I wie Inspiration Holzschnitt
Die Inspiration ist ein seltsames Tier, scheu scheint sie, auch kommt sie selten auf Zuruf. Eine Charakteristik ist ihr allerdings nicht abzusprechen: Sie scheint sich zwischen den Kulturen wohl zu fühlen.
Vorspiel:
Am 27. August 1520 notierte Albrecht Dürer (1471–1528) nach dem Besuch einer Ausstellung von Gegenständen der Azteken im Rathaus von Brüssel in sein Tagebuch: „Während meines ganzen Lebens habe ich noch nichts gesehen, das mein Herz so beglückt wie diese Objekte, wunderbare Kunstwerke, und ich bewundere das Genie der Menschen ferner Länder. Mir fehlen die Worte!“
Dürer, der die Kunst Italiens mit derjenigen Deutschlands verband, gelernter Goldschmied und rechnender Geschäftsmann, wurde in Europa vor allem durch seine Holzschnitte bekannt, die auch für Nicht-Adlige erschwinglich waren. Seine Allegorien und Szenen aus der Bibel und der Apokryphen inspirierten hunderte von Künstlern, seine gedruckten und vervielfältigten „Lehren zur Proportion“, der italienischen Kunst und der Antike entnommen, dominierten die Vorstellungen zur Ästhetik für Jahrzehnte.
Der sich gleichzeitig rasant verbreitende Buchdruck erwies sich als kongeniale Maschinerie, die Städte gewannen an Bedeutung und mit ihnen das, was wir heute als Mittelklasse bezeichnen würden. Blieb es im 15. Jh. noch Menschen wie Cosimo von Medici (1389–1464), Klöstern und der Kirche vorbehalten, in Europa Bibliotheken aufzubauen, so änderte sich dies im 16. Jh. radikal.
Szenenwechsel:
In China wurden nachweislich seit dem 10. Jh. Bücher gedruckt. Berichte, die sich auf frühere Unterfangen wie die Order des legendären Qin Shi Huang Di (dessen Grab die Tonarmee in Xian bewacht) beziehen, alle bekannten Bücher Chinas in einer Edition zu drucken, konnten archäologisch nie unterfüttert werden. Zwar wurde auch im Reich der Mitte mit beweglichen Lettern experimentiert, jedoch wurde dem Hochdruck-Verfahren der Vorzug gegeben, bei welchem jede Seite (ob Text oder Abbildung) einzeln in Holz geschnitzt und gedruckt wird. Mit diesem Verfahren waren Auflagen bis zu tausend Stück möglich, die in dem riesigen Reich rasch Verbreitung fanden.
In Japan konnte die gebildete Oberschicht, da man sich der chinesischen Schrift für die Widergabe der eigenen Sprache (die nicht mit dem Chinesischen verwandt ist) bediente, und da Chinesisch für die gebildete Oberschicht so etwas wie für uns Latein war, auch chinesische Bücher lesen. Dies führte dazu, dass neben dem Buddhismus und der Schrift auch der Holzschnitt zur Herstellung von Büchern im Inselreich rasch Verbreitung fand. Japanische Künstler fanden über die Jahrhunderte immer wieder Inspiration in chinesischen Büchern, insbesondere die Tuschmalerei profitierte stark davon. Autochthone Darstellungsformen finden sich überraschenderweise erst durch Werbung für die beliebte Sportart Sumô. Längliche Poster, als Holzschnitte gedruckt, die sich der Form der Säule anpassten (in Japan gab es kaum Wände im eigentlichen Sinne, an die man ein Papier hätte annageln können) zeigten berühmte Ringer in kämpferischen Posen mit der Ankündigung der nächsten Turniere. Die Poster wurden im 18. Jahrhundert von den Fans eifrig gesammelt und findige Verleger witterten ein gutes Geschäft mit der aufstrebenden, städtischen Mittelschicht, die sich nach Vergnügen sehnte. Jene Welt des Vergnügens wurde euphemistisch „die fliessende Welt“, jap. „Ukiyo“ genannt; die Holzschnitte und Bilder, die sich mit ihr beschäftigten, hiessen „Ukiyo-e“ (e steht für Bild). Die bald farbigen Holzschnitte zeigten Szenen aus dem Vergnügungsviertel Yoshiwara, Teehäuser und ihre schönsten Serviererinnen, berühmte Geishas und ihre Mode (eigentlich immer noch Werbung) und Szenen aus dem Theater (Kabuki und Nô). Für die Entstehung des berühmten Landschafts-Ukiyoe eines Katsushika Hokusai (1760–1849) oder Utagawa Hiroshige (1797–1858) fehlte aber noch ein entscheidendes Moment, das sich erst durch den Einfluss holländischer Grafiken, also durch Kulturmigration, herausbilden sollte.
Rückblende:
Japan hatte sich durch ein Dekret von 1639 selbst isoliert. Sakoku hiess die Devise, ausgegeben, um dem aggressiven Druck der katholischen Kolonialstaaten zu entgehen. Ausländern war das Betreten des Kaiserreichs bei Todesstrafe verboten, Japaner durften das Land nur mit einer Sondergenehmigung verlassen. Man wollte nicht das gleiche Schicksal wie Mexiko erleiden, dessen im Zuge der Conquista geplünderten Kulturen und Kulturschätze Albrecht Dürer so begeisterten. Einziger Zugang für den Handel bildete eine künstliche Insel vor Nagasaki, Dejima, wo die protestantischen Holländer eine Handelsniederlassung betreiben durften. Die eingeführten Waren und Bücher waren vor allem für zwei Berufsgruppen interessant: Ärzte und Künstler, die sich dem sogenannten „Rangaku“, dem Studium des Fremden widmeten. So waren die Landschaftsdarstellungen von Hiroshige und Hokusai entscheidend von den Kupferstichen mitgeprägt, die von den Holländern als „Propaganda“ verteilt wurden. Die Japanischen Künstler entdeckten darin und übernahmen daraus jenes Gestaltungsprinzip, das in Europa in der Renaissance entwickelt und mit Holzschnitten verbreitet wurde, und das noch heute an Zeichenschulen als „Perspektive“ gelehrt wird.
Zeitsprung:
Als sich Japan auf amerikanischen Druck 1853 dem Welthandel öffnete, folgte im Westen bald eine Japanbegeisterung, die sich auch in den Künsten zeigte. Das berühmte Selbstporträt mit abgeschnittenem Ohr von Vincent Van Gogh (1853–1890) im Rijksmuseum zeigt im Hintergrund zwei Japanische Holzschnitte, die sich der Künstler an die Wand gepinnt hatte. Van Gogh und Manet, die Künstlergruppe Nabis und die Wiener Klimt und Schiele, sie alle verdanken dem Ukiyo-e viel und prägten den künstlerischen Aufbruch in die klassische Moderne, den Exportschlager der bildenden Kunst Europas im beginnenden 20. Jahrhundert. Während der Holzschnitt in Japan durch die Fotografie verdrängt wurde, feierte er im Westen Erfolge. Erst eine Ausstellung der Galerie „Der Sturm“ mit expressionistischen Holzschnitten sollte in den späten 1920ern neue Impulse für das Medium in Japan setzen. Die Ausstellung führte zu zahlreichen Neugründungen von Kunstschulen im Meji-Reich und initiierte eine neue Bewegung, die „Sôsaku Hanga Undô“ (kreative Druck-Bewegung), die das Genre des Holzschnitts wieder belebte.
Die Inspiration ist ein seltsames Tier, scheu scheint sie, auch kommt sie selten auf Zuruf. Eine Charakteristik ist ihr allerdings nicht abzusprechen, sie scheint sich zwischen den Kulturen wohl zu fühlen und hat dem Holzschnitt viel zu verdanken.