Marina e Superiore. Eine Parabel der Auswanderung
Badolato, ein kleines Dorf in Kalabrien, besteht aus Marina, dem neuen Ortsteil am Meer, und Superiore, dem alten, verlassenen Ortsteil in den Bergen. Für viele seiner Bewohner bedeutet Marina aber auch das zurückgelassene Heimatdorf in Italien und Superiore ein ferner Ort in der Schweiz, wohin sie vor fünfzig Jahren auswanderten, um Arbeit zu finden. Heute leben in Wetzikon rund siebenhundert Badolatesi, es gibt Pizzerien, Bocciabahnen und italienische Kulturvereine, und jede Woche verkehren Busse nach Badolato. Für meine Reportage bin ich mit dem Bus von Wetzikon nach Badolato gefahren, ich habe mir die Geschichten meiner Mitreisenden angehört und sie aufgeschrieben. Ein Pizzabäcker, die Busfahrer, ein Fruchthändler, eine amerikanische Touristin und viele mehr kommen zu Wort, und zusammen ergeben ihre Stimmen eine Parabel der Auswanderung.
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Wetzikon (Schweiz)
535 m ü. M.
22’061 Einwohner,
davon ca. 700 Badolatesi
M.P.: «Hier wohnen Badolatesi. Da wohnt ein Cousin meiner Frau. Eine Bar, Bar Leone. Auch in Badolato gibt es eine Bar Leone. Dieser ganze Block gehört einem aus Badolato, einer hat ihn gekauft vor dreissig Jahren. Italiener, Türken und Afrikaner, nur Ausländer wohnen in diesem Block. Nur Fiat stehen davor. Im Sommer sitzen die Alten auf ihren Plastikstühlchen draussen vor dem Eingang, wie in Kalabrien. Die Jungen holen eine Pizza in der Pizzeria, ich weiss nicht, wie sie heisst. Im Haus mit den blauen Läden wohnt Giuseppe, ein Nationalist, siehst du die Tricolore vor seinem Fenster? Überall triffst du hier Leute aus Badolato. Du gehst auf die Bank, zum Doktor, in die Migros, überall kannst du Italienisch sprechen. Es gibt immer jemanden, der Italienisch spricht. Hier wohnt auch einer aus unserem Dorf, und schau, hier ist die Bocciabahn. Im Sommer spielen die Männer Boccia, grillen, machen Musik. Jetzt sind Pfützen im Sand, jetzt ist niemand da. Sie sitzen alle in der Colonia libera, du hast sie gesehen. Mosè. Antonio. Giuseppe. Mimmo, der andere Mimmo, ich sage immer: der andere Mimmo. Andrea, der Junge mit der Juve-Mütze. Ich hätte ihn nicht erkannt, wenn er nicht gerufen hätte: ‹Zio.› Ich habe ihn lange nicht mehr gesehen. Es ist nicht mehr wie früher.»
D.P.: «Ich kam 1965 nach Wetzikon. Meine grossen Brüder gingen vier Jahre vorher nach Wetzikon, und sie sagten: ‹Hier ist es gut. Hier gibt es Arbeit und Geld.› Ich folgte meinen Brüdern, weil es in Badolato keine Arbeit und kein Geld gab. Mimmo hat mir eine Stelle in der Kiesgrube beschafft und ein Zimmer auf einem Bauernhof. Mimmo sprach ein wenig Deutsch und übersetzte für mich, der Chef sprach ein wenig Italienisch. Man verstand sich. Das war nicht immer so gewesen. Meine Brüder arbeiteten während ihrer ersten Jahre in Wetzikon auf verschiedenen Bauernhöfen. Mimmo musste um fünf aufstehen, der Bauer zeigte auf die Uhr und sagte: ‹Prima.› Mimmo verstand ‹früher›, und am nächsten Morgen stand er um halb fünf auf. Der Bauer zeigte wieder auf die Uhr und sagte: ‹Prima.› Am nächsten Morgen stand Mimmo um vier auf. Als der Bauer noch immer ‹Prima› sagte und ihm auf die Schulter klopfte, verstand Mimmo, dass das in der Schweiz ein Lob war. Meine Brüder kamen zusammen nach Wetzikon, bei der Ankunft wurden sie aber getrennt und verschiedenen Bauernhöfen zugewiesen. Erst ein halbes Jahr später begegneten sie sich, Mimmo auf dem Traktor, Nino mit dem Milchkarren, und sie merkten, dass sie nicht weit voneinander wohnten. Nach einem Jahr wechselte Mimmo vom Bauernhof in die Kiesgrube, wo er mir eine Stelle beschaffte. Ich arbeite noch heute in der Kiesgrube, seit sechsundvierzig Jahren. Damals überwachte ich die grossen Maschinen, jetzt steuere ich selbst eine grosse Maschine, einen Maestro Bagger. Ich lade Kies auf und leere es aufs Förderband. Das tönt nach harter Arbeit, aber in meiner Kabine habe ich eine Heizung, eine Musik- und eine Freisprechanlage.»
A.S.: «In der Colonia libera sind wir alle Badolatesi ausser Alfonso. Alfonso ist Sarde. Er sagt nie etwas, damit wir nicht merken, dass er unseren Dialekt angenommen hat, nicht wahr, Alfonso? Wir spielen in der Colonia zusammen Karten, ums Trinken spielen wir, wir schauen Fussball und reden. Von den Leuten, die du hier siehst, sind die meisten zweite Generation, die Jungen draussen bei den Autos sind dritte Generation. Mein Vater ist erste Generation, er hat die alte Colonia eröffnet, vor dreissig Jahren. Im Sommer ist sie abgebrannt, warum wissen wir nicht. Sie stand im Zentrum von Wetzikon. Jetzt sind wir hier draussen in einer alten Garage, aber ich will nichts gesagt haben. Als mein Vater vor fünfzig Jahren nach Wetzikon kam, da gab es keine Colonia, kein Vergnügen. Für uns, die zweite Generation, oder die Leute, die in den Siebzigern, Achtzigern nachgezogen sind, ist das unvorstellbar. Nächsten Samstag machen wir ein Kastanienfest, aber unser Lokal ist zu klein dafür, wir gehen in die Turnhalle. Unser Kastanienfest ist am gleichen Tag, wie in Badolato das Kastanienfest ist. Es ist ein Fest für alle, die Schweizer sind auch eingeladen. In den letzten Jahren kamen nur Italiener. Vielleicht mögen das nur Italiener. Wir haben einen anderen Sinn für Gesellschaft, einen anderen Humor. Wir sind gerne laut.»
F.B.: «Ich bin der Präsident der Associazione Badolatesi di Wetzikon. Die Associazione ist vor zwei Jahren gegründet worden, ihr Komitee besteht aus acht Personen. Im Komitee sind alle vertreten, die erste, die zweite und die dritte Generation, alles Badolatesi, die heute in Wetzikon leben. Wir, die Associazione Badolatesi, setzen uns ein für einen stärkeren Austausch zwischen Badolato und Wetzikon. Dieses Ziel haben wir letzten Sommer erreicht, als wir Partnerstädte wurden. Am Dorfeingang, auf allen Strassen nach Wetzikon, gibt es Tafeln, auf denen steht: PARTNERGEMEINDE VON BADOLATO. Und in Badolato gibt es Tafeln, auf denen steht: GEMELLAGGIO COL COMUNE DI WETZIKON. Der bürokratische Aufwand war riesig, aber wir sind sehr stolz darauf, dass wir das erreicht haben. Mit der Städtepartnerschaft haben wir all die Badolatesi stolz gemacht, die heute in Wetzikon leben, die hierher kamen und nichts hatten. Sie ist eine Anerkennung für die Leistungen, die sie hier erbracht haben. Im Gegensatz zur Partnerschaft mit einer Stadt in Tschechien, die schon viel länger besteht, im Gegensatz zu ihr ist die Städtepartnerschaft zwischen Wetzikon und Badolato keine rein formelle Partnerschaft. Eine Interessensgrundlage besteht alleine dadurch, dass siebenhundert Badolatesi in Wetzikon leben. Bei der Einweihung der Städtepartnerschaft vor einem Jahr kam der Präsident von Badolato nach Wetzikon und umgekehrt gingen Vertreter der Gemeinde Wetzikon nach Badolato. Wir von der Associazione Badolatesi haben eine Musikgruppe aus Badolato eingeladen, es gab kalabresische Spezialitäten, Käse, Salami und Oliven. Die Schweizer sollen unsere Kultur probieren können. Jetzt organisieren wir ein Handballturnier mit Mannschaften aus Wetzikon und Badolato.»
G.A.: «Jeden Samstag mache ich Pizza, zwei grosse Bleche voll. Du kannst bei uns essen, wenn du willst. Meine Töchter werden auch zum Essen kommen. Vor vierzig Jahren machte meine Mutter jeden Samstag Lasagne, Freunde und Verwandte kamen zum Essen, einmal sogar die Familie des Abwarts. Jeden Samstag mache ich Pizza. Ich muss die Bleche nur noch in den Ofen schieben, bis dann schaue ich fern. Jetzt ist Rad-WM, ich unterstütze die Italiener und Cancellara. Aber gut, Cancellara ist auch Italiener. Wenn im Fussball die Schweiz gegen Italien spielt, unterstütze ich Italien. Vielleicht hast du die italienischen Fahnen vor dem Fenster gesehen. Die sind von der letzten WM, als Italien ausgeschieden ist, habe ich sie absichtlich draussen gelassen. Ich bin schliesslich immer noch Italiener. Ich habe nur den italienischen Pass. Meine Töchter haben beide den Schweizer Pass, sie fragen mich manchmal: ‹Warum habe ich den Schweizer Pass machen müssen?› Sie haben ihre Grosseltern in Italien. An Weihnachten weiss ich nicht, ob wir nach Badolato fahren, an Ostern bestimmt. Drei, vier Wochen im Jahr – für immer könnte ich es mir nicht vorstellen. Ich habe hier Schule und Ausbildung gemacht, ich habe hier Beruf und Freunde. Vor allem Badolatesi. So wie ich in Wetzikon lebe, das ist Little Italy ohne die Probleme des grossen Italiens. Ich bin aber in keiner Associazione und gehe selten in die Colonia libera. Ich stelle mir immer vor: Würde ich das in Italien auch tun? In die Bar gehen und den ganzen Tag trinken und Karten spielen? Nein. Warum sollte ich es also hier tun?»
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Wetzikon – Badolato
1520 Kilometer
22 Stunden Carfahrt
einfache Fahrt: 140 Franken/100 Euro
J.S.: «Es gibt vier Busunternehmen, die von Wetzikon nach Badolato fahren: Gulli, Tino, Calanda und uns, Nova Reisen. Gulli war der Erste, er hatte mal zwölf Busse, jetzt hat er noch vier. Er hat nichts für die Leute getan, weil er bis vor zehn Jahren der Einzige war. Als die anderen Unternehmen kamen, haben die Leute gewechselt. Tino fährt alte Busse, dafür hat er tiefe Preise. Calanda fährt neue Busse, aber du darfst nicht mal dein Panino essen oder deinen Rucksack in den Bus reinnehmen, und wenn du dein Bein in den Mittelgang streckst, reklamieren sie. Nova Reisen gibt es erst seit vier Jahren, über uns kann ich nichts Schlechtes sagen. Ich kenne alle Unternehmen, ich bin für alle gefahren. Früher fuhr ich für Gulli, aber plötzlich waren da nur noch Junge, ich kannte keinen mehr. Da war ich Mitte Dreissig. Als mein Vater pensioniert wurde und nach Badolato zurückkehrte, ging ich mit ihm mit. Zehn Jahre lang arbeitete ich in Badolato auf dem Bau, auf Orangen- und Blumenplantagen, eine Zeit lang fuhr ich Camion. Alle sagen, in Kalabrien gibt es keine Arbeit. Ich sage, in Kalabrien gibt es genug Arbeit für alle, was fehlt, ist das Geld. Du arbeitest, doch am Ende des Monats bekommst du keinen Lohn. In Kalabrien sind die Lebensbedingungen höher als hier, die Luft, das Meer, die Leute, alles. Aber davon lebt man nicht. Nach dreissig Jahren in der Schweiz hat mir die Sicherheit gefehlt. Ich hatte keinen fixen Arbeitsvertrag, keinen pünktlichen Lohn, schlechte Krankenkasse und Versicherungen. Du musst für alles selbst schauen, ich habe diese Energie nicht mehr aufgebracht. Im Juni dieses Jahres bin ich in die Schweiz zurückgekehrt. Ich fahre jetzt Busse in der Stadt Zürich, Linie 31 von Zürich, Hegibachplatz bis Schlieren, Zentrum. Am Wochenende fahre ich von Wetzikon nach Italien und zurück.»
C.T.: «Vor zwei Jahren sagte mein Mann: ‹Jetzt können wir nach Badolato zurückkehren. Unsere Kinder sind alt genug, um alleine in der Schweiz zu leben.› Ich sagte: ‹Wenn du gehen willst, kannst du alleine gehen. Ich bleibe hier bei den Kindern.› Also ging mein Mann alleine. Nach einem halben Jahr kam er zurück nach Wetzikon. Jetzt fahre ich alleine nach Badolato, um meinen Vater besuchen zu gehen. Er ist krank, meine Schwester pflegt ihn seit dem Tod meiner Mutter. Am 31. Oktober ist die Festa dei morti, am 1. November Tutti i Santi. Ich fahre auch nach Badolato, um meiner Mutter zu gedenken, und ich fahre meinetwegen. Wenn ich in Kalabrien bin, habe ich keine Rückenschmerzen. Es gibt dort mehr Arbeit für mich als in Wetzikon, ich putze, koche, pflege, lese Oliven, und doch sind es für mich Ferien. Früher fuhren wir als Familie nach Badolato, jeden Sommer. Wir haben in Badolato marina ein grosses Haus gebaut. Ich weiss nicht, ob wir das Haus für die Ferien oder zum Leben gebaut haben. Wir haben es für unsere Kinder gebaut. Das ist einfach die Mentalität in Kalabrien. Jetzt steht unser Haus leer. Die Kinder haben ein paar Nächte in Schlafsäcken darin geschlafen, aber wohnen kann man nicht, es fehlen Küche und Badezimmer. Wenn unsere Kinder nach Badolato kommen, wohnen sie bei den Eltern meines Mannes. Aber sie kommen nur noch selten. Wie oft wären sie gekommen, wenn wir nach Badolato gegangen wären? Und wie oft, wenn sie erst eine Familie haben? Ich kann die Stunde kaum erwarten, wenn meine Enkel da sein werden. Das ist mein einziges Ziel, Grossmutter zu werden. Deshalb bleibe ich in der Schweiz, weil meine Kinder und meine Enkel in der Schweiz sein werden. Meine Kinder hatten ihre Grosseltern in Kalabrien, das ist nicht das Gleiche. Man muss sich nahe sein, um miteinander verbunden zu sein. Ich bin im Haus meiner Grosseltern aufgewachsen, und ich will, dass meine Enkel das auch erleben. Neben dir habe ich das Gefühl, mit meinem Sohn nach Badolato zu reisen. Es ist wunderschön.»
L.N.: «Ich habe zwei Sitze: einen für mich und einen für meinen Bauch. In diesem Car habe ich immer zwei Sitze, deshalb reise ich mit Nova Reisen. Essen, trinken, alles ist erlaubt ausser rauchen. Ich lege eine Serviette auf meine Beine und fühle mich wie zu Hause. Alle vier, fünf Stunden machen wir Rast auf einem Autogrill. Man geht auf die Toilette, pisst, wäscht sich die Hände und das Gesicht. Dann setzen wir uns an einen Tisch und essen und trinken zusammen. Wir sind eine grosse Familie. Wenn man im Zug reist, ist man alleine. Man schläft in der gleichen Couchette, und am Morgen spricht man nicht mehr miteinander, weil der geschnarcht und die im Schlaf gesprochen hat. Im Car finde ich immer jemanden zum Schwatzen und Scherzen. Wenn es draussen dunkel wird, schauen wir im Car einen Film, heute schauen wir ‹A natale mi sposo›. Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben. Ich fahre alleine nach Badolato, zu meiner Schwester. Sie lebt in unserem Elternhaus mit ein paar Hühnern, es gibt Olivenbäume, Orangenbäume, Weinreben. Jetzt helfe ich meiner Schwester bei der Olivenlese. Aus dem grössten Teil der Oliven machen wir Öl, einen kleinen Teil legen wir in Salzwasser ein. Aus den Trauben machen wir Wein, aus den Orangen Saft, und die Feigen trocknen wir, weil wir mit Essen nicht mitkommen. Von diesen Waren nehme ich so viele mit nach Hause, wie ich tragen kann. Wenn ich nach Badolato fahre, sind meine Taschen halb leer. Jetzt bringe ich meiner Schwester zwei Kisten UHT-Milch, 24 Liter. Meine Schwester mag Schweizer Milch, sie hat einen anderen Geschmack als die Milch in Italien. Schau dir mal die Kühe an, dann weisst du warum. Für die Reise habe ich Müller-Milch mitgenommen: Vanille, Erdbeere, Schokolade und Banane. Auf jeder Rast trinke ich eine Müller-Milch.»
R.I.: «Ich fahre mit einem zweiten Bus in Badolato ab und sammle in ganz Kalabrien Leute ein, die in die Schweiz zurückreisen. In der Nacht fahren wir dem Bus aus der Schweiz entgegen, auf der Höhe von Firenze kreuzen wir uns. Auf dem Parkplatz eines Autogrills oder eines Supermarkts tauschen Joe und ich unsere Busse. Wir rauchen eine Zigarette, dann fährt Joe mit meinem Bus in die Schweiz, und ich fahre zurück nach Kalabrien. Ich mag es, in den Süden zu fahren, wenn es heller wird und wir ans Meer kommen. Auf der ersten Rast kommen die Leute zu mir, wir trinken zusammen Kaffee und essen Brioches. Am Samstag machen wir eine längere Rast, um die Zusammenfassung der Fussballspiele zu schauen. Wenn kein Fussball läuft, spielen wir manchmal selbst Fussball, irgendwo auf einem Parkplatz mit Flutlicht, ein Ball und zwei Taschen oder Jacken als Torpfosten. Bevor wir weiterfahren, zähle ich die Leute. Auf der Raststätte in Lamezia fehlte einer. Ich zählte ein zweites Mal, noch immer fehlte einer. Sitz für Sitz ging ich durch, wie auf einer Schulreise, zum Schluss las ich die Namensliste herunter. Wir fanden nicht heraus, wer fehlte, also fuhren wir weiter.»
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Badolato marina (Kalabrien, Italien)
neuer Dorfteil am Meer
0 m ü. M.
ca. 3200 Einwohner
B.L.: «Wenn es dunkel wird, sieht man, wo die Leute wohnen und Licht machen, wo niemand wohnt und es dunkel bleibt. Dann kommen die Männer zu mir in die Bar Leone. Am Morgen kommen sie Kaffee trinken und am Abend Schnaps. Wo sollen sie zu dieser Jahreszeit sonst hingehen? Die Pizzeria: geschlossen. Die Gelateria: geschlossen. Der Lido: geschlossen. Du hättest im August nach Badolato kommen müssen, nicht im November. Im August leben hier dreimal so viele Leute wie jetzt, und alle sind draussen auf der Strasse und am Strand. Einen Monat lang ist Badolato der Nabel der Welt. Die Ausgewanderten kommen zurück. Ich kenne viele von ihnen, viele aus Wetzikon. Jeder kennt jemanden aus Wetzikon. Ich mache ihre Post, ihre Rechnungen, ihre Fahrzeugbewilligungen. Wenn die Leute in Badolato ankommen, kommen sie zuerst bei mir vorbei und holen die Bewilligung ab. Jedes Mal, wenn sie kommen, haben sie unsere Sprache ein wenig mehr vergessen. Sie machen hier Ferien und meinen, sie würden so leben wie früher. Doch wenn sie Ende August nach Hause fahren, lassen sie ein leeres Dorf zurück, dann sieht es hier aus wie nach dem Markttag. Ein Sprichwort besagt: ‹Chi parte sa quello che lascia, ma non sa quello che trova.› Ich sage: All die Badolatesi, die vor vierzig, fünfzig Jahren nach Wetzikon ausgewandert sind, die haben gewusst, was sie erwartet. Doch was haben sie zurückgelassen? Sie wissen gar nichts. Sie sind gegangen, weil es hier keine Arbeit gab. Aber was machen dann all die Afrikaner hier auf den Plantagen? Was machen die Rumänen in den Häusern der Alten? Was machen die Chinesen in ihren Läden? Sie arbeiten. Sie arbeiten gut und viel, das ist es nicht. Aber sie gehen mir auf den Sack. Ich würde sie alle ausschaffen. Sie nehmen uns die Arbeit weg. Solange die unsere Arbeit machen, wollen die Jungen nicht arbeiten. Sie studieren, lassen sich zu Hause durchfüttern und gehen dann in den Norden. Und was macht der Staat? Nichts. Er hat uns vergessen. Anstatt Geld bekommen wir die Ausländer aus dem Norden. Sie schicken die Ausländer nicht zurück nach Afrika, sondern zu uns. Es macht keinen Unterschied, Kalabrien ist ein Drittweltland. Irgendwas ist falsch gelaufen in den letzten Jahrzehnten. Mussolini, der wusste noch wie. Mussolini hat uns Strassen und die Eisenbahn gebracht, nicht Ausländer. Ich würde sie alle ausschaffen: die Ausländer, die Politiker und den Papst.»
F.V.: «Nimm dir eine Mandarine. Ich habe sie gestern gepflückt, die ersten Mandarinen. Wie sie riechen! Meine Frau streicht sich mit der Schale der Mandarinen über den Hals. Und wie sie schmecken! Solche Mandarinen findet man bei euch in der Schweiz nicht, oder? Die Früchte, die auf unserem Land wachsen, sie haben den Geschmack der Erde, die Kraft der Sonne, sogar den Geruch des Meeres. Unser Land ist arm, aber die Erde ist reich, das ganze Jahr über. Jetzt ist die Zeit der Mandarinen, der Khaki und Granatäpfel. Dann kommen die ersten Orangen, die zweiten Mandarinen, die zweiten Orangen, bis in den Mai hinein, bis die Sommerfrüchte kommen. Wir haben hier in Kalabrien alles. Für meinen Laden muss ich trotzdem Früchte und Gemüse hinzukaufen. Die Leute wollen alles früher kaufen, als es hier Saison hat, oder später. Kaktusfeigen im Sommer und Kaktusfeigen zu Weihnachten. Als ich klein war, hat mein Vater die indischen Kakteen im Sommer geschnitten, damit sie erst im Winter Früchte machen. Heute verfaulen die Kaktusfeigen unter den Stauden, und ich verkaufe Kaktusfeigen aus Sizilien. Ich habe keine Wahl. Es tut mir weh, all die Früchte am Boden zu sehen, wenn ich übers Land fahre. Das Land gehört niemandem mehr oder Leuten, die ausgewandert sind. So ist das halt. Schau, diese Vase habe ich auf meinem Land gefunden. Eine antike griechische Vase. Ich weiss nicht, wie viel Wert sie hat. Wenn ich sie verkaufe, kommen die Archäologen und stechen mir das Land um. Deshalb behalte ich sie, und meine Frau bewahrt Knöpfe in der Vase auf.»
V.P.: «Badolato war in der Antike eine griechische Kolonie. Ein paar Jahrhunderte später, im Jahre 1080, haben byzantinische Mönche im Landesinnern ein befestigtes Kloster errichtet, das heute noch steht. Neben dem Kloster entstand das Dorf Badolato. Bis vor fünfzig Jahren lebten Mönche im Kloster, Badolato superiore hatte über 6’000 Einwohner. In Badolato marina gab es vor fünfzig Jahren nur den Bahnhof und die Bar Leone. Doch dann wanderte eine ganze Generation von Badolatesi aus oder zog ans Meer. In Marina wurden diese farbigen Häuser aus dem Boden gestampft, ohne Baubewilligung, einfach möglichst schnell und billig. In Superiore wohnen heute noch 300 gebürtige Badolatesi und ebenso viele Dazugezogene. Die dreizehn Kirchen, das Kloster und die Paläste sind zwar geblieben, doch sie sind dem Verfall ausgesetzt. Solange Menschen da waren und die Gebäude nutzten, blieben sie bestehen, während 1000 Jahren. Seit sie leer stehen, verfallen sie. In Badolato superiore gibt es keine Schule mehr, keine Metzgerei, keine Bäckerei. Einzig die Bar degli Artisti und ein Lebensmittelladen sind geblieben. Händler fahren die Viertelstunde bis Superiore hinauf nur, wenn ein Fest oder eine Prozession stattfindet. Wer will in einem solchen Dorf noch leben? Zusammen mit anderen Architekten und Bauunternehmern habe ich die verlassenen Häuser renoviert und zu Ferienwohnungen umgebaut. Wo früher vier Familien in je einem Zimmer wohnten, da gibt es jetzt ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, eine Küche und ein Badezimmer, sprich: eine Ferienwohnung. Diese Wohnungen haben wir an Leute vermietet aus Norditalien, aus der Schweiz, einige sogar aus Wetzikon, aus Deutschland, Frankreich und Amerika. Unter ihnen sind viele Künstler, Architekten und sonstige Gebildete, die der Bausubstanz Sorge tragen und das Dorfbild nicht durch Neubauten verschandeln. Diese Leute haben gewisse Ansprüche an eine Ferienwohnung. Vor fünfzig Jahren mussten die Frauen am Fluss Wasser holen gehen, heute gibt es in jedem Badezimmer eine Dusche, eine Badewanne, ein Fussbädchen und eine Waschmaschine. Das ist mehr, als die meisten Italiener haben, die hier leben. Wir haben die Wohnungen nicht verkauft, sondern vermietet. Die Mietverträge haben eine Laufzeit von dreissig, vierzig Jahren. Die Wohnungen gehören praktisch den Mietern, sie konnten auch beim Innenausbau mitbestimmen. Falls ein Mieter die Laufzeit überlebt, kann er sie natürlich verlängern. Wenn er oder seine Nachkommen die Wohnung aber nicht mehr wollen, gehört die Wohnung wieder uns, und wir können sie weitervermieten. Wenn wir die Häuser verkauft hätten, dann geschähe irgendwann dasselbe, was wir zu verhindern versuchen: Badolato superiore würde ein Geisterdorf werden.»
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Badolato superiore
alter Dorfteil im Landesinnern
240 m ü. M.
ca. 620 Einwohner
H.T.: «Mimmo hat mir vor fünf Jahren ein schwarz-weisses Foto gezeigt von Badolato aus den Fünfzigern. Mimmo, seine Familie und viele andere Badolatesi kommen in Wetzikon in meine Arztpraxis, da ich Italienisch spreche. Mimmo hat mir von Badolato superiore erzählt und von den alten Häusern, die renoviert und als Ferienhäuser verkauft wurden. Ich habe sofort zugeschlagen. Das Dorf sieht heute noch aus wie auf dem schwarz-weissen Foto, gleichzeitig ist alles farbig und lebendig. In meinem ersten Sommer habe ich Brombeerkernchen von der Terrasse gespuckt und ein Jahr später war da ein Brombeergestrüpp. Jeden Sommer verbringe ich einen Monat in meinem Haus in Badolato. Ich habe mein eigenes Bett, meine eigenen Bücher, mein eigenes Geschirr. Die Pastateller stehen im Küchenschrank vor den flachen Tellern. Öl und Wein bekomme ich von meinen Nachbarn, am Morgen bringt mir Santa frisches Brot herunter. Santa wohnt über mir, seit neunzig Jahren lebt sie in der gleichen Wohnung. Vor einem Jahr fiel sie die Treppe herunter und brach sich das Bein. Als ich in die Ferien kam, wollte sie, dass ich ihr etwas auf den Gips zeichne. Der Gips war schon voll bemalt. Ich fragte: ‹Seit wann tragen Sie den Gips?› Santa sagte: ‹Seit drei Monaten.› Ich schnitt ihr den Gips sofort auf und nahm in ab. Santas Bein war so schwach, dass sie nicht mehr darauf stehen konnte. Wir machten einen Monat lang zusammen Physiotherapie. Jetzt wohnt sie wieder in der Wohnung über mir und bringt mir jeden Morgen frisches Brot herunter. Seither kommen viele Leute mit ihren Gebrechen zu mir, einmal wurde ich sogar zu einer Geburt gerufen. In Badolato superiore gibt es keinen Arzt und keine Apotheke. Ich nehme immer ein Köfferchen voller Medikamente, Verbandszeug und Instrumente mit aus der Schweiz und lasse das Material hier. Santa gibt mir Olivenöl, Honig und Brot mit nach Hause. Das sind hier die Geschenke zur Hochzeit, gleichzeitig sind es die Grabbeigaben. Der Glauben der Badolatesi ist sehr stark, ihr Aberglaube ebenfalls. Neben meinem Haus steht die Chiesa del Carmine. Mario, ein Mann so alt wie Santa, sammelt jeden Morgen Staub vom Kirchenboden auf und lässt ihn vom Messdiener segnen, dann rührt er den Staub in Wasser ein und trinkt ihn.»
M.J.: «I really like it here. This place is just amazing. It’s absolutely beautiful.»
S.M.: «Es ist niemand da. Es ist niemand da. Wen suchen Sie? Den Sie suchen, er ist bestimmt gegangen. Mein Grossvater ging vor hundert Jahren nach Amerika. Vor fünfzig Jahren gingen sie alle nach Wetzikon. Und wenn sie zurückkamen nach Badolato, dann bauten sie ein Haus am Meer, um Ferien zu machen. Ihre Elternhäuser liessen sie leer, das Dorf, in dem sie aufgewachsen sind, liessen sie zerfallen. Schauen Sie sich um.»
Die Reportage entstand 2011 im Kontext des Master Kulturpublizistik der ZHdK.
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Patric Marino, *1989, ist Autor und Mitgründer des Literaturbüros Olten.