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Julia Kohli

Gestrandet — Żoliborz. Wie es ist, an den Ferienort der Kindheit zurückzukehren

Ich stehe mit M. auf einem Grashügel. Um uns herum ragen Plattenbauten aus einem Meer duftender Lindenbäume. Wir sind im nördlichen Stadtteil Warschaus, der sich an die gemächlich fliessende Weichsel schmiegt. Żoliborz, der Quartiername, soll dem französischen joli bord für schönes Ufer zu verdanken sein. Meine Schwester und ich wurden früher öfters hier abgeladen – nahe an der Autobahnausfahrt, in der Wohnung unserer Grosseltern. Diese freuten sich sehr, uns mit Liebe und Essen zu verwöhnen. Sie hatten den Verdacht, beides könnte in der Schweiz Mangelware sein.

Das ist lange her. Meine Grosseltern leben nicht mehr. Und jetzt komme ich tatsächlich hierhin zurück, hier wo es zwar genau so zirpt wie in fernen schönen Ländern, von wo aus aber niemand Postkarten versendet. Dass wir in der Wohnung meiner Grosseltern im Plattenbau wohnen, findet M. zum Glück sehr aufregend. Keine Touristen, keine Hipster, Ruhe. Er ist neugierig und ich freue mich, mit ein paar frischen ahnungslosen Augen durch die Pfade meiner Kindheit zu flanieren.

Eifrig weise ich während unseres ersten Spaziergangs darauf hin, wie sich das Quartier entwickelt hat. Die Supermärkte, die neuen sauberen Autos, die U-Bahn-Station. Das gab es früher alles nicht. Primitiv war es im Sozialismus. Warteschlangen vor der Metzgerei, Vietnamesen-Märkte mit gefälschten Levis-Jeans, Piraterie wohin man schaute. Neben schlecht kopierten Nirvana-Kassetten stapelten sich hautfarbene Riesen-BHs. Ich merke, während ich erzähle, dass ich ein anderer Mensch geworden bin, denn ich vermisse das Chaos, das Exotische, die Improvisation – früher hasste ich es. Ich bin schon nahe daran zu behaupten, dass wir doch genau so gut in der Schweiz sein könnten. Bis wir ins Tram einsteigen.

Denn da sind sie schon: die unverfroren glotzenden Einwohner Warschaus. Sofort werden wir gemustert. Helle, Unschuld mimende Augenpaare starren mutig weiter, als ich böse zurückschaue. Sie wandern von Kopf bis Fuss und wieder zurück. Das darf man nicht missverstehen, erkläre ich M.. Ich nenne es die Warschauer Achtsamkeit. Auch wenn die Gesichter griesgrämig sind, weiss ich, dass sie reden wollen, die Leute. Sie bersten beinahe. Man muss sie nur antippen, wie Springkraut, schon zerstäuben sie ihre Meinung über Politik, Wetter, ihre Krankheiten. Das Risiko sich den Tag zu verderben, ist gross. Meine Mutter forderte einst eine alte Antisemitin zum Duell heraus, seither hat sie die Tram-Diskussionen aufgegeben. Ich dagegen hoffe kampflustig, dass jemand über uns zu lästern beginnt, da wir eine Fremdsprache sprechen. Doch niemand tut es – jetzt wo ich endlich bereit dazu wäre.

Wir steigen bald aus und betreten einen kleinen Park voller Obstbäume, der sich ebenfalls entlang der Plattenbauten erstreckt. Die Bewohner sammeln hier manchmal schon im Spätsommer Äpfel und Birnen. Die Früchte hängen dann sehr tief, da die Bäume niedrig sind. Ab und zu huschen fette Eichhörnchen vorbei. Sie zucken, halten inne, und warten darauf gefüttert zu werden. Es wird immer eine alte mit Sonnenblumenkernen ausgerüstete Dame dastehen, die einem dieser orangebraunen Büschel ihre Gabe hinstreckt. Kaum habe ich es gedacht, sehe ich schon die erste Eichhörnchen-Flüsterin. Bazia, bazia! Ruft sie. In Polen gibt es einen eigenen Eichhörnchen-Ruf.

Die Bodenplatten auf den Wegen sind unregelmässig. Feiner mit Lindenblütenstaub vermischter Sand quellt aus den Ritzen und klebt nun als feine Schicht an unseren Turnschuhen. Wir schlendern eine stark befahrene Strasse entlang und nähern uns einem improvisierten Himbeerstand. Wir kaufen keine, da sie kiloweise angeboten werden. Wir haben keine Zeit für Konfitüre. Wir taumeln noch etwas in der Erinnerung des süssen, lieblichen Geruchs, als wir an der nächsten Hauswand ein krakelig hingemaltes Hakenkreuz erblicken. Frisch ist es nicht, ich schätze es auf zwanzig Jahre. Mein Freund lästert über die fehlende Graffiti-Kunst der Polen. Aus dieser Perspektive hatte ich das noch nie gesehen.

Die Geräusche der Nacht haben sich auch nicht geändert, stelle ich später fest. Besoffene Hooligans keifen um drei Uhr früh unter dem Fenster. Ich sehe von hoch oben, wie sie betrunken an einem Auto rumwerkeln. Klauen sie es? Mir egal. Ich lege mich wieder ins Bett und lausche dem Hundebellen, das ich aus meiner Kindheit kenne. Es hallt. Unheilvoll. Irgendwo heult eine Sirene auf. Früher beängstigte mich dieses Gejaule – jetzt schlummere ich friedlich weg.

Am nächsten Tag machen wir uns auf ins Stadtzentrum. Richtung Süden. Von Weitem sehen wir einen Bauchtasche tragenden Typen mitten auf der Strasse. Nur Psychopathen, Dealer und Wanderer tragen einen Beutel um den Bauch, hat mir eine Bekannte mal gesagt. Der Mann flucht laut. M. zieht den Reissverschluss seiner Jacke rauf – starrt geradeaus. Der Irre kommt auf uns zu, die Augen wild und zu allem bereit. Als er in seine Bauchtasche greift, überschlägt sich mein Herz. Run! Zischt er. Run! Wir eilen zur Tramstation, steigen in die erstbeste Linie und holen tief Luft. Gerade noch geschafft.

 

Der Text entstand 2018 im Workshop Nr. 6 mit Reportagen.