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Michael Fässler

K wie Kritische Kartographie

„Auf die Bitte seines Vaters hin, der unterdessen tankte, kaufte Jed eine Strassenkarte von Creuse und Haute-Vienne aus der Reihe «Departementalkarten» von Michelin. Und als er dort, ein paar Schritte von den in Zellophan gehüllten Sandwiches entfernt, seine Karte auseinanderfaltete, wurde ihm seine zweite grosse ästhetische Erfahrung zuteil. Diese Karte war geradezu erhaben; bis ins Innerste aufgewühlt begann er vor dem Verkaufsständer zu zittern. Noch nie hatte er so etwas Herrliches gesehen, das so reich an Emotionen und Sinn war wie diese Michelin-Karte der Departements Creuse und Haute-Vienne im Massstab 1:150’000. Die Quintessenz der Moderne, der wissenschaftlichen und technischen Erfassung der Welt, war hier mit der Quintessenz animalischen Lebens verschmolzen. Die grafische Darstellung war komplex und schön, von absoluter Klarheit, und verwendete nur eine begrenzte Palette von Farben. Aber in jedem Örtchen, jedem Dorf, das seiner Grösse entsprechend dargestellt war, spürte man das Herzklopfen, den Ruf Dutzender Menschenleben, Dutzender, Hunderter Seelen – von denen die einen zur Verdammnis und die anderen zum ewigen Leben berufen waren.“ (Michel Houellebecq, Karte und Gebiet DuMont 2011)

 

Komplexität vermindern und Orientierung stiften, flach machen, was im Gebiet hügelig ist, ohne dabei den Hügel zu negieren: Karten trennen die Spreu vom Weizen, zeigen Strassen, Höhelinien oder U-Bahnstationen, je nachdem, wozu und von wem sie hergestellt werden. Durch Google und GPS rücken Karte und Gebiet immer näher zusammen oder sie beginnen sich sogar zu überlappen – und produzieren im Falle von Google Street View einen seltsamen Hybriden. Bei aller Exaktheit sind Karten immer auch Interpretation, vom Kartografen genauso wie vom Explorer, der die Karte in der Hand hält, und den Weg durch das Gebiet sucht – falls das denn überhaupt das Ziel sein soll: Der amerikanische Kartograph Denis Wood hat in den letzten Jahrzehnten sein Quartier Boylan Heights in Raleigh im Bundesstaat North Carolina vermessen. Nicht die Strassen oder Grünflächen, sondern die tägliche Route des Postboten, die Häuser, die im Rundschreiben des Quartiers in den letzten 25 Jahren am häufigsten ihre Erwähnung fanden, die Häuser, vor denen an Halloween jeweils erleuchtete Kürbisköpfe stehen. Karten können Komplexität also auch erst herstellen: Sie können lauter Bäume zeigen im Wald, zwischenmenschliche Netze zum Vorschein bringen, „den Ruf Dutzender Menschenleben wach machen“, um es mit der Figur Jed Martin in Michel Houellebecqs Karte und Gebiet zu sagen. Die Kartographie als Erzähltechnik, als Ethnographie des Alltags. Doch wo erzählt wird, wird manchmal auch gelogen: In seinem akademischen Leben ist Wood einer der Vorreiter der sogenannten „kritischen Kartographie“, einer Disziplin, die sich mit den Möglichkeiten und Grenzen von Karten als Wegweiser auseinandersetzt: Wissen(sherstellung) ist immer auch Macht, Grenzen können etwa gesetzt, weggelassen oder verschoben werden, es liegt in der Hand des jeweiligen Kartographen. Karten sind nie frei von den Motiven des Produzenten, schreibt Wood in Anlehnung an Roland Barthes‘ Mythen des Alltags. Gut zu wissen, dass es nicht nur den Akademiker, sondern auch den Poeten Denis Wood gibt, der diese Motive in seinen Karten auf wunderbare Weise ad absurdum führt.