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Damian Christinger

Globalisierung ist eine Frage der Perspektive

Im dystopischen Roman «Lawrence und wir» von Jochen Beyse (2015) verlieren sich die Wanderarbeiter einer unbestimmten Zukunft in endlosen Zeltstädten und malochen auf riesigen Feldern, in Aluminiumhallen und unter Tage. Die Plackerei ohne Sinn wird einzig durch die Abende gemildert, die von den Arbeitern dazu verwendet werden, ein Spiel auf ihren mobilen Geräten zu spielen, das sie alle miteinander verbindet. Eine postmigrantische Gesellschaft gefangen in Trostlosigkeit und Abhängigkeit.

Wer durch die riesigen Anbauflächen, Spaniens, Siziliens oder Marokkos der Gegenwart streift, dem wird diese dystopische Schilderung weniger als Science-Fiction denn als Erzählung der Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft erscheinen. Die Frage, die sich aus kulturhistorischer Perspektive stellt, ist die, ob dies denn nur Gegenwart und Zukunft beschreibt, oder auch mögliche Vergan­genheiten, abhängig von der Perspektive derer, die sie beschreiben. Die Kulturgeschichte hat die zahlreichen Zeugnisse, die uns zum Beispiel die Arbeiter auf den Plantagen König Leopolds II. von Belgien im Kongo zwischen 1885 und 1908, beim Bau der Eisenbahn oder auf den Baumwollplantagen im Süden der USA vor 1865 oder jener in den Plantagen Javas vor 1945 hinterlassen haben, noch nicht mal ansatzweise ausgewertet (auch wenn es natürlich löbliche Pionierleistungen gibt). Diese Stimmen würden unser Bild von Arbeit, erzwungener Migration und der Globalisierung unter den Bedingungen des kolonialen Wirtschaftsraums im 19. und 20. Jh. wesentlich ergänzen und unseren Blick auf den zeitgenössischen Diskurs in unserer Hemisphäre bezüglich Migration und Globalisierung schärfen.

 

Aufbruch in die Welt und das Wachsen der ökonomischen Kluft

Natürlich war auch der Westen im 19. Jh. von Migration geprägt, auch wenn hier vor allem das Motiv des Aufbruchs aufscheint und weniger das der Verschleppung. Jürgen Osterhammel schreibt dazu in seinem bahnbrechenden Werk «Die Verwandlung der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts»: «Im 19. Jh. erfasste Fernmigration den grössten Teil Europas und verschiedene Länder Asiens. Überall war sie ein prägender gesellschaftlicher Faktor. Ihr Antriebsmotor war der Arbeitskräftebedarf einer expandierenden kapitalistischen Weltwirtschaft. Migration betraf viele Berufe, viele Schichten, Frauen und Männer. Sie verknüpfte materielle und immaterielle Motive. Kein Auswanderergebiet und kein Einwanderungsland blieb unverändert.» Die Möglichkeiten des Aufbruchs in die Welt, um z.B. in Brasilien, den USA oder Australien eine bessere Existenz aufzubauen, waren besonders auch in der Schweiz verlockend, das damals noch ein klassisches Auswanderungsland war.

Das 19. Jh. war aber auch jene Zeit, in der die ökonomische Kluft zwischen dem Westen und dem globalen Süden aufzuklaffen beginnt. Kenneth Pommeranz zeichnet dies in seinem Buch «The Great Divergence – China, Europe and the Making of the Modern World Economy» beispielhaft an China nach. Das Hauptaugenmerk seiner Analyse liegt dabei auf der beginnenden Industrialisierung und den Lagerstätten sowie der Zugänglichkeit von und zu Kohle, die das Holz als Brennstoff für den Weltwirtschaftsmotor ersetzte. Dies und die Erträge aus dem Handel mit den Amerikas sowie die ungleichen Möglichkeiten, die das koloniale System des Welthandels mit sich brachten, führten dazu, dass sich die Wirtschaft und der Wohlstand ungleich entwickelten. Dass diese Entwicklung eben auch dem Kolonialismus geschuldet war, zeigt das Beispiel Japan überdeutlich, das selber nie kolonialisiert wurde, sondern dank Turbo-Industrialisierung und ungeheurem Wachstum in der Produktivität selbst zur Kolonialmacht wurde und so, trotz der Katastrophe des pazifischen Krieges, im 20. Jh. zu einer der zehn grössten Volkswirtschaften wurde.

Dieser kurze Exkurs in die Geschichte ist wichtig, wenn wir diskutieren wollen, wie sich der Globalisierungsbegriff, das Thema der Migration als integraler Bestandteil desselben, im globalen Süden und im Westen unterscheidet. Während der Begriff «Globalisierung» im Westen vorwiegend auf den freien Handel und den freien Fluss des globalen Kapitels bezogen wird, versteht ihn der globale Süden als korrigierende Bewegung, die das Ungleichgewicht, das mit dem 18. Jh. einsetzte und sich durch das 19. und 20. Jh. verstärkte, zum Verschwinden bringen wird. Dies führt dazu, dass die Globalisierungsbegeisterung der Intellektuellen im globalen Süden bei uns im Westen auf grosses Unverständnis trifft.

 

Unterschiedliche (Be-)Wertungen des Globalisierungsbegriffs

In den Büchern von Kishore Mahbubani, einem Politikwissenschaftler und ehemaligen Botschafter aus Singapur, wie zum Beispiel «The ASEAN Miracle» (2017), scheint eine andere Wertung des Globalisierungsbegriffes auf. Natürlich prophezeit er eine Verschiebung der globalen Machtverhältnisse hin zu Asien und kritisiert die Überheblichkeit des Westens (inklusive des Versuchs, Demokratie als universelle Staatsform zu exportieren), aber sein Hauptaugenmerk liegt auf den neuen Formen von Kooperation zwischen den Ländern, wie eben im ASEAN-Raum, und den Hoffnungen der Jugend in diesem Raum, die Globalisierung im Zusammenhang mit der Digitalisierung zu verstehen, deren Verschränkung die Zukunft öffnen soll. Dies beleuchtet gleich zwei Aspekte, die in der öffentlichen Diskussion zum Thema Migration und Globalisierung im Westen kaum auftauchen: Demografie und Digitalisierung. Der Westen und Japan werden immer älter, der globale Süden ist von der Jugend geprägt, die aufbrechen will, ähnlich der Situation im Europa des 19. Jh. Und es verweist auch auf zwei Missverständnisse, die in der Diskussion im Westen vorherrschen. Der Glaube, dass die verschwindenden Jobs der globalen Migration geschuldet seien und dass Migration eine Bewegung des Südens gegen den Norden darstelle. Diese unterschiedlichen Bewertungen des Begriffes Globalisierung verhindern eine transkulturelle Auseinandersetzung und Diskussion zu den Implikationen der Migration. Wenn wir die Globali­sierungsbegriffe des Westens und des globalen Südens zusammen diskutieren würden, wäre ein zukunftsgerichtetes Denken möglicher. Der Westen hat noch nicht einmal ansatzweise begriffen, was dies heissen könnte. Die Globalisierung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Bedeutungsverlust des Westens und des westlichen Denkens führen, die demografische Entwicklung wird diesen Prozess beschleunigen, die Klimaveränderungen, die heute als sehr wahrscheinlich angenommen werden müssen, werden ganz neue Formen der Migration erzeugen, und die Rolle des Individuums und der Wert der Arbeit werden sich im Fortgang der digitalen Revolution radikal verändern. Martin Burckhardt schreibt dazu in seiner klugen Analyse zum Verschwinden des Intellektuellen in Europa und der Unmöglichkeit, zwischen den Zeilen einer digitalen Herrschaftsgrammatik lesen zu können: «Denn diese Machtaggregate produzieren nichts mehr, sondern stellen Sozialplastiken dar, bei denen die Mitglieder das eigentliche Produkt sind. Imaginieren wir den Extremfall eines solchen Gebildes, wäre eine Gesellschaftsmaschine vor­stellbar, die (wie Google) weiss, wo den Menschen der Schuh drückt, die (wie Facebook) Hunderte Millionen von Menschen miteinander verknüpft, sie mit allen erdenklichen Gütern beliefert (wie Amazon), mit den entsprechenden mobilen Gadgets bestückt (wie Apple), sie mit einem Betriebssystem, mit Filmen, Videotelephonie und Cloudleistungen versorgt (Microsoft) etc. Bei alledem sind die Daten, welche die Menschen in die Datenbanken eingespeist haben, die eigentliche Ressource – eine Ressource, wohlgemerkt, die nicht als res publica gilt, sondern als privater Besitz.»

 

(Dystopischer) Ausblick

Diese algorithmischen Entwicklungen stehen in einem pointierten Gegensatz zu den gegenwärtigen politischen Tendenzen, bei denen der saturierte Westen aus Angst vor Migration auf Nationalismen setzt, während der globale Süden die Beziehungen untereinander und den globalen Handel sowie eine Nivellierung des Wissens anstrebt. Die dystopische Zukunftsvision, die Jochen Beyse in «Lawrence und wir» so scharfsinnig auf die Gegenwart proji­ziert, sind ja schon lange Wirklichkeit: auf den Feldern in Kalifornien und den Palmölplantagen in Indonesien, Heerscharen von austauschbaren Arbeitern manifestieren sich in China und Dubai, in Moskau schlagen sich Gelegenheitsarbeiter aus Tadschikistan, Tschetschenien und Georgien durch, während Zwangsarbeiter aus Nordkorea Stadien für das internationale Spektakel Fussball bauen, alle beobachtet und quantifiziert durch den algorithmischen Blick der digitalen Maschine.

Wenn wir Zeitgenossenschaft, wie dies Peter Osborne vorschlägt, als gleichzeitiges Denken von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft verstehen, dann tun wir gut daran, die Globalisierungsbegriffe, die sich im globalen Süden herausbilden, ernst zu nehmen, Migration wird dort weniger als Krise und Ausnahme verstanden, sondern als Dauerzustand, der sich unter dem Druck des Anthropozän und der digitalen Revolution neu manifestiert. Hat die industrielle Revolution das koloniale Gefälle zwischen dem Westen und dem Rest der Welt zementiert, so nivelliert die Globalisierung diese wieder aus und es bleibt uns überlassen, ob wir dies als dystopische Vision, Analyse der Gegenwart oder Möglichkeit für die Zukunft begreifen.

 

Quellen

Beyse, Jochen (2015): Lawrence und wir. Berlin/Zürich: Diaphanes.

Burckhardt, Martin (2016): Geisterdämmerung: Zum Verschwinden des Intellektuellen im Posthistoire, in: Lettre International 115: 31–36.

Mahbubani, Kishore und Jeffrey Sng (2017): The ASEAN Miracle. Singapur: NUS Press.

Osborne, Peter (1995): The Politics of Time: Modernity and Avant-Garde. London: Verso.

Osterhammel, Jürgen (2011): Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jh. München: C.H.Beck.

Pomeranz, Kenneth (2000): The Great Divergence: China, Europe and the Making of the Modern World Economy.

Princeton/Woodstock: Princeton University Press.

Der Text erschien erstmals in swissfuture 02/17