Jean-Paul Magnum. Zum Verhältnis zwischen Existentialismus und humanistischer Fotografie in den 1940er Jahren
Vermutlich ist es nur ein Zufall. Eine jener Gleichzeitigkeiten, die man zu allen Zeiten findet und die deshalb wenig aussagekräftig sind. Gleichwohl ist sie beachtenswert.
Im Jahr 1946 veröffentlichte Jean-Paul Sartre seinen Essay Der Existentialismus ist ein Humanismus und betonte darin, dass sogar die Philosophie der mürrischen Nihilisten und Misanthropen – zumindest kanzelten frisch-fromm-fröhlich-halbfreie Naturen die Existentialisten dazumal gerne als solche ab – in die Tradition der glorreichen Menschenveredler der Neuzeit getreten sei, da der Existentialismus Freiheit und Verantwortung verfechte: „So bin ich für mich selbst und für alle verantwortlich, und ich schaffe ein bestimmtes Bild vom Menschen, den ich wähle; mich wählend wähle ich den Menschen.“[1] Mit diesem Hymnus, den er später reumütig revidieren sollte, knüpfte Sartre implizit an das Werk eines humanistischen Denkers der Neuzeit an: Giovanni Pico della Mirandola. 1486 legte der junge Schützling Lorenzo de‘ Medicis in seiner verblüffend modern klingenden Oratio de Hominis Dignitate (Rede über die Würde des Menschen) dem Schöpfergott frech die folgenden Worte in den Mund:
„Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du selbst dir ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluß habest und besitzest. Die Natur der übrigen Geschöpfe ist fest bestimmt und wird innerhalb von uns vorgeschriebener Gesetze begrenzt. Du sollst dir deine ohne jede Einschränkung und Enge, nach deinem Ermessen, dem ich dich anvertraut habe, selber bestimmen.“[2]
Existenz kommt vor Essenz – mit diesem existentialistischen Schlagwort lässt sich auch Picos Philosophie umreißen. Somit gilt: Der Humanismus ist ein Existentialismus.
Ist der Magnum-Humanismus ein Existenzialismus?
Kurz nachdem Sartre seine Affäre mit dem Humanismus publik gemacht hatte, im Jahr 1947, gründeten Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, David Seymour und George Rodger in Paris die Photoagentur Magnum Photos. Sie sollte sich zu einer Art FIFA der humanistisch gesinnten Dokumentarfotografie entwickeln, weltweit Dependancen gründen und wie der allmächtige Ballermannverband emanzipatorische Rhetorik mit handfester Geschäftemacherei verknüpfen. Mehrere Jahrzehnte lang prägte Magnum im wörtlichen Sinne das Bild dessen, was in der Fotografie als „gutes Bild“ galt: die Größe des Menschen noch im tiefsten Leid zeigend, die Krisen menschlicher Existenz ins Bewusstsein der Nicht-Involvierten rückend und dergestalt an Teilhabe, Empathie, Verantwortung appellierend. Auch das Ferne und das Exotische rückten qua Reportage in den Fokus. Steve McCurrys Ausstellung „Fotografien aus dem Orient“ – wobei „Orient“ spätestens seit der von Edward Said geprägten Orientalismus-Debatte als vorbelasteter Begriff wahrgenommen wird – legt dafür ein so beredtes wie diskussionswürdiges Zeugnis ab. Noch 1990 schrieb Niklaus Flüeler in einem Artikel für die Weltwoche, einzig der Fotografie à la Magnum gelänge es, die „unübersehbare Realität von Hunger, Armut, Leiden, Ungerechtigkeit, Verstümmelungen und sinnlosem Sterben … ungekünstelt und ungeschminkt, aber mit höchstem handwerklichen Können, persönlichem Engagement und Einsatz bis an die Grenzen des physisch und psychisch gerade noch Ertragbaren unerschütterlich zu dokumentieren“.[3]
Sartres Plädoyer für einen gleichsam performativen Existentialismus der Freiheit, des Engagements und der Verantwortung, der die Wirklichkeit menschlicher Existenz nicht beschönigt, mag mit dem essentialistisch gefärbten Magnum-Photos-Humanismus nicht vereinbar sein. Letzterem ist bis heute, in qualitativ unterschiedlichen Ausprägungen, sichtlich das Bemühen eingepreist, entgegen aller sozialen, politischen, ökonomischen Fährnisse und Kontingenzerfahrungen einen Wesenskern des Menschen zu bewahren – einen Kern, der wie Glut unter einer Schicht zeitgeschichtlicher Asche glimmt. Die Magnum-Fotografinnen und -Fotografen fächeln ihm, kraft ihrer Bilder, metaphorische Luft zu und bringen ihn zum Aufflammen. Nichtsdestotrotz konvergieren Sartres und Magnums Intentionen in einem gemeinsamen Fluchtpunkt: Es gilt, die Menschen aufzuklären und zur Verantwortung zu erziehen, ohne die tragischen und ekelerregenden Seiten der Wirklichkeit zu ignorieren. Wie der praktizierende Existentialist seinen Lebensstil nie nur für sich selbst, sondern für die ganze Welt wählt, so erfährt sich der Magnum-Foto-Rezipient idealiter als All-Involvierter und damit auch als – indirekt – verantwortlich für Ereignisse an Orten, die fern seiner Umgebung liegen, etwa als Sachse für Kriege in Indochina oder als Appenzeller für Dürren in Andalusien. Der Philosoph Leszek Kołakowski mokierte sich in den 70er Jahren über dieses Ideal der All-Verantwortlichkeit. Es impliziere letztlich „die Aufhebung jeglicher Verantwortung“ und führe dazu dass die „Unruhe bezüglich der eigenen Entscheidung zur spekulativen Fiktion“ werde.[4]
Postheroischer (Foto-)Humanismus
Wie dem auch sei: Auf ihre je eigene und doch vergleichbare Weise waren der Existentialismus und die humanistische Fotografie in den 1940er Jahren Zuspätgekommene. Kritische Dokumentation, abenteuerliche Reportage, Einfühlungsangebote, Informationen, Aufklärung – schön und gut. Doch jene Wirkmächtigkeit des Humanismus, welche Lodovico Settembrini in Thomas Manns Zauberberg am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch mit Verve vertreten konnte, war spätestens in und mit dem Zweiten Weltkrieg gründlich diskreditiert worden – allen seinen Idealen, Werten und vermeintlichen zivilisatorischen Errungenschaften zum Trotz hatte Europa die Welt in den Abgrund gestürzt. Dass der Existentialismus darauf mit anti- oder posthumanistischen Invektiven reagierte, war nur allzu verständlich. Auch er war aber dahingehend verspätet oder seinen eigenen Wurzeln gegenüber ignorant, dass der Humanismus immer schon existentialistisch-posthumanistische Momente enthielt und eher seine bürgerlichen Schrumpfformen zum biederen Essentialismus, der eigentlich eher ein Konformismus und Komfortismus ist, neigten. Wie eingangs skizziert, stand der Humanismus zumindest in der neuzeitlichen Mirandola’schen Ausprägung dem Existentialismus näher als es seine späteren Verkrustungen, Trivialisierungen und Vulgarisierungen vermuten lassen könnten. Der Humanismus lässt sich nicht auf die Glorifizierung eines menschlichen Wesenskerns reduzieren wie sich der Existentialismus nicht auf den Nihilismus reduzieren lässt. Insofern liegt Sartres Fehler in der Selbstkorrektur: Der Satz, dass der Existentialismus ein Humanismus sei, hätte schon in den 1940er Jahren zu einem den Quellen adäquateren Verständnis des Humanismus führen können. Magnum Photos, auf der anderen Seite, hätte sich nicht auf das Menschlich-allzu-Menschliche, auf das theatrum mundi, das menschliche Elend und die menschliche Größe verlegen müssen, um der Menschlichkeit zu dienen. Wie der neuzeitliche Humanismus paradoxerweise in einem posthumanistischen Text kulminiert, so sind Aufklärung, Erkenntnis, Engagement und Verantwortung nicht auf eine Essenz des Menschen oder auf die Aktivierung der Rezipierenden durch anrührende, fesselnde, faszinierende Schlagbilder angewiesen. Eine Folge Sponge Bob kann der Horizonterweiterung ebenso dienen wie Reportagen aus Afghanistan.
Zu nüchtern? Zu abgeklärt? Nun, die radikale Aufklärung des 18. Jahrhunderts betrachtete den Menschen als eine Ansammlung von Atomen (Denis Diderot) oder als Maschine (Julien Offray de la Mettrie), sie profanierte ihn also bis auf die Knochen – sah jedoch keinen Widerspruch darin, auf den Trümmern des gottebenbildlichen Menschen eine regelrechte Festung des idealistischen Fortschritts zu errichten…
[1] Jean-Paul Sartre, Der Existentialismus ist ein Humanismus und andere philosophische Essays 1943–1948, Reinbek: Rowohlt, 2000, S. 151.
[2] Giovanni Pico della Mirandola, Über die Würde des Menschen. Lateinisch – Deutsch. Übersetzt von Norbert Baumgarten, herausgegeben und eingeleitet von August Buck, Hamburg: Meiner, 1990, S. 6–7.
[3] Niklaus Flüeler, „Grösser als Magnum ist keine Fotografie. Was wirklich Wichtige Bilder sind, zeigen zur Zeit zwei Ausstellungen in Zürich“, in: Die Weltwoche Nr. 34, 23. August 1990.
[4] Leszek Kolakowski, Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München: R. Piper & Co., 1973, S. 44.