Mein erster Sommer als Ausländerin
Im Mai 2010 kamen wir an. Am fünften Tag schneite es. Pulverschnee, wir schauten neugierig aus dem Fenster, wagten aber keinen Schritt nach draussen. Den ganzen Tag blieb ich versteckt unter der Decke, die ich mit meiner dreijährigen Schwester teilte, und faulenzte unter den entsetzten Blicken meines Vaters, der sich fragte, wieso ich nicht ein normales, aktives Kind sein konnte. Einen Tag später war kaum noch etwas vom Schnee übrig.
Den Kater Pufy hatten wir aus Rumänien mit dem Zug über Budapest, Wien, Zürich und Chur nach Samedan gebracht. Chur konnten wir nicht aussprechen, ohne in Gelächter auszubrechen, weil es im Rumänischen Arsch bedeutet. Um die Zeit zu vertreiben, riss mein Vater Witze darüber. Er war der lustigste Mensch auf der Welt. Mich nannte er Grasuna, was sowas wie Fettchen heisst. Der beste Moment am Tag war das Frühstück mit den Würsten, dem Weissbrot und den Spiegeleiern. Meine Beine waren auch Würstchen, mein Haar beschmiert mit dem Öl der vorpubertären Unbekümmertheit und mein Bauch wie gepresste Leberwurst aus der Tube. Mein Vater kniff regelmässig in meine Leberwurst und sagte: du musst aber so richtig Sport machen, um das wegzubekommen.
Wir hatten weder einen Fernseher noch Internet und mein Leben fühlte sich sinnlos an. Eingepfercht in einer Einzimmerwohnung schien sich die Zeit endlos zu dehnen, bis wir in einer grösseren Wohnung westlich werden sollten. Aus den Filmen auf Disney Channel wusste ich, dass im Westen alles anders sein würde als in Rumänien. Ich hätte morgens pfeifend aus meinem Haus laufen sollen, nachdem wir alle miteinander Cornflakes gegessen hätten. Meine Eltern hätten mir einen schönen Tag gewünscht und mich auf der Stirn geküsst. PASS LIEBER AUF DEINER SCHWESTER AUF UND HILF DEINEM VATER, DU MACHST JA NIE WAS AUSSER FAUL RUMSITZEN. Mein Leben lief nun mal nicht auf Disney Channel, aber was war schon ein kurzer Sommer vor dem grossen Neuanfang?
Für Pufy war’s Paarungszeit. Die Rolligkeit und sein wildes Miauen wurden zur Nachtordnung, begleitet von der Schlaflosigkeit und Irritiertheit meiner Mutter. Sie hatte das Wort, denn sie brachte die Einkäufe von Coop heim und ernährte uns. In einer Nacht trug ich auf ihr Geheiss meinen einzigen Verbündeten mit wässrigen Augen hinaus. Mutter sagte, wir finden ihn bestimmt wieder, wo soll er schon hin?
Ploiesti war weit weg. Als der Zug am Westbahnhof abgefahren war, hatte ich noch stolz die Hand im Fahrtwind flattern lassen. Grossmutter hatte uns hinterhergeweint, aber sie wusste, dass es nötig war. Ich sollte Schweizerin werden. Fettgepolstert, hormonerfüllt, mit pinkem oder violettem Pullover sass ich im Internetcafe mit Bergsicht. Ein Franken pro Stunde für Yahoo Messenger und Facebook. Ich hatte im Treppenhaus unseres Wohnhauses Bilder mit dem Selbstauslöser gemacht. Auf meinem blauen T-Shirt stand «You can do it» in Silber. Den Bauch hatte ich eingezogen, damit er nicht über den kurzen Rüschenrock hinausrutschte. Im Rauch der Zigarren älterer Einheimischer und portugiesischer Bauarbeiter schrieb ich in Paint mit schwarzer Schrift: «Me forever» und zog den leckeren Dönergeruch in die Nase. Mutter sagte, für Döner hätten wir kein Geld, ich solle Vaters Suppe essen, und sowieso, ich solle auf meine Ernährung achten.
In mein Tagebuch schrieb ich: «Lieber Pufy, ohne dich kann ich nicht mehr.» Die Tage waren erfüllt mit langen Suchaktionen. Ich fragte die Leute: «Sehen Sie orange Katze?» Statt mir zu sagen, wo Pufy war, sagte man, ich könne ja schon sehr gut Deutsch, woher ich denn käme? Ach, Rumänien. Man lachte verlegen und wünschte einen schönen Tag. Ich hätte gerne eine bessere Antwort für sie gehabt, Frankreich, Holland oder so.
Man wollte mich integrieren, also schrieb man der Familie Popa einen Brief und lud zum Schnuppertag in der Schule ein. Hatte ich eine Wahl? Ich war 1’705 Kilometer gereist und ein Zuhause in Rumänien gab es so oder so nicht mehr. Wären wir zurückgekehrt, hätten die Nachbarn gesagt, wir seien ausgestossen worden, das kam nicht in Frage. Aber wir wollten sowieso nicht zurück, das Land hatte eine schlechte Wirtschaft, die Gesellschaft war engstirnig und die Zukunft der Kinder kompromittiert. Kein Weg führte daran vorbei, Grüezi korrekt zu sagen und mein Haar zu kämmen, damit es Mutter in einen Pferdeschwanz binden konnte. Immerzu sagte sie, ich sei faul und ungepflegt wie ein Junge.
Die Kinder lächelten mich mit ihren weissen Zähnen in Schweizerzahnspangen an. Ich war grösser als alle anderen, ein langes, dickes Mädchen. Die Jungs waren fein und zierlich, zum Verlieben waren sie nicht gross genug. Ich war enttäuscht, das neue Mädchen erlebte doch immer eine Liebesgeschichte. Als Kompromiss zog ich in der Znünipause mein Wurst-Sandwich aus der Tasche und biss genüsslich hinein. Die Mädchen knabberten an ihren Darvidas herum und musterten mich skeptisch.
Hundertmal habe ich es geschrieben: Ich heisse Oana. Ich komme aus Rumänien. Ich bin elf Jahre alt. Nein, fast zwölf. Meine Mutter heisst Gabriela. Sie ist Krankenschwester. Vater bestätigte, ich müsse mindestens zweimal so viel lernen wie die anderen. Das sei halt so, man schaffe in der Schweiz als Ausländerin nichts, wenn man keine ausserordentliche Leistung erbringe. Aber ich wollte nicht zwei Mal so viel lernen. Ich wollte Spaghetti mit Thunfisch aus der Dose essen, mich lustig machen über Penisse auf Chatroulette und mit meinen Freundinnen telefonieren. Trotzdem versprach ich, die besten Noten zu schreiben, denn es war an mir und meiner Schwester, die Familie schweizerisch zu machen. Meine Eltern waren schliesslich für unsere Zukunft emigriert. Auf Facebook postete ich: «I hate it here 🙁 Miss you all.»
Mit meinem Vater auf dem Spielplatz schämte ich mich immer, er zog sein Telefon aus der Tasche, lief hektisch herum, während er auf Rumänisch ins Handy schrie und dramatisch gestikulierte. Die Schweizerväter hingegen stiessen ihre Kinder auf der Schaukel, sie schnitten Gurken, Karotten und Sellerie in Streifen für das Zvieri ihrer Kinder, assen mit ihnen zusammen, grüssten höflich andere Väter und sprachen über die nächste Wandertour. Mein Vater delegierte mir seine Aufgabe ab, er sagte, ich sei das Mädchen im Haus, wenn meine Mutter arbeitete. Ich stiess meine kleine Schwester auf der Schaukel, wütend nicht nur über seine Dreistigkeit, sondern auch über die Art, wie er mich gemacht hatte. Wäre ich schlank und sportlich gewesen, hätte ich schon ein bisschen schweizerischer sein können, dann wäre ich weiblicher und flinker gewesen, hätte Fahrrad fahren können und Freundinnen gefunden.
Es gab zwei Welten, die Schweiz da draussen und uns in der kleinen Einzimmerwohnung. Zuhause konnten wir schamlos rumänisch sein. Wir drehten die Musik auf, auch ich schrie dann ins Telefon und lachte mit meinen Freundinnen darüber, dass es in Samedan mehr Kühe als Menschen gab.
Im Juni kam Lady Gagas «Alejandro» auf MTV und meine pubertäre Sexualität erwachte auf unserem ersten Schweizersofa, das wir auf der Strasse gefunden hatten. Ich stand auf Lady Gaga und wollte wie sie sein. Ihre Strumpfhose schnitt nicht in ihrem Fett ein und ihr Achselfett staute sich nicht zwischen BH und Arm. Obwohl sie in meinen Bravo-Heftchen kritisiert wurde, posierte sie weiterhin freizügig herum und das gefiel mir. Im Fernseher lief «I used to be fat», ich wünschte mir, ich könnte mitmachen. Am 28. Juli 2010 wurde ich zwölf. Meine Eltern kauften im Aldi eine Schwarzwälder Torte. Es war das letzte Jahr, dass ich ohne ein schlechtes Gewissen, bis in die Nacht hinein grosse Stücke davon abschnitt und hinunterschlang.
Heute bin ich 23, es ist Mitte Juli und bald habe ich Geburtstag. Ich habe mittlerweile die Hälfte meines Lebens in der Schweiz verbracht. Letztens habe ich den entscheidenden Brief bekommen, ich werde die schweizerische Staatsbürgerschaft erhalten. Ich bin die erste in meiner Familie. Meine Eltern riefen der ganzen Verwandtschaft an und gaben die Nachricht weiter, man gratulierte mir herzlich und vielleicht auch ein bisschen neidisch. Meine Eltern sind sich nun sicher, dass sich das Ganze gelohnt hat. Auch wenn ich stets doppelt lernte, war meine Leistung meistens nicht ausserordentlich. Pufy kam wieder heim und er lebt noch immer. Wir haben noch nie Cornflakes miteinander gegessen, es blieb beim üppigen Eier-Würste-Frühstück. Das Leben wurde nie wie auf Disney Channel, wir können das Schreien ins Telefon bis heute nicht lassen.
Illustration: Mara Djukaric
Spezialausgabe
Andere Augen
Oana Popa (*1998) ist Kinderbetreuerin, Künstlerin, Autorin und studiert im Bachelor Fine Arts der ZHdK.