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Hannah Grüninger

Gedanken liegen bleiben gehen lassen

Ein Essay über Notizen und Gedanken

An der Wand neben dem Bett ist mit zwei Klebestreifen ein weisses Papier befestigt. Format A3. Eine Textstelle von Ludwig Wittgenstein. Kleinbuchstaben mit viel Leerraum gesetzt und ausgedruckt. Die Sätze stehen im unteren Drittel des Blattes. Ich lese sie immer wieder: «2. Benötigt die Zuneigung das Verstehen? Nein. Die Liebe gerät durch das Verstehen in die Dauer, eben also in den Zweifel».

Es ist Freitag. Um zehn Uhr findet die Videokonferenz statt. Ich sitze gegen die Wand gelehnt und bin die Aufnahme einer Kamera. Auf dem Bildschirm sehe ich hinter mir das Blatt Papier mit dem Zitat. Wir reden. Zuerst über die Krise, dann über das Wesentliche – den Text. Das Notizbuch liegt auf meinem Schoss – ein Suhrkamp Taschenbuch mit leeren Seiten, benannt ‹Notizbuch›. Es hat einen schwarzen Einband mit silbrig geprägten Buchstaben. Auf der Rückseite stehen die Worte von Thomas Bernhard: «Notizen zu machen, womöglich mehr als nur Notizen aufzuschreiben…».

Mache ich Notizen oder schreibe ich sie nur auf?

sechster Juli vor zwei Jahren
Barrikade
Man soll es wagen, denn es liegt auf jeden Fall im Rahmen der Machbarkeit.
denkbar schlecht wäre
Ein Glas zerbarst.

Es ist der zwanzigste März. Heute esse ich alleine. Ein Resteessen. Auf dem Tisch steht ein Glas mit sechs roten Tulpen. Eigentlich werden Blumen doch immer ungerade eingestellt. Die Nachbarin hat sie mir gebracht. Sie nahm am Dienstag den Flug nach San José, um der sozial distanzierten Schweiz vorzeitig zu entfliehen. Im Wort Notiz ist Not. Ich ziehe hier auf engem Raum meine Kreise in der Krise. Blick aus dem Fenster. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite steht ein weisser Lieferwagen. Darauf ein roter Schriftzug:

«Notz»
Storen und Rollladen
Sonnen- und Wetterschutz
Garagentore und Antriebe

Gestern Nachmittag haben meine Mitbewohnerin und ich die Küche geputzt. Dabei ist unser Büchlein wieder aufgetaucht, benannt ‹Notes›. Dünner als das von Suhrkamp, der Einband nicht so schlicht, die Buchstaben golden. Die Kohärenz von Notiz-, Tagebuch und einem Briefaustausch. Nichts als Alltagsdinge:

«Einkaufsliste –
Rapsöl
Sojasauce
überlebenswichtiges Wundermittel Coca Cola»
Der erste Eintrag beginnt so: «Sind schnell Brot holen gegangen, bis gleich!» – der bisher letzte endet mit: «Die Gratinform mache ich dann heute Abend». Drei Seiten sind noch weiss.

neunter Januar letztes Jahr
Am Abend fängt es bis in tiefe Lagen wie wild zu schneien an. Ich stehe fröstelnd am Bahnsteig und denke, wie traurig es ist, wenn nicht einmal Schneeflocken uns noch überraschen, da bereits vorausgesagt ist, wieviel Schnee über Nacht fallen soll.

Die Notiz als Vermerk. Sie wird oft schriftlich festgehalten. Das Wort kommt aus dem Lateinischen und steht für Kenntnis, Nachricht, aber auch für kennenlernen oder erkennen. ‹Special Agent› Dale Cooper verwendet ein Diktiergerät, um seiner Sekretärin Diane Evans Tonbandaufnahmen seiner Recherchen in Twin Peaks zu übermitteln. Aus seinen mündlichen Beobachtungen erwähnt er banale Situationen, wie den vorzüglichen Kirschkuchen und die verdammt gute Tasse Kaffee aus dem ‹Double R Diner›.

‹Aide-mémoire› – üblich im französisch diplomatischen Sprachgebrauch – heisst die Notiz ähnliche Niederschrift als Gedankenhilfe oder Gedankenstütze. Sind Notizen blosses Hinauszögern von Gedanken, eine Form des sich Festklammerns? Unter den Notizen auf meinem Computer finden sich Fragmente verschiedener Art und Absicht. Erinnerungen, Einkaufslisten, angefangene Briefe, Adressen, Filmlisten und Prosa. Artefakte, die mir einmal wichtig waren.

zwanzigster November vor vier Jahren
Eiseninfusion, Waschmittel kaufen

zweiter März vor drei Jahren
Diesbach
Bettschwanden
Rüti

dreizehnter Mai in diesem Jahr
Fruchtfliegen sterben in Weissweinessig mit Geschirrspülmittel.

Gedanken konnte man früher auf Setzkästen schreiben, wo Wörter förmlich entstanden und wieder verschwunden sind. Gefaltete Papierstreifen lassen sich in der Hosentasche oder Geldbörse mittragen, bis sie von der Waschmaschine zerstört werden oder so lange der Reibung ausgesetzt sind, dass sie sich von selbst auflösen. Heute erleben digitale ‹Note-Apps› eine Hochkonjunktur. Kultur ist eine Verzögerungstechnik. Möchte ich mich erinnern oder will ich vergessen?

Oft schreibe ich Sequenzen auf, aus denen ich später mehr machen möchte. Aber dazu kommt es kaum. Und doch klammern sie sich an mich, sind Abdrücke meines Lebens. Wie ein Residuum, das mitgetragen wird. Darin enthalten sind Fragmente – Anfänge und Enden, Zeitpläne, Ängste, Wünsche, Daseinsfragen und solche, die mit der Zeit an Relevanz verlieren.

Welche Bedeutung eine Anzahl aneinandergereihter Worte haben kann, wird mir immer bewusst, wenn ich meine Notizen durchgehe. Einige kann ich nicht mehr zuordnen. Doch da sind solche, die mich zurückversetzen in das, was einmal war – in exakt jene Situation, den Dialog, die Begegnung, das Betrachtete und Gehörte. Das Erleben von längst Vergangenem.

neunter Juni vor vier Jahren
20.000 days on earth

dritter Februar in diesem Jahr
Seht, wie klein und zerbrechlich sie ist.
Dieser Zeitpunkt ist kein Zufall.
Was ist nützlicher,
die Sonne oder der Mond?

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vierundzwanzigster Juli vor vier Jahren
Raum
knapp 300 x 500 cm
200 x 80 Tür

Es gibt den zufälligen Verlust eines Notizzettels, der sich in einer Handtasche oder zwischen Buchseiten nicht mehr finden lässt. Und es gibt einmal Festgehaltenes, zu dem der rote Faden gerissen ist, dessen Kontext verschwunden, obwohl das Wort physisch noch vorhanden ist.

‹Hypomnema› bedeutet wörtlich ‹niedergelegte Erinnerung›. Schreibhefte und Notizbücher wurden in der Antike ‹Hypomnemata› genannt. Sie dienten als Gedächtnisstützen, persönliche Leitfäden zur Lebensführung. Das Hypomnema als materielles Gedächtnis gelesener, gehörter und gedachter Dinge – das waren Gedanken, Überlegungen, Zitate, Aphorismen und Handlungen. Michel Foucault verwies darauf: «In dieser Zeit gab es so etwas wie eine Kultur des persönlichen Schreibens: Notizen zu gelesenen Texten, Gesprächen und Reflexionen, die man gehört oder an denen man sich beteiligt hat; das Führen von Notizbüchern über bedeutende Dinge, die von Zeit zu Zeit wiedergelesen werden mussten, um die Erinnerung aufzufrischen.»

Der Grossvater aus Osterfingen hat sein Leben lang Notizbücher geführt. Jedes Jahr in einer anderen Farbe. Auf dem Buchdeckel steht in fetten schwarzen Ziffern die Jahreszahl. Seine täglichen Einträge hat er immer wieder durchgeschaut.

neunter März (1985)
Arnold Deuber ein Kipper voll Heublumen gebracht.

vierzehnter März (1985)
Generalversammlung der Milchgenossenschaft im Bad mit Milchzahltag.

neunzehnter April (1985)
Gerstenfeld eggen,
Gerste gesät und Klee gesät.
Kuh Bambi gekalbt, schönes Stierkalb. 

Und wenn etwas gelang, die Neujahrsaufführung oder das Herbstfest, stand einfach – guter Erfolg. Solche Anhaltspunkte haben ihn als Bauer unterstützt. Auf diese Weise wusste er immer, wie lange in den vorangegangenen Jahren Schnee fiel, wann er die ersten Rebwellen machte, die Felder pflügte und Kartoffeln erntete.

neunundzwanzigster Mai vor vier Jahren
Regentropfen durch das dichte Blätterdach auf den nassen Asphalt.
Ein einziger Schwan auf dem dunklen See.
Der Holunder blüht. 

Beim Durchlesen von Grossvaters Notizbüchern bemerke ich, dass nicht nur die Kühe aus dem Stall verschwunden sind. Sie heissen heute auch nicht mehr Tulpenkuh, Belle und Ilga. Sie bekommen Zahlen und stehen in riesigen Betrieben. Nicht nur gesellschaftliche Strukturen verändern sich, auch Sprache geht dabei verloren. Milchzahltag oder Hakorette. Wörter, die von grosser Bedeutung waren für den Grossvater, heute aber nicht mehr gebraucht werden.

Gefunden bei Peter Bichsel: «Es ist eine wunderbare Zeit, wenn man schreiben kann, ohne dass jemand etwas davon weiss. Das soll man sich nicht zu früh verderben lassen.» Mein Grossvater hat die Notizen nur für sich selbst gemacht. Doch was passiert mit den persönlichen Gedanken und Geschichten, wenn diese offengelegt werden? Laut Duden ist eine der nächsten Verbindungen zur Notiz der Brief. Ich schreibe oft Briefe. 

zehnter November vor drei Jahren
Als ich soeben an dem Briefkasten beim Dorfplatz vorbeigegangen bin, ist mir die Notiz unterhalb des Einwurfs, dass diese Poststelle am 11. November aufgehoben wird, ins Auge gestochen. Das ist morgen. Seit wir uns Briefe schreiben – das sind mittlerweile mindestens sechs Jahre – und solange ich hier gewohnt habe, begann die Reise eines jeden Wortes in diesem gelben Kasten. Der Zufall will es, dass ich genau heute in Osterfingen bin. Der an dich adressierte Umschlag wird folglich morgen ein letztes Mal aus ebendiesem Briefkasten gezogen und verschickt. Es ist also gewissermassen eine zur Geschichte gewordene Verbindung.

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«Die Werke?», fragte Ludwig Hohl und antwortete: «Briefe an den fernen Freund». ‹Die Notizen› – das Hauptwerk des Schweizer Essayisten – hat er immer wieder überarbeitet und schlussendlich in einem achthundertseitigen Band veröffentlicht. Er ist bekannt dafür, Geschriebenes in seinem Arbeitsraum an die Wäscheleine gehängt zu haben. Das symbolisiert den prozesshaften Umgang mit Sprache. Seine Besessenheit, sie zu einer Alltäglichkeit zu machen. So sinnstiftend wie Wäsche waschen. Friedrich Dürrenmatt sagte über seinen Zeitgenossen: «Hohl ist notwendig, wir sind zufällig. Wir dokumentieren das Menschliche, Hohl legt es fest.»

fünfzehnter Dezember letztes Jahr
deterministisch: die Auffassung, dass alle – insbesondere auch zukünftige – Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt und begrenzt sind.

«Wer mich kennt Liebt Mich.» Der Schweizer Strassenkünstler Emil Manser wurde mit seinen Sprüchen auf umgehängten Kartonschildern zur Ikone. Viele Künstlerinnen und Künstler haben Notizen veröffentlicht. Sophie Calle macht sie zu ihrem grossen Lebenswerk. Sie beobachtet, verfolgt, sammelt und dokumentiert. Die Grenzen zwischen öffentlich und privat sind durchlässig. Fotografien aus Hotelzimmern. Die Objekte der Subjekte wirken wie Notizzettel, die herumliegen. Sie findet einen Faden, verfolgt ihn und strickt ihn weiter. Ein auf der Strasse gefundenes Adressbuch. Calle trifft sich daraufhin mit Freunden, Familie, Bekannten, Affären, um sich das Porträt eines Unbekannten zusammenzufügen.

sechsundzwanzigster März in diesem Jahr
Es waren zu viele Zweifel. Deine Zahnbürste steht im Bad immer noch neben meiner. Erst jetzt fällt mir auf, dass ‹neben› auch ein Palindrom ist. Kann eine liegengebliebene Zahnbürste eine Notiz sein?

Die Leere füllen. Wie lassen sich in dieser Zeit kollaborative Netzwerke verdichten, Gedanken herbeiziehen und ausformulieren? Notizen entsprechen meiner Art zu schreiben. Sie sind eine Kurzform einer Darstellung. Etwas aufschreiben, es dann wieder liegen – oder hängenlassen. Dieses Prozesshafte im Leben und im Denken. Manchmal können Notizen einen verlorenen Faden – einen eigenen oder einen fremden – wieder aufzunehmen. Oder nach Walter Benjamin: «Lass dir keinen Gedanken inkognito passieren und führe dein Notizheft so streng wie die Behörde das Fremdenregister.»

zweiter April in diesem Jahr
Gestern habe ich ein neues Betriebssystem auf meinen Computer geladen, damit ich zuhause arbeiten kann. Beim Öffnen meiner Notizen wird alles schwarz. Ich drücke ‹Notizen aktualisieren›, schliesse die Augen aus Angst, dass alle weg sind. Sie sind noch da. Trotzdem – früher oder später nimmt alles ein Ende. Notizen sind ein Gedankenarchiv. Denken müssen wir – auch unruhig. Achtsam sein, aufnehmen, einsammeln, hinsehen. Und sagen zu können: Ich habe Notiz davon genommen – es ist mir aufgefallen.