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Katharina Sommer

I wie Identitätsstiftende Architektur

Abstammend vom lateinischen Wort idem (derselbe, dasselbe) bedeutet Identität unter anderem das Zugehörigsein oder sich Zugehörigfühlen in einer Gruppe oder Gesellschaft. Im Sinne der kulturellen Identität entsteht dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Kollektiv durch Gemeinsamkeiten wie Bräuche, Sitten, Sprache oder Religion, welche die jeweilige Gruppe von anderen unterscheidet.

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Gerd Reinhold bezeichnet Identität als „das Gesamt der Antworten auf die Frage: Wer bin ich? Wer sind wir?“ Ähnliches fragten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Neuankömmlinge in Eretz Israel, wie das Land von seinen jüdischen Bewohnern bis zur Staatsgründung Israels genannt wurde. Um die 450.000 Juden zogen in dieser Zeit dorthin, getrieben von der Sehnsucht nach dem historischen Heimatland und der Vision vom Neubeginn im eigenen Staat, auf der Flucht aus der alten Heimat vor Unterdrückung und Gewaltherrschaft. Dieser Neubeginn stellte die bunt zusammen gewürfelte Gesellschaft verschiedenster Herkunft jedoch vor eine grosse Herausforderung. Das alle verbindende Element war zunächst nur die Religion. Hinzu kam das Paradox, dass sich die Ankömmlinge an einem ihnen fremden Wüstenort, welcher in starkem Kontrast zur zurückgelassenen, westlichen, meist grossstädtisch geprägten Heimat stand, zu Hause fühlen sollten. Denn die Zionisten sahen die Umsiedlung nicht als eine Auswanderung, sondern als Rückkehr in das Land der Väter. Ihre Vision war es, in einem neuen Staat ein neues Volk mit einer neuen Identität aufzubauen.

In der Frage, wie im alten Vaterland diese neue jüdische Identität entstehen sollte, herrschten zwei unterschiedliche Ansichten. Die Kulturzionisten sprachen sich für eine Orientierung des jüdischen Volkes an Palästina und dem Festhalten an alten Traditionen sowie Werten aus. Einen ersten Schritt in Richtung dieses Ziels erreichten sie mit der Etablierung des bis dahin nur für liturgische Zwecke verwandten Hebräisch als Landessprache. Im Gegensatz dazu sahen die Anhänger des von Theodor Herzl begründeten politischen Zionismus die Lösung in der Gründung eines Staates nach westlichem Vorbild: „Wir werden nie zugeben, daß die Rückkehr der Juden in das Land ihrer Väter ein Rückfall in die Barbarei sei. Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber außerhalb, in einem kulturfeindlichen, wilden Asiatentum.“ Herzl hatte bereits 1902 in seinem utopischen Roman Altneuland die Vision eines westlich ausgerichteten Judenstaates entwickelt.

Der gewählte Weg war schliesslich nicht einer der Assimilation, sondern des Neubeginns. Tel Aviv, zu deutsch der „Frühlingshügel“, sollte als erste jüdische Stadt mit jüdischer Selbstverwaltung die Keimzelle des 1948 gegründeten Staates Israel werden. Ähnlich der Frage: In welcher Sprache sprechen wir?, mussten sich die Architekten bei der Planung dieses zionistischen Projekts fragen: In welchem Stil bauen wir? Weder gab es historische Referenzen aus der Zeit der alten Hebräer, noch hatten die Einwanderer nach 2000 Jahren Abwesenheit einen Bezug zum Land ihrer Väter. Wie sollte daraus ein nationaler, identitätsstiftender Architekturstil geschaffen werden?

Die Zeit von der Gründung Tel Avivs 1909 bis in die Zwanziger Jahre war zunächst vom Eklektizismus geprägt, ein Umstand, der das Suchen nach architektonischer Identität und das Schwanken zwischen alter und neuer Heimat verdeutlicht. Das Stadtbild Tel Avivs zeigte sich somit anfangs noch als eine Ansammlung verschiedenster, individueller Architekturstile, welche von den unterschiedlichen Gewohnheiten und Vorlieben ihrer Erbauer und Bewohner zeugten. Die Selbstverständlichkeit, mit der dabei ungeachtet des heissen Klimas und sandigen Bodens die mitgebrachten Baugewohnheiten angewandt wurden, mag einem heute beinahe naiv erscheinen. Während einer Rede in Berlin äusserte sich der Kulturzionist Martin Buber dazu wie folgt: „Sie [die Araber] besitzen etwas, was man die palästinensische Form nennen darf. Die Lehmhütten der Fellachendörfer sind aus dem Boden geschossen, die Häuser von Tel Aviv sind ihm aufgesteckt.“

Im Gegensatz zu der noch individuell geprägten Architektur der beiden Gründerjahrzehnte, entstand nördlich davon, aufbauend auf einem Masterplan, bis zum Ende der 1940er Jahre die sogenannten „Weiße Stadt“ als einheitliches Bauensemble im Stil der Klassischen Moderne. Die radikal reduzierte, funktionale Architektur setzte sich mit der Einwanderung zahlreicher jüdischer Architekten durch, die zuvor an europäischen Universitäten wie dem Bauhaus gelernt und für Architekten wie Le Corbusier oder Mies van der Rohe gearbeitet hatten. In Bezug auf die Architektur Tel Avivs dieser Zeit wird meist vom „International Style“ oder dem „Bauhausstil“ gesprochen. Wichtige Elemente dieser Architektur waren unter anderem eine „funktionale Ornamentik“, der Verzicht auf Farbe, Flachdächer, das Anheben der Gebäude auf Stützen und Bandfenster. Nicht zuletzt die Nationalsozialisten in Deutschland bekämpften diese neue, avantgardistische Architektur vehement als Ausdruck eines „undeutschen“ Baustils, denn „international“ war für sie gleichzusetzen mit dem Aufgeben von Nationalem und Traditionellem. Für die immigrierten Architekten hingegen war der International Style Ausdruck von technischer Moderne, Neubeginn und westlichem Rationalismus, mit dem sie sich im Sinne des politischen Zionismus gegenüber den vorgefundenen arabisch-osmanischen Bautraditionen abzusetzen vermochten. Die Formensprache liess sich zudem hervorragend an die klimatischen wie topografischen Bedingungen vor Ort anpassen und relativ kostengünstig mit den dort vorhandenen Materialien umsetzen. Die geschichtslose, neutrale, lediglich zweckorientierte Architektur fungierte dabei als Instrument zur Schaffung einer neuen Gesellschaft sowie – obwohl dieser Stil gerade das Nationale zu überwinden trachtete – nationalen Identität. Wie die emigrierten Juden hatte der von den deutschen Nationalsozialisten diskreditierte Baustil damit ein neues Zuhause gefunden und markierte auf der Tabula rasa der Sanddünen den Neuanfang Israels.

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Tel Aviv, 1909 als Vorort mit 300 Siedlern nördlich des arabischen Jaffa geplant, wurde zum Zentrum der jüdischen Immigration und zählte knapp 40 Jahre später bereits etwa 230.000 Einwohner. In den 1960er Jahren ging das Interesse an der „Weißen Stadt“ schliesslich verloren und durch Umbauten, mangelnde Instandhaltung sowie den Wegzug der Bewohner in attraktivere Vororte setzte der langsame Verfall des Stadtteils ein. Erst die 1984 im Tel Aviv Museum of Art gezeigte Ausstellung „A White City“ liess das Bewusstsein für dieses bauliche Ensemble erwachen. Im Jahr 2003 wurde die „Weiße Stadt“ zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt und wird seither auch als das grösste „Bauhaus Freilichtmuseum der Welt“ vermarktet. Für den jungen Staat bedeutet die „Weiße Stadt“ und deren Aufnahme in die Weltkulturerbeliste außergewöhnlich viel. Sie liefert Israel ein Stück nationale, gebaute Geschichte, sie liefert erstmals eine Identität zum Anfassen. Das Bewusstsein für dieses kulturelle Erbe etabliert sich während der letzten Jahre erst zögerlich, ist es doch neben der geschriebenen Geschichte, Religion und Diasporavergangenheit eine in Israel noch neuere Form der identitätskonstituierenden Selbstverständigung.

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Wer heute nach Tel Aviv reist, wird im übrigen schnell feststellen, dass auf die Frage Was kochen wir? zum Glück bis heute keine allgemeingültige Antwort gefunden wurde. Vielleicht finden Sie sich nach einem Spaziergang durch die „Weiße Stadt“ ja in einem Kaffeehaus beim Apfelstrudel wieder, ein Überbleibsel der aus Österreich eingewanderten Juden, und nur eines von vielen multikulturellen Zeugnissen, die in ihrer Diversität von einer ebensolchen Identität zeugen.

  • Ita Heinze-Greenberg: Europa in Palästina. Die Architektur des Zionistischen Projekts 1902–1923, gta Verlag, 2011.
  • Winfried Nerdinger: Tel Aviv Modern Architecture 1930–1939, Wasmuth Verlag, 1994.
  • Tom Schoper: Zur Identität von Architektur. Vier zentrale Konzeptionen architektonischer Gestaltung, transkript, 2010.