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Nina Kneubühler

Lass dich nicht fallen

Wie man sich im Gefallenwollen verpanzern kann.

Mit 12 Jahren war ich 1.70 m gross und erreichte damit fast die Mindestgrösse, um mich bei der Castingshow Germany’s next Topmodel anzumelden. In erster Linie erfüllte ich damit zwar bloss die Kriterien, die zu dieser Zeit dem geltenden Schönheitsideal entsprachen, aber für mein winziges jugendliches Selbstwertgefühl war das ein wichtiges Distinktionsmerkmal mit entscheidender Bedeutung für meinen weiteren Weg als heranwachsende Frau. Ich meldete mich nie bei Germany’s next Topmodel an, erinnere mich aber an die freien Mittwochnachmittage in meinem komplett weissen Ikea-Kinderzimmer, an denen ich versuchte, mir die Fertigkeiten anzueignen, die die «Mädchen» vor laufender Kamera lernen sollten. Im langen Gang unserer damaligen Wohnung übte ich das Gehen in Absatzschuhen, um später am Abschlussball der achten Klasse eine gute Figur zu machen. Ich verbrachte einen beachtlichen Teil meiner Freizeit damit, an meinem makellosen Auftritt zu feilen. Ich beobachtete die Leichtigkeit und die grazilen Bewegungen der Frauen auf den Laufstegen genau und betrachtete mich im Spiegel, während ich sie imitierte. In einem zweiten Schritt galt es dann, dieses sorgfältig antrainierte Verhalten in der Öffentlichkeit so natürlich und zufällig wie möglich erscheinen zu lassen.

 

Neben meinem Bett lag ein Stapel Hochglanzmagazine. Laurie Penny ist überzeugt, dass es unmöglich ist, in diesen Magazinen zu blättern, ohne schwanger, anorektisch oder gleich beides zu werden. Ich machte mich vertraut mit Diäten, Abnehmtipps und den neuesten Modetrends und lernte das Wort «Nonchalance»: schön sein, aber nicht zeigen, dass man schön sein will. Mein Ziel war nie das Mittelmass, sondern Perfektion. Die Models aus den Magazinen waren meine grössten Vorbilder. «Bauch einziehen» war längst zur Normalität geworden. Das lernte ich von meiner Mutter, sobald ich alt genug war, in den gemeinsamen Sommerurlauben am Strand Fotos von ihr zu machen.

 

Mir wurde vorgelebt, dass dünn sein besser ist als dick sein, dass Frauen ihren Appetit zügeln und dass es total crazy ist, mit einem Dessert «über die Stränge zu schlagen». Wenn ich meine Mutter besuche, lässt sie sich bis heute von mir bestätigen, dass sie noch ganz «okay» aussieht. Sie fasst sich dabei an den Bauch, ihre «Problemzone». Und Probleme, da sind wir uns einig, müssen behoben werden. In den Tiefen des damals noch jungen Internets begegneten mir unzählige fragwürdige Diäten, die einen maximalen Gewichtsverlust in einer absurd kurzen Zeit versprachen, und Artikel, die darüber informierten, welche Übungen laut «Experten» wirklich beim Abnehmen helfen.

 

Frauenmagazine sind bloss ein Faktor von vielen, die dazu beitragen können, dass ein Unwohlsein im eigenen Körper in einer Essstörung mündet. Perfektionismus, Ängstlichkeit, Selbstwertprobleme, depressive Verstimmungen, Schwierigkeiten im Umgang mit von Gefühlen, aber auch Leistungsorientierung und grosse Sorgen um das Aussehen, die Figur und das Gewicht können die Entstehung einer Essstörung begünstigen. In der Schweiz entwickeln laut dem Bundesamt für Gesundheit 3.5 Prozent der Bevölkerung im Laufe ihres Lebens eine Essstörung. Das klingt verhältnismässig nach wenig, wenn ich allein schon zwei Händen brauche, um aufzuzählen wie viele betroffene Frauen ich persönlich kenne.

 

In meiner vagen, und zugegeben: vielleicht etwas zugespitzten Erinnerung, ging es zwischen 2009 und 2016 vor allem darum, dünn, schön und «sexy» zu sein. Meine Vorbilder waren Shakira, Katy Perry, Rihanna und Co., die Alben von Lana del Rey waren der Soundtrack meiner jugendlichen Melancholie. Als ich 13 Jahre alt war und mit meiner besten Freundin den ersten BH kaufte, imitierten wir in Snoopy-Unterwäsche die Frauen aus dem Musikvideo zu «Lady Marmelade», die über ihre Arbeit im Moulin Rouge singen. Genau: «Voulez-vous coucher avec moi?»

 

Um uns «wie Erwachsene» zu fühlen und unseren Idolen nachzueifern, drehten wir unser eigenes Musikvideo zum Song «California Gurls» von Katy Perry. Auf dem Dachboden einer Freundin stellten wir die Digitalkamera in eine Ecke, zogen uns die kurzen Röcke der älteren Schwester an und knoteten die Blusen oberhalb des Bauchnabels zusammen. Wir drehten die Lautstärke des CD-Players voll auf, kreisten verführerisch mit den Hüften und zwinkerten abwechselnd in die Kamera.

 

(…)

I know a place
Where the grass is really greener
Warm, wet and wild
There must be something in the water
Sippin‘ gin and juice
Laying underneath the palm trees, undone
The boys, break their necks
Trying to creep a little sneak peek, at us

(…)

California girls, we’re unforgettable
Daisy Dukes, bikinis on top
Sun-kissed skin so hot,

we’ll melt your popsicle
Oh-oh-oh-oh-oh-oh, oh, oh-oh-oh-oh-oh

(…)

 

Gemäss Sophie Passmann lernen weiblich sozialisierte Menschen spätestens in der Oberstufe, dass der männliche Blick die wichtigste Währung in sozialen Interaktionen ist. Damals spielte ich noch zu Hause mit meinen Freundinnen «Jungs». Wir waren laut und tobten, imitierten Raufereien und energische Handschläge. Für sie galten andere Regeln als für uns. Und dann kam der Übertritt in die Oberstufe. Auf einmal gab es Jungs, die sich mitten im Stimmbruch befanden. Da kamen die ersten Funken Interesse für «das andere Geschlecht» auf. Ich lernte, dass es erstrebenswert war, die Aufmerksamkeit der Jungs auf sich zu ziehen, und dass sie mich bloss ärgerten, weil sie mich mochten. Also begann ich aufs Neue mein Verhalten anzupassen, um zu gefallen. Ich liess mich immer seltener fallen und verabschiedete schrittweise meine kindlichen Verhaltenszüge.

Als ich 13 war, hatte ich dann zum ersten Mal «einen Freund». Ich wollte ihn weder küssen noch mit ihm Händchenhalten, und nach knapp einem Monat beendete ich unsere «Beziehung» per SMS, weil sie mich schrecklich überforderte. Das Einzige, was mich damals an Jungs interessierte, war, dass sie sich für mich interessieren.

 

Der ständige Wunsch, irgendwem zu gefallen, gehörte offenbar zu meinem Prozess des «Frauwerdens» dazu. Das jugendliche Imitieren von «typisch weiblichen» Verhaltensweisen, mündete eines Tages in einem Verhalten, das mir ganz natürlich erschien. Laurie Penny nennt dies die «Plastikversion» erwachsener Sexualität, die Teenagermädchen sich durch die Imitation ihrer Vorbilder aneignen. Früher oder später scheint dieser Lernprozess abgeschlossen und das Verhalten ist so internalisiert, dass kein Bewusstsein mehr darüber besteht, in welchem Ausmass diese Rolle gespielt wird.

 

Der Soziologe Erving Goffmann beschäftigt sich in seinem Werk Wir alle spielen Theater mit der Selbstdarstellung im Alltag. Er ist überzeugt, dass Menschen in sozialen Interaktionen meist ganz unbewusst verschiedene Rollen spielen. Tatsächlich geht es auch mir so: Ich habe meine Gastronomie-Persönlichkeit, die ich mir für die Arbeit überstülpe. Dann gibt es Rollen, in die ich mich für unterschiedlichen Beziehungen begebe und schliesslich gibt es eine, die ich (absurderweise) für mich selbst spiele. Die Rolle Frau Teil aller Rollen, die ich spiele.

 

Morgens überschminke ich meine dunklen Augenringe, weil: müde steht mir nicht. Der Concealer ist eine Nuance zu hell für meinen Hautton, weil ich von den Make-up Artists bei Germany’s next Topmodel gelernt habe, dass helles Make-up die Augen «öffnet». Jugendliche Frische und der «Glow» sind das A und O, um bei Fotoshootings und Castings zu punkten. Nichts, womit ich meinen Alltag verbringe. Und doch wende ich diesen «Trick» bis heute an, um meinen Auftritt zu optimieren.

 

So ähnlich, wie ich meine Müdigkeit mit zu hellem Concealer überschminke, versuche ich, meine negativen Gefühle mithilfe von Strategien der Selbstregulation zu überdecken. Sie sind wie Panzer. Manche härter, andere etwas durchlässiger. Ich bin mit ihnen nach aussen vor allem eines: gelassen.

Laut meinem Vater heisst die Antwort auf alles sowieso: «Chunnt scho guet». Als würden sich Probleme so einfach in Luft auflösen lassen. Mit dieser unbeteiligten Zuversicht brachte er meine Mutter mehrmals die Woche zur Weissglut und mich zur Erkenntnis, dass wütend sein nichts bringt. Also habe ich geschluckt anstatt gespuckt und meine Performance, mich bis auf meine äussersten Glieder unter Kontrolle zu haben, perfektioniert.

 

Meine Performance ist die Nonchalance, mit der ich Dinge tue. Ich übertünche schwierige Momente mit Humor, um mich von ihnen abzugrenzen und weil das besser ankommt als eine wütende Frau. Abends vor dem Einschlafen lasse ich den vergangenen Tag vor meinem inneren Auge revue passieren. Ich suche nach «Fehlern», die ich in sozialen Interaktionen machte, nach Momenten, in denen ich aus meiner Rolle fiel, nur um sie noch einmal detailgetreu zu durchleben.

 

Manchmal fühlt es sich so an, als hätte ich die letzten zehn Jahre meines Lebens damit verbracht ein Skript für eine Rolle zu lernen. Die Rolle der «Frau». Mein Leben war geprägt von Versuchen, etwas zu imitieren, was mir erstrebenswert erschien, aber doch nie abschliessend definiert wurde. Ich habe meine Art, zu sein, perfektioniert. Mein Leben wurde zu einem einzigen «no make up make up-look».

 

Ich denke darüber nach, wie es wohl wäre, aus dieser Rolle zu fallen. Denn egal, wie nahe ich an das vermeintliche «Ideal» rankommen, oder wie weit weg ich davon bin, es zu erreichen: innerhalb der Regeln dieses Systems gibt es keine Gewinnerinnen. Ich bin ruhig und gefasst und das wird mir als gute Eigenschaft nachgesagt. Manche bewundern die Gelassenheit, mit der ich Dinge tue. Ich wünschte, es wäre mir egal, wer mich wie ansieht, ob ich gefalle oder nicht und dass ich einfach sein könnte. Ich wünschte, ich wäre lauter, wilder und unbekümmerter. Ich wünschte ich könnte schreien. Ich wünsche mir, dass ich mich einfach fallen lassen könnte.