Macht der Masse
Wenn ich Marta Górnickas Stück «Hymn do miłości (Hymne an die Liebe)» kurz zusammenfassen soll, dann fallen zwei Sachen auf. Erstens, meine Beschreibung des öden Inhalts: Menschen marschieren in Formationen über die Bühne und zitieren im Chor mehrheitlich rechtsnationale Parolen. Zweitens, meine Bewertung des Erlebten: Es war grossartig!
Das was zwischen diesen beiden Aussagen liegt, ist das eigentlich Interessante. Denn wenn ein chorisches Theaterstück nationalistische Tendenzen in Europa aufzeigen möchte, dann kann man das erstmal ziemlich flach finden: Schon mal gehört, schon mal gesehen und ja, das Erstarken rechter Parteien und Bewegungen in beinahe ganz Europa ist erschreckend.
Doch wenn sich die Spieler/innen wie ferngesteuerte Maschinen bewegen, dadurch Bilder kreieren und mit ihren durchgetakteten Stimmen einen Klangteppich weben, wird man dieses Urteil schnell revidieren. Ähnlich wie bei einer Demonstration oder einem geistlichen Choral, also überall dort, wo sich die überwältigende Kraft der Massen entfaltet, entstehen auch in Górnickas Stück starke Emotionen wie Schrecken, Ehrfurcht oder auch Zugehörigkeit beim Zuschauer.
«Hymne an die Liebe» ist ein Stück mit hypnothischer, beinahe kathartischer Wirkung. Es dockt nicht als erstes am Kopf an. Unter der Wucht der Stimmen und der Präzision der Bewegungen bleibt kein Platz für eine rationale Verarbeitung des Gesehenen und Gehörten. Vielmehr ist man ausgeliefert. Darin liegt das eigentlich Grossartige – und auch das eigentlich Erschreckende dieses Abends.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Dominik Wolfinger (*1987) ist Autor. Er studierte Dramaturgie und Kulturpublizistik an der ZHdK.