Legenden im Comicjournalismus
Alain Schwerzmann ist Comiczeichner und Mitherausgeber des Comicmagazins die Notbremse. Im Gespräch erzählt er, wie in der Form des Comics journalistisch gearbeitet werden kann und welche Rolle der Text im Entstehungsprozess eines Comicbeitrags hat.
SB: Wie kam es 2020 zur Gründung des Magazins Die Notbremse?
AS: Im Illustrationsstudium in Luzern waren wir der erste Absolvent*innenjahrgang, bei dem die Abschlussausstellung wegen Corona ins Wasser fiel. Die Studienleitung gab dann Geld für eine Publikation frei und übergab mir und weiteren Studienkolleginnen die Leitung. Bedingung war, dass die Arbeiten der Student*innen im Bereich Illustration publiziert werden. Es stand von Anfang an fest, dass wir keinen Werkschau-Katalog im klassischen Sinne machen wollten. So haben uns dazu entschieden, ein Comic-Magazin zu gründen. Wir wollten etwas Gesellschaftspolitisches machen und selbst mitzeichnen – das waren die Kerngedanken.
Wieso ist der Comic ein geeignetes Format für Gesellschaftskritik?
In den Schweizer Medien sind Beiträge, die alleinstehend als Comic funktionieren, eigentlich inexistent. In der New York Times beispielsweise oder im New Yorker, der sowieso sehr illustrationsaffin ist, gibt es das viel eher. In der Schweiz erscheinen Comicreportagen noch am ehesten im REPORTAGEN Magazin – aber im Allgemeinen ist diese journalistische Form untervertreten. Nichtsdestotrotz hat der Comic eine starke Verankerung als Massenmedium. In vielen Zeitungen gibt es Comic-Strips und wenn z.B. ein neuer Asterix rauskommt, verkauft der sich immer sehr gut. Viele Leute sagen, dass sie früher einmal Comics gelesen haben. An diesen frühen oder kindlichen Leseerfahrungen wollen wir anknüpfen. Darin sehen wir ein grosses Potenzial. Gesellschaftskritik lässt sich durch den Comic gut äussern, weil er in seiner Form sehr zugänglich ist. Wenn du einen Aufsatz oder einen Essay liest, dann wirkt das Geschriebene meist sehr eindeutig – Schwarz auf Weiss. Mit einem Comic kann man Dinge behandeln und vermitteln, ohne etwas direkt abzulehnen oder gutzuheissen.
Weil die Autor*innenstimme versteckter ist?
Unter anderem. Der Comic ist sehr nahe an Literatur und Fiktion. Du kannst einen Text schreiben, ohne dass du meinst, was du sagst. Du kannst eine Geschichte erzählen, die mit dir selbst als Autor*in nichts zu tun hat. Um in der Form des Comics journalistisch zu arbeiten, muss aber Glaubhaftigkeit vermittelt werden. Das kann gut durch den Text geregelt werden – dass du es irgendwie schaffst, durch die Zeilen zu sagen: «Das stimmt jetzt, was ich sage.»
Alle journalistischen Formen können im Comic umgesetzt werden. Was macht das Genre der Reportage besonders?
Anders als die Wiedergabe des Tagesgeschehens ist die Reportage stark vom subjektiven Blick abhängig. Was interessiert mich? Was sehe ich an einem Ort? Das Zeichnen ist eine tolle Art, um einen Ort zu erfassen. Die Hand wiederholt die Beobachtungen deiner Augen. Das gibt einen guten Eindruck der Umgebung und der Materialität – Dinge, die in einem Text einfach sehr schwierig einzufangen sind.
Wie geht die Comicreportage mit dem Wechsel von Szenen und Hintergrundwissen um?
Hier ermöglicht das Text-Bild-Zusammenspiel viele Optionen. Scott McCloud beschreibt in seinem Buch «Comics richtig lesen», was es da alles für Kombinationsmöglichkeiten gibt. Bild und Text können z.B. parallel, aber unabhängig voneinander ablaufen, sie können widersprüchlich sein oder sich gegenseitig ergänzen. Mit Bildern kannst du auch metaphorisch arbeiten. In meiner Arbeit über die Flucht von Victor Serge von Marseille nach Martinique ist das in der Stempelszene gut zu sehen. An dieser Stelle muss nicht nochmal geschrieben werden, dass ein fehlendes Visum extrem bedrückend und gefährlich sein kann. Die Bildsprache ersetzt hier die Umschreibung der Situation.
Wie bist du bei der Recherche für «Martinique» vorgegangen?
Den Beitrag habe ich gemeinsam mit Timo Krstin gemacht, einem Reporter, der im klassischen Sinne journalistisch arbeitet. Zuerst recherchierten wir Literatur zum Thema Flucht aus dem Vichy Regime. So haben wir z.B. erfahren, dass damals Kriegsschiffe zu Passagierschiffen umfunktioniert wurden. Durch historische Fotoaufnahmen konnten wir uns ein Bild davon machen, wie das so ausgesehen hat. Die Latrinen-Situation, das Leben an Bord, alles total chaotisch. Liegestühle lagen kreuz und quer auf dem Deck verstreut. Die Leute gingen keinem geregelten Alltag nach wie auf einem Kreuzfahrtschiff. Sie waren auf der Flucht. Man muss immer nach vergleichbaren Dingen suchen. Wie haben die Leute damals ausgesehen? Solche Informationen sind enorm wichtig, wenn man etwas Akkurates machen möchte.
Nach der historischen Recherche und einer intensiven Auseinandersetzung mit Victor Serges Autobiografie sind Timo und ich zusammengesessen und haben uns eine Story überlegt. Wir haben uns dazu entschieden, ein paar Dinge zu fiktionalisieren und zuzuspitzen. Um das Ganze erzählbar zu machen. Etwa die Figur des Mädchens: Sie weiss viel mehr, als ein Kind in ihrem Alter wissen sollte. Mit Charakterkreationen kann man viele narrative Funktionen erfüllen, die sonst vom Lauftext abgedeckt werden müssten.
Wir haben ein Script verfasst und uns überlegt, welche Teile der Reportage wie erzählt werden können. Daraus haben wir uns ein Storyboard erarbeitet, aus dem die verschiedene Szenen entstanden sind. Den Text des Scripts mussten wir dafür aufgliedern: Was könnte alleine stehen? Was im Panel? Welche Handlungen werden im Bild verarbeitet, welche im Text? In Martinique waren wir stark auf den Text angewiesen. Die Bilder sind an gewissen Stellen beinahe illustrativ. Durch ihr Zusammenspiel mit dem Text können auf der Erzählebene aber viele Sprünge gemacht werden, die auf einer reinen Textebene schwieriger umzusetzen wären. In der Prosa müsstest du z.B. immer sagen, dass sich eine Person zurückerinnert oder nachdenkt. Mit Bildern können neue Erzählebenen wie Kapitel, Zeitsprünge oder Imaginationen leicht eingeschoben werden.
Wie entstand die Geschichte zu «Zwischen den Stühlen»?
Sie basiert auf einer autobiografischen Ausgangslage und auf Anekdoten, die wirklich passiert sind. Luca Mondgenast und ich haben uns lange über gemeinsame Erfahrungen zum Thema soziale Mobilität ausgetauscht. Wir kommen beide aus einem nicht-akademischen Haushalt und erinnern uns an eine Schulzeit, während der es enorm wichtig war, den Harten zu geben. Sobald wir an die Kunsthochschule gingen, waren diese Dinge und Wertigkeiten verschwunden. Plötzlich gab es ganz andere Themen, die die Leute interessierten. Ich erinnere mich noch an die ersten Mittagsgespräche, als meine Mitstudent*innen darüber sprachen, ob sie ihren Brokkoli gedämpft haben oder nicht. Für mich war das komisch und neu, dass man über solche Dinge spricht.
Aus diesen Erfahrungen wollten wir eine Stellvertreterfigur kreieren. Uns war es wichtig, dass wir dem Text eine Tonalität geben. Ihn also nicht ganz nüchtern und sachlich verfassen, sondern ihn aus dem Wortschatz und der Haltung des Protagonisten heraus entstehen lassen.
Ihr arbeitet in «Zwischen den Stühlen» nicht nur autobiografisch, sondern geht dem Phänomen der Deindustrialisierung nach.
Dieser demografische und sozioökonomische Wandel der letzten 60 oder 70 Jahre beschäftigt mich sehr. Die Deindustrialisierung hat alle westlichen Länder einschneidend betroffen. Aus Frankreich kennt man diese Szenen einstürzender Fabriken oder Hochöfen – in der Schweiz ist das viel subtiler abgelaufen. Der Wandel war aber trotzdem spürbar. Ich habe meine Lehre als Maschinenzeichner bei einem Unternehmen gemacht, das mittlerweile fast alles auslagern musste. In unserer Geschichte wollten wir sichtbar machen, wie sich diese Entwicklung auf die Gesellschaft auswirkt. Dafür haben wir uns zuerst verschiedene Rollen ausgedacht, die jemand, der zwischen sozialen Schichten wandelt, einnehmen muss: Der Homie, der Reisende, der Diplomat und Vermittler oder etwa der Gewinner. Basierend auf diesen Persönlichkeiten haben wir Szenen geschrieben, die dann zu einer eigenen Geschichte wurden.
Ihr habt also eine Art Drehbuch geschrieben?
Ja, wie beim szenischen Schreiben schreibst du auch ins Comic-Skript rein, was gerade passiert. Im Grunde zeichnet man zuerst eine Bildergeschichte, die auf dem Skript basiert. Es ist wichtig, dass die Abläufe in den meisten Fällen auch ohne den Text funktionieren können. Dann entstand ein erstes Bild-Text-Storyboard. Wir haben uns überlegt, was an welche Stelle passen könnte, haben Dinge noch einmal umgestellt oder Bilder verändert. Sehr viel Entscheidungen passieren nochmal in dieser Produktionsphase.
Mit dem Text kann man auch Handlungen pausieren. In dieser Zug-Szene haben wir z.B. gemerkt, dass die Geschichte viel spannungsgeladener wird, wenn wir den Text quasi als Infoblock vor der Schlägerei einschieben. Im Text heisst es: «Man lernte den Harten zu geben.» Aber was das genau bedeutet, dass es wirklich zu manifester Gewalt kommen kann, erfährt man erst durchs Bild. Durch das Hinzufügen des Textes wird ein Fortschreiten in der Erzählung möglich. Wir haben viele Dinge in den Text reingepackt und visuell dann gar nicht mehr gezeigt. In den meisten Situationen sind Bild und Text kongruent. Im Comic kann man die Leser*innen aber auch offensichtlich reinfliegen lassen. Durch Lügen beispielsweise: Die Off-Stimme erzählt etwas, das Bild zeigt aber was ganz anderes. Unser Protagonist bewegt sich zwischen verschiedenen sozialen Klassen oder Welten und lebt deshalb verschiedene Widersprüche. Diese können durch die Kombination Bild-Text sehr gut vermittelt werden.
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Der Comic ist eine Form des Erzählens in gezeichneten, meistens mit Text kombinierten Geschichten. Wie der Film gehört der Comic zu den sequenziellen Künsten. Der Ausdruck Panel bezeichnet ein Einzelbild einer Sequenz. In einem Comicheft sind die Panels meist in Zeilen gruppiert. Mangas haben, anders als westliche Comics, meist weniger starre Panelaufteilungen.
Comicjournalismus widmet sich der Aufgabe, aktuelle Ereignisse oder Sachverhalte in der Form des Comics darzustellen und zu vermitteln. Die Reportage ist für das Genre des Comicjournalismus typisch. Beispielhaft sind die Comic-Reportagen von Joe Sacco, etwa über Palästina oder Bosnien. Die Graphic Novel ist ein Comic im Buchformat. Da in der Graphic Novel oft autobiografische Geschichten mit politischem oder aufklärerischem Anspruch erzählt werden, ist die Form nicht immer klar von der Comicreportage abgrenzbar. Internationale Bekanntheit erlangten beispielsweise autobiographische Graphic Novels von Uli Lust oder Marjane Sartrapi.
Die Notbremse ist ein Comic-Magazin aus Luzern, das als Printausgabe erscheint. Seit der Gründung 2020 sind sechs Ausgaben mit gegenwartskritischen Comics erschienen, die sich mit Themen wie Vermögen, Enttäuschung und Erfüllung oder Tradition auseinandersetzen. Die fünfköpfige Redaktion der Notbremse arbeitet mehrheitlich ehrenamtlich.
Der Comic im deutschsprachigen Raum hat einen schweren Stand. Weil kommerzielle Erfolge selten sind, ist der Comic von der Kulturförderung abhängig, wobei aber im Vergleich zu anderen Kunstformen deutlich weniger Geld zur Verfügung steht. Die Notbremse versucht dem entgegenzuwirken, indem sie regelmässig Lesungen in Cafés, Bars oder Buchhandlungen organisiert. So werden die Comic-Geschichte einem Publikum nähergebracht und die Zuschauer*innen kommen mit den Autor*innen ins Gespräch.
Alain Schwerzmann (*1995) ist Comiczeichner, und Teil der Notbremse-Redaktion. Nach seiner Lehre als Konstrukteur besuchte er den gestalterischen Vorkurs an der ZhdK und entdeckte seine Lust am Geschichten-Erzählen. Darauf folgte ein Studium als Illustrator in Luzern. Zum Medium des Comics brachte ihn u.a. der französische Comiczeichner Jaques Tardi mit seinen Adaptionen der Kriminalromane von Leo Malet. Heute ist Schwerzmann grosser Fan französischer Comiczeichner*innen wie Joann Sfar, Christoph Blain oder Catherine Meurisse. Die zusammen mit Timo Krstin erarbeitete Comicreportage «Martinique» erschien in der fünften Ausgabe der Notbremse. Schwerzmanns Comic «Zwischen den Stühlen», entstand in Zusammenarbeit mit Luca Mondgenast, erschien in der dritten Ausgabe der Notbremse. Seine Kolumne «Perspektiven des Aushaltens» erscheint im Online-Magazin Das Lamm.
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Legenden
Susanna Bosch (*1998) lebt in Zürich, ist Studentin des Master Kulturpublizistik an der ZHdK und in der Zollfreilager-Redaktion tätig.