K wie Kunst-Mitwirkende
Als was wären aber die Darsteller von Santiago Sierras Tätowierungsarbeiten oder die Mitwirkenden in seiner Ausstellung Trabajadores que non pueden ser pagados, remunerados para permanecer en el interior de cajas de cartón vor ein paar Jahren in den Berliner Kunstwerken zu beschreiben? Tschetschenische Asylbewerber, die in Kartons sassen, unsichtbar für das Publikum, aber wirklich da drinnen. Was ist mit den anderen, die bezahlt wurden, öffentlich zu masturbieren oder nur sich zu versammeln? Was sind die mal nackten, mal Strumpfhosen tragenden, mal mit gefärbtem Haupt- und Schamhaar, dann in Marinekostümen auftretenden Mitwirkenden einer Vanessa-Beecroft-Performance? Man denke aber auch die 100 in Formation aufgestellten Personen chinesischer Abstammung, die Paola Pivi auftreten liess (angeblich um zu zeigen, wie verschieden sie seien), übertroffen nun von 1001 chinesischen Staatsbürgern, die Ai Wei Wie zur documenta anreisen lässt? Was genau sind die Karaoke-SängerInnen und –TänzerInnen in den Arbeiten von Candice Breitz, die zu Tracks von Madonna, John Lennon, Bob Marley und Michael Jackson singen, auf dass nur ihre Stimme, synchronisiert mit Dutzenden anderen Mitwirkenden, als eine Art Chor der Fan-Dilettanten zu hören und ihre begeistert tanzenden Körper auf Dutzenden von Monitoren nebeneinander zu sehen sind? Und wo wir bei Chor sind: Tällervo Kalleinen und Oliver Kochta Kalleinen sammeln in europäischen Hauptstädten von der Bevölkerung Beschwerden ein, die sie dann in einen Songtext einarbeiten und von einem ortsansässigen Komponisten vertonen lassen, den dabei entstandenen Song singen dann wiederum die Beschwerdenführer: jeder die seine und alle den Kehrreim.
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Weitere Lokalkulturprojekte mit Chor gab es von Annika Erickson, Arthur Zmijewski und Jeremy Dellar und zahllose andere ohne Chor. Denn der Chor bietet ja dem neuen Statistentum noch einen ehrwürdigen kulturellen Rahmen. Erkennbarer werden die Ansammlungen, wenn sie sich eben auch nicht mehr als Chor formieren. Besonders promiment dürften die von Thomas Hirschhorn sein, der schon zweimal sogenannte soziale Brennpunkte bespielte, indem er deren Einwohner einsetzte, an der Pariser Banlieue oder im hessischen Kassel. Dabei werden provisorische Architektur, kulturelle Programme, Bücher und Kunstwerke in kulturell strukturschwache oder, wie es heute heisst, bildungsferne Milieus geschafft und geguckt, was dann passiert. Hirschhorn selbst spricht von den Leuten, die er in seine Werke einbezieht, meistens gegen Bezahlung, explizit von „l’autre“ – und von der Energie, die entstehe, wenn man mit den Anderen, dem Anderen arbeite. Documenta-Teilnehmer Artur Zmijewski schliesslich beobachtet, um nur ein weiteres aktuelles Beispiel zu nennen, wie Leute frustrierende, eintönige Arbeitstage erleben, rund um die Uhr mit einer Kamera, auf der – sei es empathischen, sei es voyeuristischen – Suche nach den pristinen Resten wertvoller Lebendigkeit. Und in den ganz dumpfen Schlagzeilen erwartet uns alle Augenblicke eine Meldung über den angeblichen Künstler Spencer Tunick, der an allen öffentlichen Plätzen, die nicht schnell genug gesperrt werden, riesige Versammlungen von nackten Menschen abhält, die sich zu Ornamenten gruppieren, sodass er sie spektakulär fotografieren kann. Die Meldungen enthalten meist begeisterte Kommentare der Beteiligten, die wieder mal tolle Erfahrungen gemacht haben.
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Natürlich geht es bei der Liste von Phänomenen und ihren Parallelerscheinungen in der Massenkultur nicht nur darum, eine neue Kategorie von Performer zu bestimmen oder eine neue Konjunktur der Mischung aus Dokumentarismus und Voyeurismus zu beklagen. Das Thema, über das ich hier von der Seite der Bildenden Kunst spreche, steht für ein neues Austarieren des Verhältnisses von technischen Bildmedien, der Idee von Öffentlichkeit und Partizipation, der Attraktion menschlicher Präsenz und einer Ökonomie und ihrer Ethik, die Kompetenz und Subjektivität anders vermittelt, als das im bürgerlichen Zeitalter der Fall war. Die grossen Epochenbeschreibungen Neoliberalismus, Netzwerkgesellschaft, Kontrollgesellschaft und Postfordismus stellen historische Rahmen für dieses Geflecht von Phänomenen zur Verfügung, auf die man bedarfsweise zurückkommen kann. Mehr Aufschluss versprechen die Phänomene selbst, insbesondere ihr latenter Begriff von Attraktion, Medium und Kritik.
Erstmals publiziert in: Diedrich Diederichsen: Eigenblutdoping. Selbstverwertung, Künstlerromantik, Partizipation. Kiepenheuer & Witsch, 2008