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Annatina Nay

Körper schauen Körper zu

Menschen schauen Menschen zu. Menschen, von Scheinwerfern statt der Sonne beschienen, an einem gewöhnlichen Sonntagmittag am Strand. Sie liegen, stehen, sitzen, spazieren, singen im Sand. Eine scheinbar harmlose Strandszenerie auf bunten Tüchern, stünde da nicht das Geschehen beobachtende und gesichtsmaskentragende Publikum der Oper-Performance «Sun and Sea» auf einer Galerie aus Eisenstangen. Menschen halten sich mit desinfizierten Händen am Geländer fest, bestaunen das Strandtreiben von oben und lauschen der Musik.

Etwa 25 Menschen, gestrandet in einer geschönten Strandszene. Ein etwa 10 auf 20 Meter Indoor-Sandstrand in der Werft in Zürich Wollishofen ist Schauplatz und Bühne zugleich. Ferienstimmung in der ausgeleuchteten Industriehalle: Eine ältere Frau sortiert Muscheln auf ihrem Badetuch, daneben stehen zwei pastellfarbene Fahrräder. Ein Hund springt einem Tennisball nach, Zwillingsmädchen spielen Federball. Eine junge Frau aalt sich auf ihrem Tuch und macht Yogaübungen, ein Kleinkind spielt mit einem Plastikball. Daneben liegt ein blonder Junge auf einem Liegestuhl und isst Tortillachips, während ein Mann mittleren Alters in ein Buch vertieft ist. Vertrautes, buntes Treiben, zeitweise fast lethargisch. Kennt man sich da unten? Ab und zu steht jemand auf, verlässt sein Badetuch, wechselt ein paar Worte mit der Nachbarin und kehrt wenige Minuten später wieder an den Platz zurück. Währenddessen läuft das 60-minütige Libretto im Loop.

Das Werk «Sun and Sea» ist eine kollaborative Arbeit dreier litauischer Künstlerinnen, komponiert von Lina Lapelyte, geschrieben von Vaiva Grainyte und inszeniert von Rugile Barzdziukaite. Die Darsteller*innen singen 23 Lieder im Chor, Solo oder Duett,  a capella oder minimalistisch begleitet von einer elektronischen Orgel und erzählen dabei beiläufig Geschichten aus ihrem eigenen Leben. Man erkennt Persönlichkeiten, Charaktere, Identitäten. Die leicht monotone Begleitmusik klingt harmlos. Die Texte aber sind real und ungeschönt.

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Worin besteht die Faszination dieser Betrachtung von oben? Wieso schauen sich angezogene Menschen mit Masken während 60 Minuten aus vier verschiedenen Perspektiven Menschen in Badeanzügen am Strand an, die über den Klimawandel, alltägliche Sorgen, Ängste und Langeweile singen?

Ein erschöpfter Geschäftsmann erzählt, dass er sich keine Ruhe gönnen könne, weil seine Arbeitskollegen ihn sonst verachten würden. Auch vor sich selbst will er auf keinen Fall als Versager dastehen. Dieser Geschäftsmann  – ein Spiegel meines Selbst oder meines Nachbarn rechts neben mir auf der Galerie? Dieser atmet schwer durch seine Maske und schwitzt. Im Publikum ist es ansonsten still. Das Meeresrauschen fehlt aber.

Ich schaue dem Treiben zu und sehe da unten mich selbst, einen Arbeitskollegen, eine Tante, einen Freund. Ein Herr in einem Liegestuhl ärgert sich über Leute, die mit ihren Hunden die Strände verschmutzen. Lästige Sandflöhe seien die Folge des liegengelassenen Hundekots. Beiläufig wird erwähnt, dass das Meer heute so bunt wie nie sei. Quallen würden paarweise mit smaragdgrünen Taschen, Plastikflaschen und roten Kronkorken tanzen. Im Sand liegen leere Wasserflaschen, Plastikspielzeug und Schwemmholz. Beweint werden die eigene Sterblichkeit und Vergänglichkeit. «Sun and Sea» – ein Weckruf?

Inwieweit kann eine Oper am Indoor-Kunststrand als Weckruf in der Krise dienen? Die Live-Performace «Sun and Sea» der litauischen Künstlerinnen gewann 2019 den Goldenen Löwen in der Kategorie Best National Participationan der Biennale in Venedig. Heute, im Coronasommer 2020, würde man im Stück vielleicht eine kurze, zusätzliche Pandemiearie erwarten.

Auch wenn Menschen theoretisch fähig sind, sich vorzustellen, wie Klimawandel, eine globale Umweltkrise oder das Artensterben das zukünftige Leben auf der Erde beeinflussen könnten, scheinen die erzählten Zukunftsszenarien oftmals weit vom Alltagsleben entfernt. In «Sun and Sea» regen Performance und Musik subtil zum Überdenken des eigenen Lebensstils, der eigenen Haltungen und Privilegien an. Sozusagen als Wechselwirkung zwischen den sinnierenden Darsteller*innen und dem empfangenden Publikum oder als Rollenmodell, wenn Körper anderen Körpern zuschauen.