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Eva Wittwer

Grenzerfahrung, Ende

Eine Betrachtung zu Teresa Vittuccis Stück «Hate Me, Tender», das Anlass zur Hoffnung auf einen neuen Anfang gibt.

Vorhang zu, das Stück ist zu Ende, Applaus. Die symbolischen Grenzen, welche die sprichwörtliche vierte Wand zwischen dem Publikum und den Darstellenden zieht, fällt.

Das Licht geht an und plötzlich sind die bunten Charaktere verschwunden, die Masken abgelegt. Die Schauspieler dahinter kommen zum Vorschein. Während des Stücks wurde man als Zuschauer/in kurze Zeit in eine andere Sphäre transportiert, der Blick war auf das Bühnengeschehen gerichtet: Die Aufführung, in welcher Form sie auch erscheinen mag, hat die Aufmerksamkeit gefordert. Der Fall des Vorhangs löst oft verschiedenste Gefühle aus: Rührung, Zufriedenheit, Tatendrang, Erschöpfung, Erleichterung.

Bei Teresa Vittuccis Performance «Hate Me, Tender» ist es vor allem Unbehagen. Das liegt nicht daran, dass Teresa Vittucci in diesem Stück erbarmungslos alle Grenzen des Theaters auslotet. Dass sie ihren eigenen Körper einen schmerzlichen Grat zwischen Bestrafung und Extase entlang jagt und dem Publikum so gleichzeitig Gefühle der Faszination und des Terrors abringt. Das Gefühl des Unbehagens hat vor allem mit dem Ende zu tun, das zum viellicht stärksten Moment des Stücks wird. Der Moment, in dem die Grenze zwischen Performance und einfachem Dasein durch den symbolischen fallenden Vorhang markiert wird, ist schmerzhaft intim. Vor einem steht nicht mehr die nackte Performerin, der alles erlaubt ist, die auf der Bühne alle Barrieren sozial akzeptabler Handlungsweisen durchschlagen kann und mit Reizüberflutung spielt. Vor einem steht plötzlich eine blutende Frau, in ihrer nackten Existenz, und man weiss nicht recht, wie man sich jetzt verhalten soll. Sie lächelt, also dröhnt der Applaus, wie es sich gehört. Das Schauspiel, die Performance ist vorbei, die Frau, die sich nur vor wenigen Minuten schmerzhaft verdreht und selbst geschlagen hat, hat sich nicht verändert. Doch der Kontext ist ein ganz anderer. Die atmosphärische Szenenbeleuchtung ist grellem Scheinwerferlicht gewichen, das Als-Ob des Spiels ist schmerzhaft real geworden.

Das Versprechen auf einen Einblick in eine faszinierende, aber gleichzeitig schreckliche Welt ist vielleicht das, was viele überhaupt dazu treibt, sich mit schweren und unbehaglichen Themen auseinanderzusetzen. Es drängt sie dazu, sich ein Stück anzuschauen, bei dem sie schon ahnen, was sie erwartet. Sie suchen, so könnte man sagen, die Konfrontation. Theater- und Performancestücke, vor allem solche, die von Mitgliedern marginalisierter Gruppen aufgeführt werden, bieten einen Weg, sich im Stellvertretermodus mit realen Problemen und Dilemmata auseinanderzusetzen, welche diese Menschen bewegen und bewegt haben. So sind diese Aufführungen häufig geprägt von Erfahrungen, die von denen der «Mehrheitsgesellschaft» abweichen. Menschen hingegen, deren Körper der historisch und gesellschaftlich etablierten «Norm» entsprechen, die deshalb nicht marginalisiert wurden und werden, müssen sich ihre Stimme nicht erarbeiten, sondern besitzen bereits Autonomie. Sie sind das Publikum.

Es ist wichtig, Bühnen, Mikrofone, Leinwände denjenigen zur Verfügung zu stellen, die neue Standpunkte und Perspektiven in globale Konversationen einbringen können. So kann gleichermassen eine Aufarbeitung kollektiver und individueller Geschichte passieren. Wenn die Erfahrungen und Erlebnisse anderer in uns kein Unbehagen mehr auslösten, müssten wir auch keine Angst vor dem Ende einer Performance mehr haben. Wir müssten uns nicht mehr vor dem Vakuum der Handlungs- und Machtlosigkeit fürchten, das ihr folgt. Der Drang, einzugreifen, der am Ende einer Performance manchmal übergross wird, würde sich in reale Handlungen und die Übernahme von Verantwortung in unserer Lebenswelt übersetzen. Wir wären sensibel für die Erfahrungen und Anliegen, die in Diskursen um race, class oder gender thematisiert werden, und die auch Performerinnen wie Teresa Vittucci in ihren Stücken verarbeiten. Das Ende wäre dann kein Ende, sondern ein neuer Anfang.