Hochsitz-Folge 6:
Zusammengefügte Zerstreuung
Die Künstlerinnen Selina Hofer und Elisa Schiltknecht starten vom Hochsitz aus den Versuch, zeichnerisch und schreibend die Zerstreuung wieder zusammenzufügen. Während dem Radioballet von LIGNA befragen sie den Perspektivenwechsel und Strategien, wie sie sich aus einer räumlichen Distanz dem Spektakel annähern können.
Auf dem Schwamendingerplatz tanzt das Publikum. Über Kopfhörer erhält es Anweisungen: Es wird unter den eigenen Achseln oder Schuhen gerochen. Dann nach Rechts gedreht, wenn man Rechtshänderin ist, nach Links, wenn man Linkshänder ist. Dazu wird tief ooohmmm gesummt, wenn man eine Schwester hat und die Schuhe werden in die Luft geworfen, wenn man jemals einen gebrochenen Knochen hatte. «Zerstreuung überall!» heisst dieses Radioballett der Gruppe LIGNA. Wie haben sich unsere Körper, wie haben sich die Gesellschaften in dieser Zeit der globalen Bedrohung durch die Pandemie verändert? Diese Frage hat LIGNA dreizehn internationalen Künstler*innen gestellt und sie um einen gesprochenen choreografischen Beitrag gebeten. Elisa Schiltknecht und Selina Hofer sitzen auf dem Hochsitz oder stehen Abseits. Für sie ist die Geräuschkulisse des Schwamendingerplatzes alles was sie hören. Was für eine Dynamik entsteht in einer Gruppe aus verschiedensten Identitäten, die sich zerstreut zu einem temporären Kollektiv verbindet? Selina Hofer hat geschrieben und Elisa Schiltknecht hat gezeichnet.


Es ist 20 Uhr.
Distanz.
Vorsorgliche drei Meter.
Das eigene Ich sollte sich nicht in der Ekstase des Spektakels mit dem deinen Du verbinden.
Auch keine Streifberührungen.
Ein Platz der Stehende vereint.
Nähe schafft.
Über gemeinschaftlich Gehörtes.
Blicke hin und her.
Der schnelle Krankenwagensound wird gerade nicht in die Aufmerksamkeit der Hörenden aufgenommen.
Eine verbindende Abkapselung.
Kinder verstehen Distanzen nicht.
Durch die eigenen Hände geflossenes Wasser wird an fremde Menschen gespritzt.
Ein Bissibrunnen.
Von Füsse waschen bis Münder füllen.
Zeigt her eure schmutzigen Hände.
Wir haben sie alle gemeinsam und doch sind sie gefährlich.
Achtung Achtung!
Und nun weg vom Fokus.
Stehen.
Auf Pflastersteinen.
Weg.
Weg.
Weiter weg.
Und verwirrt ausgeschlossene Kinder.
Doch da ist noch ein Fussball.
Kick.
Kick.
Klick.
Klick.
Bilder für die zukünftig distanzierte Erinnerung an einen Moment mit scheinbar nah Fremden.
Rieche deinen Achselduft.
Verbinde dich mit ihm.
Er ist dein.
Einzigartig nah.
Umhüllend fern.
Take off your clothes.
Don’t be so shy.
Was klebt denn an deinen Füssen?
Und fühl dich selbst.
Engelhaft.
Bezaubernd.
Umhülle dich mit Lob.
Dein Lob für dich und deinen Körper.
Du bist dir selbst am nächsten.
Du bist dein selbst.
Egal wo.
Egal unter welchen Umständen.
Oder ist dir manchmal jemensch näher als du dir selbst?
Privilegiertes Zusammensein.
Ein Platz.
Ein Wissen um den Anlass.
Eine bestimmte Zeit.
Fühl das Pokemon in dir.
Der Mond ist auch wieder bei uns.
Unter uns.
Telenovelas.
Aufgrund eines Unfalles kann ich mich nicht hinlegen.
Steissbeinbruch.
Zwei Knochen die getrennt sind.
Keine Funktion.
Ausser Betrieb.
Geschlossen.
Ausgeschlossen.


Flickenteppich mit Laufmaschen.
Laufmaschen die wie Hände zum Himmel etwas unsichtbares einschliessen.
Imaginierte Erfüllung.
Eine Lindorkugel ohne Füllung.
Hey!
Hey!
Die macht mit obwohl sie keine Kopfhörer auf ihren Ohren sitzend hat.
Hey, ich finds nicht okay.
Fünf Räder und ein bellender Hund scheinen mit dem routinierten Rhythmus nicht mitgehen zu wollen.
Ausgerissene.
Ausgewiesene.
Verlorene.
Unangekommene.
Wie ging das nochmals mit der Willkommenskultur?
Kunstblase?
Seifenblase, ganz ganz viele die ab einer gewissen Höhe Exklusivität für sich beanspruchen.
Liege mir zu Füssen.
Meisterin Hora.
Die Zeit schwindet.
Die uns vereinende Zeit.
Andere Zeit?
Keine Zeit?
Andere Galaxie.
Schaut nicht so verwirrt.
Ich habe meine sinnlichen Sensoren auf Wassergeplätscher, Spelunkengespräche, dem Öffentlichen Verkehr und eure vereinenden Militärmarschgeräuschen fokussiert.
Im Gegensatz zu euch achtzig Menschen höre ich keine Liftmusik die mich in den Wahnsinn des gleichgeschalteten Gehens katapultiert.
Oder liege ich falsch?
Ich behaupte nämlich gerne.
Ich behaupte zu wissen welche Musik ihr hört.
Wieso ihr alle das selbe am selben Ort tut.
Jedoch weiss ich nichts.
Ausser was ich sehe.
Das ist aber ein Bruchteil.
Ich bin mit euch.
Mit euch alleine.
Gut ich habe die Ehre euer verpatzter Gleichtakt zu hören.
Ich möchte eigentlich nicht.
Bitte.
Bitte.
Bitte.
Bitte gebt mir doch Kopfhörer.
Anmelden hätte ich mich im Voraus müssen.
Von diesem internationalen Zusammenarbeiten zu einem Audiospektakel, dieser sich nicht vor Ort befindenden Kunstschaffenden,
davon hätte ich wissen müssen.
Vorher.
In schon vergangener Zeit.
Welche mich nun von eurem Schuhe in die Luft werfen in den Genuss von nicht Teilnehmenden und lachenden Personen bringt.
Zeitliche Verzögerung.
Die des auffälligen aus der Reihe tanzen.
Oh da bekommt ein Kameramensch virtuelle Nachrichten.
Digitale Zusammenkunft.
Und eine Frau die zu Füssen des Hochsitzes ihren wohligen Ort des Kuchelns gefunden hat.
Pflanzen haben keine Nerven.
Autofahrer auch nicht.
„Hey du Arsch!“
Beleidigungen schaffen ungewollt persönliche Begegnung.
Berührende Distanz.
Ich habe sie beobachtet und sie mich plötzlich berührt.
Eine Frage und da war ich plötzlich noch so dabei.


Krause Haare Mensch hebt sich durch seine präzis zackige Ausführungen etwas vom Boden ab.
Oder vielleicht taucht es mehr ins Magma des Vulkanes ab.
Materie.
Mit einem Austausch teilen wir Materie.
Entgegen des Konsums.
Der Hund will auch.
Ein Poulet mit Senfmarinade.
Ein Gügeli oder Gügel.
Das verbindet morgens akustisch auch ohne zu sehen.
„Yeah“
Mein Abschweifen findet bei dem hiesigen Publikum anklang.
Mercimerci.
Ich wollte mich schon fast für mein Fliegen in andere Relationen entschuldigen.
Hände hoch.
Peng Peng.
Kind, liebes Kind, daran ist gar nichts lustig.
Dein Empathie-Vermögen wird sich irgendwann noch entwickeln.
Dir vielleicht Unbeschwertheit nehmen doch gesellschaftliches Existieren geben.
Brünnen auf Plätzen ist ein übliches Gut.
Habt ihr wohl ein vergleichbares Gefühl von Durst wie ich?
Wie fühlt sich dein Durst an?
Der eine Mensch sieht ganz ähnlich aus wie jemensch den ich kenne.
Ich fühle mich ihm vertraut.
Mehr als der Person mit gelbem Mantel.
Das scheinbare bekannt sein durch die Übertragung von Bekanntem auf Unbekanntes führt zum Gefühl des Vereint seins.
Gleiches Wissen.
Gleiches Tun.
Gleiches Hören.
Gleichmarsch.
Und wir sind eine Gemeinschaft?
Drei orange Pilze und der bellende Hund.
Ein „schluss jetzt“.
Und wir sind weg.
Zusammengefügte Zerstreuung.
Ein paar sind schon vor Minuten ausgestiegen.
Das Kleine Mädchen turnt noch unter der Bank.
Wir winken uns zu.


Spezialausgabe
Trading Identities
Elisa Schiltknecht *1994 und Selina Hofer *1995, leben und arbeiten in Bern. Sie sind Künstlerinnen und Kunstvermittlerinnen; unter anderem für die Ausstellungsreihe Connected Space.