahrhundert für die niederländische Kolonialarmee. Etliche schweizerische Naturforscher reisten, oft schwer bewaffnet oder militärisch begleitet, durch die Regenwälder Sumatras und Borneos, brachten dabei unzählige Kulturgüter mit, die sich noch heute in den hiesigen Museen befinden.

Diese kolonialen Verflechtungen betreffen, so sollte ich lernen, im Übrigen nicht nur die niederländischen Kolonien. Wie jüngste Forschungsergebnisse zeigen, waren Schweizer*innen fast über den ganzen Globus verteilt an den kolonialen Projekten europäischer Grossmächte beteiligt. Schweizer Financiers investierten in den transatlantischen Sklavenhandel. Seit dem frühen 19. Jahrhundert «bekehrte» die Basler Mission «unberührte Völker» in West- und Südafrika, in Indien und Borneo. Und nicht nur in der niederländischen Kolonialarmee, sondern auch in der französischen Fremdenlegion beteiligten sich Schweizer Söldner an gewaltsamen Kolonialkriegen.

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Wie mein Urgrossvater brachten auch die Schweizer*innen aus Übersee Bilder, Dokumente, Gegenstände und Erzählungen in ihre Heimat zurück, die sich quasi als helvetische Variante des «tempo doeloe» in unser Denken einschrieben. Auch wer selbst noch nie ausserhalb der Schweiz war, hat eine Vorstellung davon, wie die Welt um sie*ihn herum aussehen könnte, und diese Vorstellung stellt, wie ihr niederländisches Pendant, Europa – bewusst oder unbewusst – an die Spitze einer vermeintlichen zivilisatorischen Hierarchie. Und auch wer sich nicht für die Welt jenseits der Landesgrenzen zu interessieren meint, profitiert, gewollt oder ungewollt, von einer kolonialhistorisch gewachsenen Weltwirtschaft, in der sich die Schweiz vorteilhaft positioniert hat.

Die Frage ist nun, wie wir damit umgehen sollen.

Ein erster Schritt könnte sein, unser «koloniales Erbe» nicht nur als Teil unserer Geschichte, sondern es auch als Teil unserer kollektiven Identität anzuerkennen. Dabei geht es nicht primär um eine «Schuldfrage», also darum, Vergangenes wiedergutzumachen. Sondern darum, zu reflektieren, inwiefern auch unsere Vorstellungen der Welt noch heute von Ideen durchzogen sind, die in einem hierarchischen, kolonialen Denksystem geprägt wurden. Oder darum, zu fragen, wie Schweizer*innen nicht nur am Aufbau ungleicher Wirtschaftsstrukturen beteiligt waren, sondern wie wir auch heute noch davon profitieren – und zu welchem Preis.

Wir haben uns unsere Geschichte nicht ausgesucht, genauso wenig wie wir uns unsere Vorfahren ausgesucht haben. Ich trage keine Schuld an den (Un-)taten meines Urgrossvaters. Es liegt jedoch in meiner Verantwortung, die Fotografien, Geschichten und Privilegien, mit denen ich aufgewachsen bin, die ich als Teil meiner Identität ansehe, historisch zu verorten, kritisch zu hinterfragen und um neue Perspektiven zu ergänzen. Dafür muss man übrigens nicht zwingend Historikerin sein und auch nicht unbedingt Urenkelin des letzten «Controleur» von Westjava.