James, Salvatore und mein Grossvater
Zu Beginn gibt es einen pinken Flyer mit weisser und schwarzer Schrift, säuberlich auf jeden schwarzen Klappstuhl im Publikum gelegt. Darauf wird zur Podiumsdiskussion über Rassismus in der Schweiz eingeladen, in einer Woche in der Jakobshalle in Zürich. Regenjacken rascheln auf den Stühlen, während wir uns zurechtrücken, der Saal, in schwarze Tücher gehüllt, riecht nach nassem Camping im Sommer. Vor uns beginnt ein Reigen erzählter Erlebnisse aus der Migrationsschweiz der letzten 50 Jahre.
Statt der erwarteten Schauspielerei gibt es erlebte Geschichten und kein Skript: Auf weissen Plastikstühlen aus Grosis Garten erinnern sich die Mitglieder des «Schwarz enbach Kompl ex» in roten Oberteilen und schwarzen Hosen im Gespräch miteinander an fehlende Einschulungen von italienischen Arbeiter:innenkindern, oder solche für nur ein halbes Jahr und an das T-Wort aus Kindermündern. Ich packe den Flyer auf meinem Stuhl ein.
Paola erzählt uns auf der Bühne, dass sie ihre Doktorarbeit über den Gebrauch ebendieses T-Wortes geschrieben hat. «Ich sage es jetzt einmal, und dann sage ich es nicht mehr: Tschingg.» Mit einem vorgelesenen Abschnitt aus ihrer Arbeit erklärt sie, dass dieses Wort von Schweizer:innen benutzt wurde, um die italienischen Arbeiter:innen auf eine niedrigere soziale Ebene zu stellen: Eine klassische Form des «Otherings». Paola macht deshalb mit uns einen «Exorzismus» und lässt uns statt dem T-Wort laut «gin-gin» rufen. Während ich rufe, denke ich daran, dass meine Familie jedes Jahr Ferien in Italien macht, an Fahrten auf der Autostrada als Kind. An meine Grossmutter, die ihren Mann jeweils dazu brachte, auf dem Pannenstreifen anzuhalten, um die Reisfelder im Piemont zu fotografieren. Manchmal nannte mein Grossvater andere Autos da «gin-gin» (Er sagte nicht «gin-gin»).
Ich glaube, er tut es nicht mehr.
Der Scherenschnitt an Erfahrungen, halb Podiumsgespräch, halb geschlossene Diskussionsrunde, lebt vom Material. Die Dramaturgie, das Sound-Mixing bei den verschiedenen musikalischen Einlagen und die Übergänge zwischen den einzelnen Teilen sind fürs Konzept des Stückes zweitrangig und fühlen sich auch zweitrangig an. Das ruckelt im Publikum, einige Zuschauer:innen gehen nach zehn Minuten hinaus in den Regen, der über uns Bleibenden aufs Holzdach prasselt.
Salvatore erzählt vom 7. Juli 1970, als die zweite schweizerische Überfremdungsinitiative, besser bekannt als die Schwarzenbachinitiative, vors Volk kam. Sämtliche Parteien, die Presse, Bundesrat und Parlament empfahlen zwar, die Vorlage abzulehnen. Trotzdem: «Es war eine Stimmung wie am Anfang der Pandemie», erzählt er am hölzernen Rednerpult, Center Stage. «Niemand wusste, was passieren würde.» Er selber war Saisonnier in einer grossen Schreinerei in Nordzürich, ein weiterer 18-jähriger Italiener, der dem Ruf nach benötigten Arbeitskräften in die Schweiz gefolgt war. «Ein komisches Gefühl war das. Ganz grau. Wir sind den ganzen Tag vor dem Radio gesessen.» In der Hand, mit der er sich auf dem Rednerpult abstützt, hält er einen Stapel Notizkärtchen. Salvatore ist kein Schauspieler, und dieser Abend hier ist auch kein Theater. «Du wusstest, dass du nicht abstimmen kannst, und dass andere in diesem Moment für dich entscheiden. Da gab es deine Arbeitskollegen, deine Nachbarn, du wusstest genau…» Salvatore lässt den Satz unvollendet, ich denke ihn mit dem Rest des Publikums fertig: Du wusstest genau, dass einige davon zu deinem Schaden abstimmten.
Die Initiative, vorgelegt 1968 von der «Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» (NA) sah vor, dass der Ausländer:innenanteil in allen Kantonen 10% nicht mehr überschreiten durfte. Wäre die Initiative angenommen worden, hätte Salvatore gemeinsam mit ungefähr 300’000 weiteren Ausländer:innen die Schweiz verlassen müssen. Dies, nachdem er zusammen mit unzähligen anderen Arbeiter:innen aus Italien für niedrigste Löhne den Wirtschaftsaufschwung der Schweiz mitermöglicht hatte. «Ich war systemrelevant, wir wissen jetzt alle, was das heisst.» Der Humor schlägt Verzweiflung um. «Ich habe am Bau der ETH und der Universität mitgearbeitet. Wir haben Züri gebaut, vor uns war nichts da!»
Ich fragte meinen Grossvater, wo er am 7. Juni 1970 war, und wie er abgestimmt habe, nachdem James Schwarzenbach monatelang im Namen der «Überfremdung» Kampf gegen italienische Arbeitskräfte geführt hatte. Er habe die Initiative abgelehnt, sagte er mir am Telefon. «Das war ein Riesenthema damals, die Emotionen gingen so hoch. Das hat die Gesellschaft schon gespalten.» Eine zweite Stimme im Hintergrund. «Deine Grossmutter sagt, sie sei sich nicht sicher, aber sie habe es bestimmt auch abgelehnt.» Ich erinnerte ihn daran, dass sie damals noch gar nicht abstimmen durfte. Wir lachten beide betreten.
Ich stelle mir Salvatore im engen Massenschlag, bange wartend am Radio vor, während mein Grossvater abstimmt, zu seiner Frau und einjährigen Tochter in ihr weiss verputztes Haus zurückkehrt. Und ich stelle mir den Wahlzettel mit der schmalen, hohen Schrift meines Grossvaters vor, der an diesem Tag die fremde Zukunft eines 18-jährigen Schreinereihelfers mitbestimmt. Statt Salvatore selber gab ein Käsersohn mit Bänkerausbildung seine Stimme ab, Kind des Wirtschaftsaufschwungs, der heute jede Ferien die Hügel von Imperia nach Montegrazie hochbrettert, als gehörten die Strassen da auch ein bisschen ihm.
Die Arbeitsgemeinschaft Schwar zenbach Kompl ex wurde vom Sozialanthropologen Rohit Jain, dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola de Marin gegründet. Die Gemeinschaft, bestehend aus Aktivist:innen, Forscher:innen, Alltagsexpert:innen und Kulturschaffenden wurde anlässlich des 50-jährigen Jubiläums der Schwarzenbachinitiative gegründet. Sie bilden ein vielschichtiges Archiv an Erfahrungen, Wissen und Forschung rund um Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten. Ausgehend von der mit 54% abgelehnten Initiative, nach der 1970 rund 300’000 italienische Arbeiter:innen beinahe das Land verlassen mussten, appelliert und diskutiert die Arbeitsgemeinschaft aus verschiedenen Perspektiven zum Thema Rassismuserfahrungen und politischem Fremdenhass in der Schweiz des letzten halben Jahrhunderts. Ziel dabei ist die Stärkung einer Erinnerungskultur und der Verbindung mit einer breiten Öffentlichkeit, um Möglichkeiten einer kollektiven Aufarbeit der Thematik zu schaffen und zu erproben.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Livia Grossenbacher (*1995) studiert im Master Kulturpublizistik und arbeitet als Journalistin und Sprachlehrerin. Ihre Schwerpunkte legt sie dabei auf Sexualität und Gender sowie die Schnittstelle zwischen Sprach- und Kulturvermittlung.