K wie Kontaktreliquie
Die Religionswissenschaftler unterscheiden zwischen Körper- und Kontaktreliquien. Auf unseren Kulturkreis bezogen wäre das der Unterschied zwischen den Köpfen der heiligen drei Könige und dem Turiner Grabtuch. Die Wertigkeit dieser Reliquien hängt für die Gläubigen stark von diesem Unterschied ab; ebenso natürlich vom Heiligen, von dem die Reliquien stammen. Das Grabtuch Jesu, obwohl „bloss“ eine Kontaktreliquie, steht in der Rangfolge höher als die Körperreliquien der heiligen drei Könige. Nichtsdestotrotz steht ein Fingerknochen des heiligen Pontifazius in der Rangfolge höher als sein Taschentuch.
Auch die Buddhisten unterscheiden zwischen Körper- und Kontaktreliquien, wobei sie gegenüber anderen Religionen einen entscheidenden „Wettbewerbsvorteil“ haben. Weil das Leben des historischen Buddha Sakyamuni untrennbar mit seiner Lehre verbunden ist, oder um es buddhistisch zu sagen, Körper und Dharma nondual sind, ist jedes Sutra gleichzeitig Körper Buddhas. Die Buddhisten können also theoretisch jede Skulptur und jeden Tempel mit einer Körperreliquie Sakyamunis weihen, was sie auch ausgiebig tun.
Weitere Formen von Kontaktreliquien gibt es auch in vermeintlich nichtreligiösen Kontexten wie dem Sport, der Kultur oder der Politik. Was die Frage der Kontaktreliquie mit der Geschichte Europas und der Sammlung Eduard von der Heydt zu tun hat, verdeutlicht eine kleine wahre Geschichte in drei Episoden.
I.
Als das Zürcher Stimmvolk 1949 der Gründung des Museum Rietberg durch die Schenkung von Baron von der Heydt zugestimmt hatte, ging es darum, die verstreute Sammlung – der Bankier hatte sie aus Sicherheitsgründen während des Krieges in Europa verteilt –, wieder zusammenzubekommen. Nachforschungen des „Kunstdetektives“ Kurt Reutti brachten den China-Teil der Sammlung in einem Berliner Forsthaus zutage, wohin er nach der Evakuierung aus der Ostasiatischen Sammlung verbracht worden war, und wo der neue Besitzer gerade im Begriff war, die lästigen Figuren in einem nahe gelegenen Teich zu versenken. Eilig auf die im sowjetischen Sektor gelegene Museumsinsel verbracht, gelangte der Sammlungsteil 1949 mit der Staatsgründung in den Besitz der DDR, die keinen Anlass hatte, auf die Rückgabeforderungen aus Zürich – u.a. eines Herrn Dr. Itten, Direktor des Kunstgewerbemuseums – einzugehen.
II.
Kurz darauf machte der Schuhmacher Kammerer, wohnhaft an der Spiegelgasse 14 in Zürich, ein gutes Geschäft. Er verkaufte zwei Buttermesser aus Horn, ein Teeglas und ein Teesieb für stolze 500 Schweizerfranken an eben diesen Dr. Itten. Itten wusste, was er erworben hatte, und wo der meistbietende Kunde sass – konnte er doch nachweisen, dass sich die besagten Gegenstände während des Zürcher Exils von Lenin 1916/17 in dessen Besitz befunden hatten. Die Kontaktreliquien des Heiligen des Kommunismus wurden also gegen die chinesischen Skulpturen getauscht und beide Lager waren hochzufrieden, im Wissen, das bessere Geschäft gemacht zu haben.
III.
Wer heute das Schaudepot des Museums Rietberg besichtigt, stösst auf eine eher unscheinbare Statue aus Holz, 170 cm hoch, stark beschädigt, beide Arme fehlen, mit der Inventarnummer RCH 305. Wenn man sich die Figur von hinten betrachtet, stellt man fest, dass sich eigens angebracht Nischen im Körper befinden, in denen sich, nun verlorene, Reliquien befunden hatten. Durch die „Einverleibung“ der Reliquien war die Holzskulptur in der Mitte des 15. Jh., während der Ming-Dynastie, vielleicht in Taiyuan in der Provinz Shanxi geweiht und somit für den gläubigen Buddhisten wirkungsmächtig geworden – was sie bis heute ist.
Eberhard Illner (Hg.): Von Buddha bis Picasso. Der Sammler Eduard von der Heydt. Begleitpublikation zur Ausstellung im Museum Rietberg. Prestel, 2013
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Gastspiel im Gastspiel
Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.