Mailles – Drinnengeblieben
Frühkommentar zu «Mailles» von Dorothée Munyaneza
Es ist dunkel und still im ausverkauften «Nord», wo das Publikum Punkt Acht die Plätze eingenommen hat und von der Tribüne aus gespannt in Richtung Bühne blickt. Hier ein raschelndes Luftzufächeln mit dem Programmheft, da ein Lachen, das vom Ufer des Zürichsees nach innen dringt.
Dann: Glockengeräusche. Sechs Frauen treten auf die Bühne, jede von ihnen scheppert, klimpert, läutet in ihrem eigenen Takt und sie alle bewegen sich unabhängig voneinander von links nach rechts, im Kreis und auf der Stelle. Eine von ihnen schlägt sich eine Glocke auf den Rücken. Eine andere scheint das Gewicht kaum vom Boden heben zu mögen. Die Glocke ist Last, Kommunikationsmittel und verbindendes Element zugleich. Die Lautstärke steigt an, die Dissonanz im ungleichen Glockenorchester wird beinahe unerträglich, man sehnt sich nach der anfänglichen Stille zurück. Dann brechen die Geräusche ab und der Scheinwerfer liegt auf einer einzelnen Person: Yinka Esi Graves.
Yinka Esi Graves ist eine der fünf Frauen, die Dorothée Munyaneza in «Mailles» begleiten. Mailles bedeutet «Masche» und kann als Netz, das gefangen hält, interpretiert werden. Während die sechs Frauen sowohl einzeln als im Kanon ihre Lebensgeschichten erzählen, tanzen und singen, erhält «Mailles» vielmehr die Bedeutung eines auffangenden Gewebes. Aus dem Persönlichen der Protagonistinnen auf der Bühne wird ein kollektiver Körper gewoben, der ganzen Gemeinschaften von Unterdrückten eine Stimme verleiht. An sie erinnern auch die Kleidungsstücke, die wie Platzhalter über der Bühne schweben.
Der Boden scheint zu beben und Yinka Esi Graves ins Zittern zu versetzen. Ihre kleinen Bewegungen werden grösser und dem Publikum bleibt nichts als das Staunen über deren ausgefeilte Perfektion. Graves ist eine schwarz-britische Flamenco-Tänzerin, die in Sevilla lebt und arbeitet. «Der Flamenco ist ein eigenes Universum, in dem es verschiedene Stile oder Palos gibt, die ihre eigene lyrische, melodische und rhythmische Welt haben. Man muss lernen, wie man diese verschiedenen Teile des Tanzes kreiert und verkörpert», so Graves einst in einem Interview. Das Universum Flamenco trifft auf dieser Bühne mit Gesang, traditionellem ruandischem Tanz und Poesie zusammen sowie mit einem Chor aus mehreren Sprachen. Diaspora, Gemeinschaft und schwarze Körper als Gefässe von Wissen – vieles bleibt der Interpretation überlassen – Patriarchat, Kolonialgeschichte und Sklaverei. Die Trennlinien verwischen zwischen «ihnen» auf der Bühne, «jenen», denen sie eine Stimme verleihen und «uns» auf der Tribüne, in der Verarbeitung unserer verstrickten Geschichte(n).
«We are mangroves» – sagt Yinka Esi Graves die nun in der Mitte der Bühne steht. Mangrovenwälder bestehen aus Pflanzenfamilien mit insgesamt fast siebzig Arten. Mangroven wachsen dort, wo die Bedingungen für gewöhnliche Bäume tödlich sind: in salzigem Wasser unter sengender Sonne, dem Wechsel der Gezeiten ausgesetzt. Mangroven besitzen schwimmfähige Keimlinge und können schnell Wurzeln schlagen. Sie sind anpassungsfähige Lebenskünstlerinnen zwischen Land und Meer. «We are multitudes», so Yinka Esi Graves «I love myself anyway, but…»
Ein weisses Gewand übergezogen kämpft nun Ife Day auf der Bühne gegen sich selbst an, wie in Trance, tanzt mit oder ringt gegen ein zweites weisses Gewand, in dem kein Körper steckt. Ist es eine Dienstmädchenuniform? Auf Days Instagramkanal ist ein Bild zu finden von Pierre Fatumbi Vergers Buch «Orisha – les dieux yorouba en afrique et au nouveau monde». Die Naturreligion der Yoruba ist verwurzelt in Nigeria, an dessen Küste Ende des 15. Jahrhunderts die ersten Europäer landeten. Orishas sind ihre Götter, die als Brücke zwischen Oloddumare, der obersten Gottheit, Ur- und Schöpferkraft des Universums, und den Menschen figurieren. Yoruba-Messen werden begleitet von Trommeln und Trance-Tanz, Gläubige tragen im ersten Jahr ausschliesslich weisse Kleidung. Ife-Ife ist die heilige Stadt der Yoruba im Südwesten Nigerias. Ife Day liegt jetzt am Boden, immer noch mit dem weissen Gewand ringend, schliesslich kommt es zur Versöhnung. Das Gewand, Symbol der Sklaverei, wird als leere Hülle zurückgelassen.
Perkussion, Glockenspiel, Marimba, Elektrogeräusche, rhythmische Rückkoppelungen, Gesangsechos, Saxophon, Bläserstakkato. Dann singt Dorothée Munyaneza in Kinyarwanda, der ruandischen Amtssprache neben Swahili, Französisch und Englisch. Mir fällt dabei Folgendes ein: Ich habe einmal einen Mann kennengelernt, der 1994 als Tutsi in Ruanda geboren wurde, als der Genozid innert 100 Tagen 800’000 Menschenleben forderte, während die restliche Welt zuschaute. Er überlebte in einem Erdloch versteckt und später migrierte die Familie in die USA. Er erzählte mir ebenfalls von seinem Vater, der die Familie früh verlassen hatte und wie wütend ihn das gemacht habe. Auch in «Mailles» werden spezifische Erfahrungen angesprochen, die für mich als Teil des Publikums jenseits des Vorstellbaren liegen. Gleichzeitig eröffnen sich Zugänge, die uns ins Gewebe miteinbinden – vielleicht weil Musik, Bewegung und Tanz universell verständlicher sind als Sprache, vielleicht wegen des Zusammenspiels der verschiedenen Sinne oder der Bereitschaft, sich auf das Spektakel einzulassen.
Munyanezas Stimme versiegt, das Publikum applaudiert tosend. Die klatschenden Hände verwandeln die Szene mit einem Schlag zurück in einen Theaterraum und belegen den Unterschied zwischen «ihnen» auf der Bühne und «uns» auf der Tribüne. Die Grenze ist aber durchlässig und der Applaus auch eine Form von Austausch. Jede:r versunken in eigene Interpretationswelten, applaudieren wir der künstlerischen Leistung, drücken unsere Begeisterung darüber aus, dass das Stück uns berührt hat. Zollen unseren Respekt jenen, die den Abwesenden eine Stimme verleihen und drücken unsere Anteilnahme aus, die nicht beim Applaus verbleiben sollte, auch wenn inzwischen wieder Gelächter von draussen hereinweht.
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Die Musikerin und Choreografin Dorothée Munyaneza bringt sechs Schwarze Frauen aus unterschiedlichen Ländern zusammen, die ihr in ihrer künstlerischen Laufbahn begegnet sind. «Mailles» erzählt ihre Lebensgeschichten anhand von Tanz, Gesang und Poesie. «Die Stimmen des Dazwischen, die zarten Zwischentöne, entstehen bei Munyaneza in einem gemeinsamen Sprechen, im Chor, in dem alle aufeinander hören. Das poetische Sprechen über den Schmerz transformiert die Erfahrung desselben, die Bewegungen der Körper schaffen Beziehungen zwischen ihnen, die multiperspektive Narration bezieht Betrachter:innen mit ein, wir sind alle Teil eines Systems, das die Ungerechtigkeiten erzeugt, die verhandelt werden», schreibt Damian Christinger in seinem Essay «Performance und die Frage des Spektakels». «Mailles» ist darüber hinaus kein Gitternetz-Käfig, sondern wird zu einem gemeinsam gewobenen Teppich aus Freude und Resilienz.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Eva Vögtli (*1990) ist Kommunikatorin und Publizistin. Sie ist Absolventin des Master Kulturpublizistik, in dem sie als Unterrichtsassistentin arbeitet.