Ich bin, zu wem ich mich mache / zu wem ich gemacht werde
Eine Reaktion auf «Ich bin, der ich bin!» und «Ich bin, der ich nicht bin» von Daniel Strassberg (Republik, 16.07.2019).
«Was könnte Identität bedeuten, wenn sie nicht als Seele eingehaucht, im Gehirn oder den Genen festgeschrieben oder durch den Boden verliehen wird? Und wenn sie andererseits nicht wie ein Joghurt in der Migros beliebig ausgewählt werden kann?», fragte Daniel Strassberg im zweiten Teil seiner Kurzkolumne zum Thema Identität. [1]
Und antwortet mit zwei Thesen, die beide auf David Hume, ein Philosoph, Ökonom und Historiker der Aufklärung, zurückgehen:
These 1: Identität ist keine feste, andauernde Einheit. Identität ist eine Fiktion, die wir dringend brauchen, weil wir unsere Erfahrung auf irgendetwas Fixes beziehen müssen.
These 2: Nur diejenigen Erfahrungen werden für die Identität relevant, auf die wir entweder stolz sind oder für die wir uns schämen (pride und humility).
Strassberg sieht darin einen «Ausweg aus der Sackgasse der erstarrten Debatte zwischen Essentialismus und Konstruktivismus.» Der Essentialist behaupte Identität sei biologisch, historisch oder geografisch festgelegt. Der Konstruktivist kontere, Identität sei lediglich eine gesellschaftliche Konstruktion, eine Rollenzuschreibung.
Er hält diese Positionen für gleichermassen wenig plausibel, weil beide seiner Meinung nach, eine deterministische Identität implizieren. David Humes Identität als private Fiktion hingegen helfe, Identität als Resultat einer Lebensgeschichte zu begreifen und somit spielerischer mit dem Identitätsbegriff umzugehen.
Soweit die Zusammenfassung. Doch was bedeutet das in der Konsequenz? Wie entsteht diese Fiktion «Identität» und wieso?
«Identität ist von Anfang an eine mutierbare und transformierbare Entität», schreibt Catherine Malabou in ihrem Essay Ontologie des Akzidentiellen [2].
Identität ist und war demzufolge nie etwas Festes, sie ist und bleibt veränderbar. Trotzdem erzählen die meisten Menschen ihre Biographie als lineare, chronologische Geschichte eines sich zwar entwickelnden, grundsätzlich aber gleichbleibenden Ichs. Auch wenn ein Grossteil der Menschen die eigene Identität nicht als etwas Fixes beschreiben würden, so haben wir doch das Bedürfnis, die Entwicklungen und die Umwandlungen, die wir erleben / durchmachen, als kohärent, allenfalls sogar kausal zusammenhängend zu beschreiben. Nicht umsonst erzählen Eltern eines Automechanikers, wie der Bub schon mit 3 Jahren seine Spielzeugautos auseinandernahm. Wir sind alle Profis, wenn es darum geht, Ereignisse so zu selektionieren und zu deuten, dass sie in die Biografie passen, selbst wenn wir dafür gewisse Erfahrungen vergessen und andere bisher unwichtig erscheinende Erlebnisse umwerten müssen. Ich persönlich habe mich letztens dabei erwischt, wie ich eine Geschichte aus der Kindheit, die für mich jahrelang völlig unbedeutend war und die ich beinahe vergessen hatte, voller Stolz erzählte, weil sie plötzlich total gut in die Narration passte, die ich mir selber über mich erzähle. So können Erfahrungen, die mal unwichtig oder sogar mit Scham besetzt waren, zu Erfahrungen werden, die man mit Stolz erzählt.
Alles in allem geht es um den Anschein von Kausalität, um eine vermeintliche Sicherheit, das geworden zu sein, wofür man irgendwie prädestiniert war. Es geht um eine Abgrenzung von «ich» und «nicht ich». Um ein Bedürfnis nach Grenzen und nach Ordnung, die es in unserer Natur nicht gibt, sondern die von uns erschaffen werden muss. Ein Austreiben von vermeintlich fremden Elementen, wobei das Fremde in Wirklichkeit erst durch die Austreibung erschaffen wird.
Doch wieso sind Scham und Stolz so ausschlaggebend für unsere Identitätskonstruktion?
Im Gegensatz zu anderen Emotionen, zeichnen sich Scham und Stolz dadurch aus, dass sie selbst-bewusste Emotionen sind und immer an einer Form von Bewertung hängen. Das heisst, wir messen unser Verhalten / eine Aussage / eine Leistung an einem Ideal. Und dieses Ideal ist durch eine Gesellschaft, detaillierter durch das Umfeld und in der Vollendung von uns selbst konstruiert. Wir bekommen verschiedenste Identitäts- bzw. Lebensmodelle vorgelebt, entscheiden uns, welches am erstrebenswertesten für uns ist (teilweise auch für welches wir uns am meisten Anerkennung von der ersehnten Person / Gruppe erhoffen) und versuchen dem Vorbild oder einer idealisierten Version unseres Selbst näher zu kommen. Diese idealisierte Version wird zu dem Massstab, an dem wir uns messen.
Gelingt das in einem Punkt, sind wir stolz. Scheitern wir, schämen wir uns. So kann ein «gegen die Normen der Familie rebellieren» uns mit Stolz erfüllen, weil unser Ideal anderen Normen entspricht. So kann aber auch das Bedürfnis nach Anerkennung dazu führen, dass wir die Wünsche und Normen unserer Eltern übernehmen. Oder unserer Freunde. Den Bildern, die uns die Werbung vermittelt. Den Stars. Whatever. Irgendein zusammengepuzzeltes Wertesystem ist es, auf das wir uns beziehen.
Es gibt also ein menschliches Wesen, das anscheinend kaum Grenzen hat, das veränderbar und vielseitig ist und es gibt das Bedürfnis nach Kohärenz, nach einem «Ich», dass sich von einem «Nicht-Ich» abgrenzt. So entsteht durch grenzkonstituierende Normen, die von einem selber, aber auch durch eine Gesellschaft erschaffen werden, eine Identität.
Nun sind wir wieder am Anfang: Ist Identität also doch wie das Joghurt, das man sich in der Migros beliebig aussuchen kann? Etwas, das beliebig veränderbar ist? Etwas, das es gar nicht gibt?
So einfach ist das nicht.
An dieser Stelle kann der Begriff der Performativität weiterhelfen, wie er in den Gender Studies von Butler zu einem bedeutenden Begriff wurde, um die Konstruktion von Geschlechteridentitäten zu beschreiben. Ich behaupte, es sind ähnliche Mechanismen, die auch andere Dimensionen unserer individuellen Identität erhalten, wenn auch vielleicht mehr Spielraum in der Wahl der Ideale besteht. «Das regulierende Ideal entlarvt sich als Norm und Fiktion, die sich selbst als Entwicklungsgesetz verkleidet und das sexuelle Feld, das sie angeblich nur beschreibt, in Wirklichkeit reguliert.[3]»
Die Identitätsnarration ist also keineswegs nur eine Illusion. Sie hat eine Wirklichkeit, sie ist performativ, sie stellt die eigene Identität her und hält sie aufrecht – und sie wird oft in einem grossen Ausmass von aussen mitbestimmt. Es kann also keinesfalls von absolut freier Wahl oder freiem Willen die Rede sein. Die Fiktion ist keine rein private Fiktion, es ist auch eine kollektive. Nicht nur unsere Ideale sind geprägt durch das kapitalistische System, Geschlechterrollen, Schönheitsideale, etc., auch die individuelle Person wird ständig mit Zuschreibungen aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Nationalität, Habitus, Berufsgruppe und den, damit einhergehenden stereotypischen Vorurteile konfrontiert. Genauso wie also Ideale nicht völlig frei und unabhängig gewählt werden, wird auch die Identität nicht völlig frei und unabhängig gewählt.
«Die Konstruktion ‘erzwingt’ gleichsam unseren Glauben an ihre Natürlichkeit und Notwendigkeit [4]» Die Innerlichkeit ist also Effekt der Konstruktion. Wir haben oft das Gefühl, nicht wählen zu können oder zumindest nur innerhalb gewisser Grenzen wählen zu können und das entspricht auch einer Wirklichkeit. Diese Wertesysteme sind tief in uns eingebrannt und alle dekonstruieren zu wollen, ist ein illusorischer Anspruch. Aber ja, es gibt die Möglichkeit, immer wieder auf die Konstruiertheit, beispielsweise die patriarchale, rassistische, kapitalistische Prägung unserer Ideale aufmerksam zu machen. Und es gibt die Möglichkeit der Reflexion, der Frage danach, ob wir unsere Ideale nicht vielleicht verändern wollen. Und dann gibt es vielleicht auch die Möglichkeit von Veränderung. Denn wie sich Verhalten über die Wiederholung konstruiert, so kann es (zumindest bis zu einem bestimmten Grad) mit Reflexion, Ausdauer und bewusster Verhaltensänderung auch dekonstruiert und neu konstruiert werden. Und so kann zu Anlass von Stolz werden, was vielleicht mit Scham besetzt war oder zu Anlass von Scham, worauf man jahrelang stolz war.
Also ja, Identität ist keine feste, andauernde Einheit. Identität ist eine Fiktion, ohne die wir nicht leben können.
Aber Scham und Stolz sind mehr Symptom als Ursache. Vielmehr ist es das Spiegeln unseres Ideals, das manchmal besser, manchmal schlechter gelingt, und dass uns durch die Wiederholung konstruiert. Ich würde also Humes Thesen nicht als Argument gegen den Konstruktivismus verwenden. Eine Konstruktion ist Identität auf jeden Fall. Und es ist auch keine rein private Fiktion, sie ist wiederum durch die Gesellschaft / das Umfeld geprägt. Doch es gibt die Möglichkeit diese Ideale anzupassen, was wiederum vielleicht durch sogenannte Schicksalsschläge passiert oder durchs Älterwerden, sich Reflektieren, Lesen, den Austausch oder schlichtweg den Willen, sich zu verändern. Vor allem passiert es durch neue, gemeinsame Visionen und durch den gesellschaftlichen Druck, gewisse Denkstrukturen zu dekodieren, zu hinterfragen und zu verändern. Dies kann im besten Falle manchmal spielerisch sein, aber oft ist es auch einfach ein unermüdlicher Kampf.
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[1] (Strassberg, 2019)
[2] (Malabou, 2011)
[3] (Butler, 2019, S. 200)
[4] (Butler, 2019, S. 206)
Butler, J. (2019).
Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Malabou, C. (2011).
Ontologie des Akzidentiellen. Berlin: Merve Verlag Berlin.
Strassberg, D. (2019).
Ich bin, der ich nicht bin. Republik.
Spezialausgabe
Trading Identities
Tanja Spielmann (*1996) studiert im Bachelor Dramaturgie.