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Sarah Calörtscher

Joyful Resistance

Eine lange Stoffrolle, die ganze Bühnenlänge füllend, wartet ganz hinten auf der ansonsten leeren Bühne darauf, ausgerollt zu werden. In der Stille betreten sieben Performer:innen den schwarzen Tanzboden und beginnen, die Stoffrolle einem Teppich gleich über die ganze Bühnenfläche auszurollen. Das Ausbreiten der bunt gemusterten Tücher wirkt wie ein langsam aus dem Dunkeln hervortretender Horizont, eine Einladung in eine andere Welt.

Nach und nach treten elf Performer:innen auf und tauchen unter die Tücher. Sie beginnen, die Tuchlandschaft zum Leben zu erwecken. Sanfte Wellen bewegen die Oberfläche, Berge erheben sich und schemenhaft kommen in Tücher gehüllte Wesen zum Vorschein, die weder Mensch noch Tier sein wollen. Leise etabliert sich dazu eine rhythmische Soundfläche. Immer wieder wenden uns die Wesen ihre Gesichter zu, die uns unverhohlen betrachten, mal herausfordernd, mal misstrauisch, mal kokettierend, aber immer in Bann ziehend.

Die Welt, die sich auf der Bühne öffnet, schafft Raum für Stimmen aus der afroamerikanisch-indigenen Kultur und brasilianische Denker:innen. Encantados sind in der afroamerikanisch-indigenen Kosmologie Geisterwesen, die zwischen Himmel und Erde leben und sich durch ihre Verbundenheit zur Natur auszeichnen. Nebst dieser Bedeutung lässt sich das Wort auch aus dem Spanischen oder Portugiesischem mit „verzaubert, verwunschen“ übersetzen. In der Aufführung Encantado lassen sich beide Bedeutungen des Wortes gut fassen. Einerseits verzaubert die Welt auf der Bühne durch ihren steten Rhythmus und den aus dem Nichts entstehenden Bildern; in der sich ständig verändernden Tuch- und Körperlandschaft erscheinen immer wieder nichtmenschliche Wesen. Andererseits scheinen sich die Tanzenden selbst zu verzaubern, indem sie die Grenzen ihrer menschlichen Form abtasten und bewusst verwischen. Von den Wesen auf der Bühne betrachtet zu werden, lädt ein, zurückzuschauen und selbst an dem Prozess der Verzauberung teilzunehmen.

In einem steten Strom werden die Performer:innen in Duos oder Trios nach vorne gespült und lassen kraftvolle Bilder und kleine Geschichten entstehen. Sie stellen dar, sie posieren, sie zeigen und verbergen, kaum steht ein Bild, rückt das nächste nach. Es entwickelt sich nach und nach ein immer dynamischerer Tanz, eine Bewegung, die auch auditiv stattfindet: die von August 2021 stammende Protestgesänge der Mbya Guarani, einem indigenen Volk im Amazonas bilden einem langanhaltenden und hypnotisierenden Loop, der an Intensität laufend zunimmt. Die Stimmen wurden im August 2019 aufgenommen, bei den bis anhin grössten Protesten von Völkern des Amazonas gegen dessen Ausbeutung. Gerade in Bezug auf das Thema der Klimakrise sind das Stimmen, die im europäischen Raum selten gehört werden und denen Lia Rodrigues in ihrem Stück Raum gibt.

Dann bewegt sich die Gruppe mit den Tüchern einem breiten Fluss gleich langsam in Richtung der Zuschauenden. Dabei entsteht eine kollektive Bewegung, in der die Tücher immer weitergegeben werden, so dass sich der Tuchwurm langsam schlängelnd nach vorne bewegt. Dort angekommen steigert sich der reissende Fluss zu einem Sturm, oder vielleicht auch zu einem ausgelassenen Fest. Die Schwelle zwischen Kampf und Feiern scheint in Encantado bewusst dünn gehalten. An eben dieser Schwelle wird das Potential des Moments der Verzauberung spürbar. Es ist der Widerstand, der aus Freude und Lust am Leben geführt wird. Da keimt die Hoffnung, selbst fluid zu bleiben und wie Wasser durch starre Strukturen zu fliessen, um sie langsam aber sicher abzutragen.

In Brasilien geboren, studierte Lia Rodrigues klassisches Ballett und Geschichte an der Universität von Saõ Paulo. Seit 2004 arbeitet die Gruppe mit der NGO Redes da Maré zusammen und entwickelt künstlerische und Bildungsaktivitäten in der Favela Maré. Aus der Kooperation entstand 2009 das Centro de Artes da Maré (Kunstzentrum von Maré). Fortan wurde das Zentrum zu ihrem Hauptarbeitsort. Sie ist sowohl Leiterin der Tanzschule Escola Livre de Danças da Maré als auch in der Organisation des Zentrums als sozialer Begegnungsort tätig. Das Zusammenspiel von künstlerischem Schaffen und sozialen Prozessen spielt auch in ihren Choreografien eine Rolle: Zwischen Utopie und Widerstand öffnet sich der Raum für andere Perspektiven und Veränderung.

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