M wie Memorial
Vor gut anderthalb Jahren bin ich von München nach Berlin gezogen. Zu den zahlreichen Differenzen zwischen beiden Wohnumfeldern gehört die unterschiedliche Ausprägung und Intensität, mit der der Stadtraum für die öffentliche Gedenkkultur in Beschlag genommen wird. Besonders augenfällig wird das im Fall der „Stolpersteine“. Die privat finanzierten, pflastersteingroßen Gedenktafeln, die an während des „Dritten Reichs“ verschleppte und ermordete jüdische Bürger erinnern und in der Regel vor deren letztem bekannten Wohnort in den Gehsteig eingelassen werden, sind in München aufgrund eines Stadtratsbeschlusses aus dem Jahr 2004 ausdrücklich untersagt. Damals schloss sich eine breite, parteiübergreifende Mehrheit den Bedenken des Oberbürgermeisters an, es handele sich hier um ein „Gedenken, über das man nach kurzer Zeit achtlos hinweggeht“, ein Standpunkt, den in ähnlicher Form übrigens auch Repräsentanten der Israelitischen Kultusgemeinde München öffentlich vertraten. Es gebe zudem bereits kommunale Gedenkstätten an exponierten Orten sowie eine jährliche Gedenkfeier der Stadt.
Mit dieser Argumentation, die die meisten Medienkommentare damals wie heute vor allem als Ausweis einer hoffnungslos rückständigen kommunalen Gedenkpolitik verbuchen, steht München allein auf weiter Flur. In Berlin dagegen finden sich mittlerweile gut fünftausend Stolpersteine, verteilt über das gesamte Stadtgebiet, und es werden stetig mehr. Im Verlauf der vergangenen gut zwei Jahrzehnte hat die Stadt, der es an öffentlichen Denkmälern und Gedenkstätten aller Art keineswegs mangelte, darüber hinaus Tausende offizieller, aufwendig aus Meißner Porzellan gefertigter Gedenktafeln an Hausfassaden anbringen lassen, die an verdiente Berliner Persönlichkeiten von überregionaler Bedeutung erinnern. Auch diese Form des Gedenkens wird in München schon lange nicht mehr auch nur annähernd so hingebungsvoll gepflegt.
Die Vielzahl der alltäglichen Gedenkaufforderungen, mit denen man als Fußgänger in Berlin auf diese Weise ständig konfrontiert ist, zeugt von einem beeindruckenden Maß bürgerschaftlichen Engagements. Schließlich investieren die Initiatoren solcher Gedenkzeichen wie auch alle daran beteiligten Entscheidungsträger eine Menge Zeit und Mühe – kein Stolperstein, aber auch keine Gedenktafel ohne Kommissionen und Koordinierungsstellen, ohne behördliche Regelungen, Anträge, Abstimmungen, Aussprachen.
Der seltsame Begriff „Erinnerungsarbeit“ hat hier tatsächlich einmal seine Berechtigung. Nun ist die Nutzung der Stadt als öffentlicher Gedenkraum alles andere als neu, auch das kollektive Totengedenken hatte dort stets seinen Platz. Es verändert den Charakter des Stadtraums jedoch substantiell, wenn der Appell an die Pietät der Allgemeinheit nicht mehr nur von einzelnen, von ihrer unmittelbaren Umgebung deutlich abgegrenzten Orten ausgeht und man stattdessen durch einen dicht gestaffelten Memorialappell permanent und potentiell überall ethisch in die Pflicht genommen wird.
Man kann dem natürlich entgegenhalten, dass gerade dadurch auch die Omnipräsenz des systematischen Rechtsbruchs während der Zeit des Nationalsozialismus überhaupt erst überzeugend sinnfällig gemacht werde. Dieser Effekt führt allerdings zwangsläufig auch zu merkwürdigen Dissonanzen. Charlottenburg etwa, wo die Redaktionsräume des Merkur liegen, wies Anfang der dreißiger Jahre einen besonders hohen jüdischen Bevölkerungsanteil auf. In manchen Straßen stößt man deshalb mit jedem zweiten Schritt auf eineder quadratischen kleinen Messingtafeln, mitunter auch auf lange Reihen. Ein aufmerksamer Gang durch die Nachbarschaft kann da zu einer bedrückenden Erfahrung werden, zumal viele der städtischen Gedenktafeln in diesem Viertel sich des gleichen Themas annehmen.
So finden sich in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander etwa eine für den Kunsthändler Alfred Flechtheim, von den Nazis ruiniert und 1933 in die Emigration getrieben, sowie eine für Ulrich von Hassell, einen der Verschwörer des 20. Juli, hingerichtet am 8. September 1944. Ein paar Straßen weiter kann man allerdings unvermittelt ebenso auf folgende Mitteilung in identischer Aufmachung stoßen: „Hier wohnte von 1939 bis 1953 Eduard Künneke, Komponist, Schöpfer der unsterblichen Operette Der Vetter aus Dingsda.“
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Wie schwierig es ist, für die unterschiedlichen Höhenlagen des öffentlichen Gedenkens eine angemessene Form zu finden, zeigt sich auch auf einem ganz anderen Feld. Militaria sind historische Zeugnisse ersten Ranges. Sie haben eine kulturgeschichtliche Bedeutung, sie sind Dokumente der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, sie verkörpern Menschenbilder, sie können als technische Leistungen aber auch durch ihren ästhetischen Schauwert faszinieren und vieles andere mehr.
Zugleich aber dienen Einrichtung und Unterhalt militärischer Strukturen überall auf der Welt ein und demselben unschönen Zweck. Unabhängig davon, welcher Art die Konflikte sind, zu deren Lösung sie im einzelnen eingesetzt werden, sind sie nun einmal darauf ausgelegt, in Friedenszeiten das möglichst effiziente Töten möglichst vieler Menschen planmäßig vorzubereiten, um diese Pläne im Ernstfall möglichst effizient durchführen zu können. Das macht jeden Versuch einer musealen Aufbereitung militärischen Handelns zu einer heiklen Mission.
Lange Zeit wurden die moralische und die affektive Dimension der Militärgeschichte in Heeres- oder Armeemuseen, wie sich die Häuser vor dem Ersten Weltkrieg in der Regel nannten, dadurch auf Distanz gehalten, dass sich deren Schausammlungen in erster Linie auf die effektvolle Inszenierung und kennerschaftliche Dokumentation der technisch-praktischen Seite des Kriegsgeschehens konzentrierten. Das lag insofern nahe, als der Kern der meisten militärgeschichtlichen Sammlungen in Europa auf die riesigen überlieferten Bestände an Waffen und Gerätschaften aus den Zeughäusern und Rüstkammern der absolutistischen Staaten der Neuzeit zurückgeht.
Die Berge altertümlicher Helme, Harnische, Blankwaffen, Armbrüste, Flinten und Bogen, darunter auch viele erbeutete Trophäen, wurden in der Regel seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Teil des nationalen Erbes systematisch erfasst, konserviert, restauriert und zumindest teilweise öffentlich ausgestellt. Zusammenstellung und Ausgestaltung lagen in der Regel in den Händen militärischer Ränge, die größeren Museen waren zumeist in eine militärische Anlage mit Quartieren, Depots, Stallungen, Werkstätten, einer Kirche, Hospitälern oder auch Versehrteneinrichtungen integriert.
Die Präsentation der historischen Exponate hielt sich über weite Strecken an das Vorbild repräsentativer fürstlicher Waffensammlungen. Sie betonte den ästhetischen Überschuss der Objekte, indem sie diese zu dekorativen Ensembles arrangierte. Architektonisch gerahmt waren die großen Sammlungen des 19. Jahrhunderts oft durch aufwändig ausgestattete, schlossartige Raumfolgen, auf deren Decken und Wandfeldern zeitgenössische Künstler siegreiche Schlachten sowie allerlei andere glänzende Militäraktionen des eigenen Landes und seiner Verbündeten verewigt hatten, wobei die hässliche Seite des Krieges naturgemäßausgeblendet blieb. Die Gesamtinszenierung war eindeutig auf die Apologie militärischer Wertvorstellungen vor dem Hintergrund der Affirmation dynastisch nationaler Geschichtserzählungen ausgerichtet. In kuratorischer Hinsicht galt in den Sammlungen ein auf Fragen der konservatorisch-archivarischen Korrektheit fixierter museologischer Ehrenkodex, dessen Selbstzweckhaftigkeit selten in Frage gestellt wurde.
Eines der Häuser, in denen man sich von diesem Museumstyp noch heute ein lebendiges Bild machen kann, ist das Heeresgeschichtliche Museum Wien. Das HGM kann sich auf eine lange Tradition berufen, denn es hat das k.u.k. Heeresmuseum beerbt, das bereits in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts am selben Ort, im ehemaligen Artilleriearsenal oberhalb der Altstadt, eine öffentlich zugängliche militärhistorische Schausammlung unterhielt. Leider finden sich nirgendwo Hinweise darauf, wie groß seinerzeit die Publikumsresonanz war. Gegenwärtig hält sie sich meiner Beobachtung nach eher in Grenzen. Vor dem Imperial War Museum in London und dem Pariser Musée de l‘Armée stehen die Touristenmassen auch an Werktagen in langen Schlangen vor den Kassenhäuschen an. Ich kann mich hingegen nicht erinnern, dass ich seit meinem ersten Besuch im HGM vor etwa fünfzehn Jahren je mehr als ein, zwei Handvoll weiterer Besucher im gesamten Haus angetroffen hätte.
Das ist auch nicht wirklich verwunderlich. Das Angebot richtet sich hier fast ausschließlich an das eng begrenzte Publikumssegment, das möglichst materialreich über die Vorzüge und Nachteile des Maschinengewehrs M 1907, System Schwarzlose, Kaliber 8 mm oder die detaillierte Geschichte und Hierarchie der militärischen Ehrenzeichen in der Donaumonarchie informiert werden möchte. Das wenig einladende Museumscafé „Salut“ dient zugleich als Verkaufsfläche für lieblos abgelegte militärhistorische Devotionalien von Panzermodellen über Helme und Gasmasken bis hin zu Schlüsselanhängern in der Form von Sturmgewehren. Die museale Präsentation des Hauses ist ebenso konsequent anachronistisch und erweckt zudem durchgehend den Eindruck quälender Budgetnot.
In den riesigen Vitrinen im Obergeschoss, in denen nach Art alter ethnografischer Sammlungen Hieb- und Stichwaffen zu riesigen Fächern oder sternförmig um Schilde drapiert sind, wird ausgiebig der Faszination martialischer Ästhetik gehuldigt. Die Sektion, die sich mit dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt, wirkt so, als hätte jemand geschichtsdidaktische Konzepte der 1960er Jahre ins Dreidimensionale übersetzt. Der chronologische Parcours endet ohne jeden Hinweis auf die Motive für diese programmatische Entscheidung mit dem Jahr 1945. Mittelbar ist die Gegenwart durch eine Handvoll moderner Panzerfahrzeuge, die im „Panzergarten“ hinter dem Hauptgebäude in marodem Zustand abgestellt sind, dann aber doch auf gespenstische Weise präsent.
Wollte man es positiv formulieren, könnte man sagen, dass sich das HGM durch größte Zurückhaltung gegenüber jedem Versuch auszeichnet, wissenschaftsfremden Interessen nachzugeben. Von den Opfern des Krieges wird hier so wenig Aufhebens gemacht wie von seinen Schrecken. Zentrale Teile der ständigen Sammlung des Imperial War Museum etwa sind – oder waren zumindest bislang – der durchaus problematischen Zielstellung verpflichtet, die Besucher durch panoramahafte Installationen virtuell an der Erfahrung des Kriegsgeschehens teilhaben zu lassen – dafür wurde in London unter anderem eigens ein Schützengraben mit Unterständen sowie optischer und akustischer Gefechtssimulation eingerichtet.
In Wien wäre ein solches Spektakel undenkbar. Hier regiert stattdessen eine objektivitätsheischende Detailbesessenheit, die jeden anderen Kontext mit ingrimmiger Konsequenz ausblendet. So trifft man beispielsweise im Erdgeschoss auf den Wagen, in dem Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo ermordet wurden. Der erklärende Text, den die männliche Stimme des Audioguide im ungerührten Duktus eines Wettermeldungsbulletins verliest, beginnt mit den Worten: „Sechssitziger Personenwagen der Marke Gräf & Stift, vier Zylinder, circa 30 PS Leistung. Zulassungsnummer A 318. Links neben der Windschutzscheibe ist die am 28. Juni 1914 geführte kleine Erzherzogstandarte angebracht.“
Diese traditionelle Form der musealen Präsentation des Krieges, die hier so idealtypisch vorgeführt wird, dass man sich schon wieder wünschen würde, das HGM möge als Museum seiner selbst auf ewig genau so erhalten bleiben wie es ist, stellt zweifellos ein Auslaufmodell dar. Denn auch wenn die Militärgeschichte traditionell eher konservative Historiker anzieht, findet dort mittlerweile doch längst auf breiter Front eine programmatische und methodologische Neubesinnung statt. Das legt zumindest ein instruktiver Band nahe, der im vergangenen Jahr erschienen ist und eine Fachtagung des International Committee for Museums of Arms and Military History (ICOMAM) dokumentiert, das nach eigenen Angaben weltweit zwanzigtausend einschlägige Museen beziehungsweise Museumsabteilungen repräsentiert. Unter dem Titel „Does War belong in Museums?“ lud die Vereinigung im Herbst 2011 Militärhistoriker und Museumsfachleute aus aller Welt nach Graz, um über Prinzipien zeitgemäßer Museumsarbeit nachzudenken.
Keineswegs alle, aber doch die Mehrzahl der Vorträge vermitteln das Bild einer Zunft mit hohem Problembewusstsein. Die Leiterin des Alten Zeughauses in Solothurn skizzierte die Möglichkeiten, den antiquarischen Charakter ihrer altehrwürdigen und höchst populären wehrhistorischen Sammlung zu wahren und die Besucher doch zugleich mit zeitgemäßeren Problemzusammenhängen vertraut zu machen. Ein Ethnologe referierte über die ambivalenten Erfahrungen mit einer vom ihm kuratierten Ausstellung zur Ästhetik des Krieges am Kulturgeschichtlichen Museum der Universität Oslo. Der Direktor des Deutschen Panzermuseums Münster berichtete über die Diskrepanzen zwischen den Reformbestrebungen seines Hauses und den Erwartungen der besonderen Klientel, die sich für schweres Kriegsgerät interessiert. Eine griechische und eine zypriotische Museologin zeigten anhand des Umgangs mit identischen Kriegsfotografien in unterschiedlichen Museen der beiden Teilstaaten Zyperns, wie massiv die Bilder dort durch entsprechende Kontextualisierung der jeweiligen Geschichtsdeutung dienstbar gemacht werden.
Die komplexe Auftragsbeschreibung schließlich, die Jay Winter, einer der internationalen Stars der akademischen Militärgeschichte, seinen Zunftkollegen in Graz vorlegte, machte einen universalen Erkenntnisanspruch geltend, der auch abseits der Militärgeschichte die meisten Museen dieser Welt heillos überfordern dürfte. Winter, selbst Mitbegründer des eindrucksvollen Historial de la Grande Guerre in Péronne an der Somme, hielt zugleich ein überzeugendes Plädoyer für das Kriegsmuseum als „semi-sacred site“, also als Ort, an dem das Gedenken an die Toten und die Reflexion über die moralische Dimension des Krieges selbstverständlich sein sollten.
Auf der Tagung des ICOMAM wurde auch das Konzept für die Dauerausstellung des Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden vorgestellt, das damals unmittelbar vor seiner Eröffnung stand. Das ehrgeizige Projekt, das dazu anregen möchte, „die grundsätzlichen Fragen des Zusammenhangs von Militär, Krieg, Gewalt und Gesellschaft“ zu stellen und kontrovers zu diskutieren, dürfte dem Leitbild, das in Graz formuliert wurde, im Moment weltweit wohl am nächsten kommen. Dass es sich ausdrücklich als Gegenstück zur Wiener Interpretation derselben Institution versteht, vermittelt sich bereits über das antipathetische Pathos der Architektur.
Das in einer eindrucksvollen, festungsartigen Anlage gelegene, historistische Wiener Ausstellungsgebäude mit seiner aufwendigen Feldherrngalerie und der festlichen Ruhmeshalle im Inneren mutet in Verbindung mit dem altertümlichen Sammlungsaufbau wie ein wunderbarerweise in die Gegenwart gerettetes Relikt aus der Zeit der Doppelmonarchie an. Nichts weist darauf hin, dass es nach den Bombardements und Häuserkämpfen zu Ende des Zweiten Weltkriegs tatsächlich fast vollständig zerstört war, geschweige denn darauf, dass der größte Teil der damaligen Bestände seinerzeit geplündert wurde und bis heute nicht wieder aufgetaucht ist.
Das Dresdner Gebäude, ebenfalls ein ehemaliges Arsenal aus dem 19. Jahrhundert, in dem im Lauf der Zeit das Königlich Sächsische Armeemuseum ebenso untergebracht war wie später das der DDR, unterläuft hingegen alle Vorstellungen von ungebrochener historischer Kontinuität von vornherein ostentativ. Einer der Gebäudeflügel wurde aufwändig aufgebrochen und nach einem Entwurf von Daniel Libeskind ein monumentaler, keilförmiger Baukörper in die ursprüngliche Kubatur eingesetzt, der deren formale Binnenlogik auf allen Ebenen konsequent konterkariert. Die evangelische Verkündigungsprosa, mit der das Museum sein Programm im Ausstellungsführer selbst kommentiert, stilisiert diese doch eher schlichte Geste zu einem Akt von höchster Radikalität: „Die Architektur des Militärhistorischen Museums mutet uns viel zu. Sie stellt alte Sehgewohnheiten infrage. Sie bricht mit räumlichen Konventionen. Sie verlangt nach einer Standortbestimmung und fordert unser Urteil heraus. Niemand, der das Gebäude zum ersten Mal sieht, wird sich des Eindrucks erwehren können, dass hier, im Norden Dresdens, etwas ganz und gar Ungewöhnliches, vielleicht sogar Unerhörtes entstanden ist.“
Die mission statements des Museums, die ständig wohlgemut ein „Wir“ bemühen, das eine Institution, die von ihrem Publikum erhöhte Reflexionsbereitschaft einfordert, besser nicht derart umstandslos voraussetzten sollte, klingen nicht nur an dieser Stelle so, als hätte jemand etwas ungeschickt aus Kunstkatalogen abgeschrieben. Die Wahrheit ist, dass sich als die einzige für jedermann offenkundige Zumutung die praktischen Schwierigkeiten erweisen, vor die der spitz zulaufende Baukörper die Ausstellungsarchitektur in den oberen Stockwerken stellt. Darüber hinaus hält sich die Architektur gerade in ihrem demonstrativen Bekenntnis zur Unkonventionalität eng an gängige Vorstellungen über zeitgenössischen Museumsbau. Auch was den saturierten Auftritt angeht, ist das Gebäude seinem Wiener Pendant erstaunlich ähnlich.
Von den aufwändigen Ausstellungsvitrinen über Beleuchtung und Multimediatechnik bis hin zu Garderoben und Toiletten wirkt hier alles wie aus einem Guss, das gediegene Styling orientiert sich am Vorbild zeitgenössischer Kunstmuseen. Natürlich kann man gestalterische Nachlässigkeit auch übertreiben, wie sich in Wien überall dort zeigt, wo in den vergangenen Jahrzehnten in die ursprüngliche Bausubstanz eingegriffen wurde. Aber wie man in Dresden vorgeführt bekommt, kann auch der Wille zur gestalterischen Perfektion zu einem Missverhältnis von Form und Inhalt führen. Allein schon der Schnitt durch das alte Gebäude ist technisch so perfekt vorgenommen, wie es im Zeitalter der computergestützten Bauplanung nur möglich ist. Dadurch aber gerät zugleich die Anmutung extrem artifiziell, und die vermeintlich radikale Dekonstruktion (Architektur „völlig neu gedacht“, „provoziert und rüttelt auf“, „genial einfach und damit einfach genial“) verkümmert zu einem kalkulierten Designeffekt.
Auch das Dresdner Ausstellungskonzept selbst versteht sich als direkte Umkehrung des martialischen Pathos und der wortkargen Selbstbezüglichkeit Wiener Ausprägung, was sich unter anderem im ausdrücklichen Bekenntnis zu einer Vielfalt der Perspektiven niederschlägt: „Es gibt keine klare, keine verbindliche und erst recht keine vorgeschriebene Linie historischer Erkenntnis oder Deutung.“ Das ist in seinem antidogmatischen Dogmatismus grundsympathisch und vermutlich einer der Gründe, weshalb das Museum bislang fast ausnahmslos wohlwollend bis hymnisch besprochen wurde.
Es erfüllt diesen Anspruch aber vor allem dadurch, dass es versucht, von A bis Z jeden nur denkbaren Aspekt seines Gegenstands zu thematisieren. Ähnlich wie das Deutsche Historische Museum in Berlin konfrontiert es seine Besucher im chronologischen Teil der Schausammlung mit einer unübersehbaren Zahl unterschiedlichster, oft kleinteiliger Exponate. Die Bedeutung der allermeisten lässt sich ohne weitläufige Erklärungen oder sehr fundierte Vorkenntnisse kaum erschließen. Im Zusammenspiel mit der ermüdenden Unzahl von Erklärungstafeln im Halbdunkel des Labyrinths aus Vitrinen und Schubfächern kommt so letztlich weniger ein Museum heraus, also ein Ort, an dem man so direkt wie möglich mit der Materialität historischer Objekte konfrontiert ist, als vielmehr eine begehbare illustrierte Enzyklopädie der Militärgeschichte mit allen nur denkbaren Nachbarprovinzen.
Ob davon wirklich kernhafte diskursive Impulse ausgehen, möchte ich bezweifeln, zumal das Haus bei aller multiperspektivischen Ambition im Grundgestus doch eher beflissen daherkommt. Die Angst, man könnte sich durch irgendeine kontroverse Entscheidung womöglich angreifbar machen, ist überall zu spüren. Die Objekte in den Schaukästen sind so zwanghaft auf Distanz gehalten, als sollte jede martialische Energie, die sie womöglich noch abgeben könnten, gebannt werden. Während dem biederen Thema „Militär und Mode“ eine eigene Sektion gewidmet ist, bleibt das Faszinationspotential militärischer Technologie ausgeblendet. Mit expliziten Veranschaulichungen der Verheerungen kriegerischer Gewalt, aber auch mit der Ambivalenz militärischer Ehrbegriffe, die immerhin über Jahrhunderte eine gesellschaftsformierende Kraft waren, wird man als Besucher ebenso wenig konfrontiert wie in Wien. Und die Exponate sind ebenso totrestauriert wie dort, allerdings lässt die Hightechpräsentationstechnik in Dresden sie noch um einiges irrealer aussehen.
Das Warenangebot im peinlich aufgeräumten Museumsshop wirkt, als hätte sich bei der Auswahl die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem Verband der reformpädagogischen KunsttherapeutInnen zusammengetan. Das gilt nicht minder für die künstlerischen Installationen, die allesamt so unangreifbar gutgemeint sind, dass sie niemandem wehtun, aber auch keinerlei bleibenden Eindruck hinterlassen. Und spätestens wenn man in der Sektion „Militär und Sprache“ dem Exemplar eines Buchs mit dem Titel 101 Haudegen der deutschen Wirtschaft begegnet, neben dem ein historischer Haudegen ausgestellt ist, fragt man sich unwillkürlich, ob man für Erkenntnisgewinne dieses Kalibers wirklich einen solchen Aufwand treiben muss.
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Dass die diskursive Sprödigkeit, wie sie im Wiener HGM gepflegt wird, nicht die Alternative sein kann, zeigt wiederum ein Beispiel aus München, wo mit dem stets traditionsbewusst auftretenden Deutschen Jagd- und Fischereimuseum eine weitere Ausstellungsstätte beheimatet ist, die Technologien des Tötens präsentiert. Im Oktober 2013 feierte das Haus sein fünfundsiebzigjähriges Bestehen, ohne dabei allerdings viele Worte über die näheren Umstände seiner Gründung zu verlieren. Das ist auch kein Wunder, denn es verdankt sein Bestehen der Initiative von Christian Weber, des notorisch korrupten wie skrupellosen Chefs der Stadtratsfraktion der NSDAP. Weber, SS-Brigadeführer und Duzfreund Hitlers, war Pferdenarr und fanatischer Jäger und hatte 1934 eine umfangreiche Sammlung von Jagdtrophäen aus dem 19. Jahrhundert erworben. Diese bildete den Grundstock für die Einrichtung des Museums, das im Oktober 1938 im Nordflügel des Nymphenburger Schlosses mit großem Pomp eröffnet, nach Kriegsbeginn allerdings schon wieder geschlossen und schließlich 1941 evakuiert wurde.
Erst 1966 wurde es an seinem heutigen Standort, in der 1803 säkularisierten ehemaligen Augustinerkirche in der Münchner Innenstadt, in Trägerschaft einer öffentlichen Stiftung wiedereröffnet. Der Kern der Sammlung blieb dabei derselbe, der ausgeprägte Trophäenkult ebenso, und weil das auch in der Folge offenbar keinem der Verantwortlichen sonderlich problematisch vorkam, hingen jahrzehntelang drei eindrucksvolle Geweihtrophäen kapitaler Hirsche in der ehemaligen Apsis der Kirche, die Reichsjägermeister Hermann Göring in seinem ostpreußischen Jagdrevier Rominten geschossen und mit dessen rot-schwarzem Wappen hatte markieren lassen. Die Tatsache als solche war bereits seit einigen Jahren bekannt.
Doch anstatt das Jubiläum zu einem Befreiungsschlag zu nutzen und zur Abwechslung einmal die eigene Historie zum Gegenstand zu machen, entschieden sich Museumsleitung und Stiftung lieber für nobles Schweigen. So kam es, wie es kommen musste. Ein Zeitungsbericht führte zu einer öffentlichen Debatte und die zu politischem Druck, bis die Geweihe schließlich Ende Januar 2014 ohne weitere Erklärung abgehängt wurden. Man bereite derzeit zwei Publikationen zur Aufarbeitung der eigenen Geschichte vor, heißt es mittlerweile auf der Homepage des Museums. Und weiter: „Die Museumsleitung und der Stiftungsvorstand lehnen jegliches rechtes Gedankengut ab.“ Auch das hätte man deutlich billiger haben können.
Dieser Text erschien erstmals unter dem Titel „Memioralkolumne. Schwieriges Gedenken“ im Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 7, 68. Jahrgang, Juli 2014, Klett-Cotta.
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Gastspiel im Gastspiel
Christian Demand, *1960, ist Philosoph und Kunstwissenschaftler und Publizist. Seit 2012 ist er Herausgeber des Merkur.