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Michael Fässler

G wie Geschichtsbewusstsein

Was Geschichte ist, ist vorbei, wenn auch nicht abgeschlossen. Geschichte will und soll erleb- und nachvollziehbar gemacht werden, starke Männer sollen nochmals gegeneinander kämpfen, wenn auch nur mit Platzpatronen. Die Wiederaufführung von dem, was schon einmal war, hat Konjunktur, die Bedingungen, damit ein sogenanntes Reenactment stattfinden kann, lassen sich an einer Hand abzählen.

Es braucht dafür:

  • eine einprägsame Geschichte, beispielsweise ein Heldenepos oder eine Tragödie.
  • die Motivation, diese Geschichte nochmals aufzuführen, denkbar sind: eine Huldigung, eine Ehrenrettung, ein Mahnfinger.
  • eine Bühne,
  • ein paar Darsteller und
  • im besten Fall natürlich auch: ein Publikum.

Wie echt diese Geschichte schliesslich auf das Publikum wirkt, variiert von Aufführung zu Aufführung. Ein Ende der Realness-Skala bildet Milo Raus International Institute of Political Murder und dessen Dokutheater-Stücke, Die letzten Tage der Ceausescus über die Hinrichtung eines Diktators etwa, oder Hate Radio über ein massenwirksames Instrument des Völkermords in Ruanda. Diese Stücke basieren auf realen Aufnahmen und werden bis zur Perfektion nachgespielt, Wiederaufführung und Original überlagern sich, die Illusion ist perfekt und hinterlässt ihre Spuren im Publikum. Auf der anderen Seite der Realness-Skala könnte man das SRF-Doku-Epos Die Schweizer ansiedeln. Auch hier wird ein starkes Stück Geschichte nochmals aufgeführt: die Schlacht am Morgarten, der Kampf um den Gotthard. Das ist ja auch alles irgendwie einmal passiert, doch so richtig klappt die Illusion dann doch nicht, schliesslich dient als Bühne die Flimmerkiste in den eigenen vier Wänden und den einen oder anderen Darsteller kennt man auch schon aus anderen SRF-Unterhaltungsformaten.

Doch was passiert, wenn beim Reenactment die Darsteller zuhause bleiben? Lässt sich auch ein geschichtsträchtiger Ort, die Originalbühne, durch einen nochmaligen Aufbau zum Leben erwecken? Im offiziellen Beitrag von Deutschland zum diesjährigen Länderwettbewerb in den Giardini wurde eine exakte Kopie der Innenräume des Bonner Kanzlerbungalows, der von 1964 bis 1999 das inszenierte „Wohnzimmer der Nation“ war, in den deutschen Pavillon hineingepflanzt – in einen Bau also, der selbst auch nicht gerade arm an Geschichte ist. Wer in den deutschen Pavillon eintritt, fällt in eine andere Zeit, sie könnte nach Zigarettenrauch riechen oder nach Testosteron. Unter der Kuppel dieses Pavillons, der 1938 in einen Repräsentationsbau des Dritten Reiches umgebaut wurde, findet man sich auf einmal in den offenen Räumen der Sechzigerjahre wieder, die am Originalschauplatz einmal die Werte der jungen Bundesrepublik – Offenheit, Transparenz und Mitbestimmung – verkörpern sollten und dabei dem Volk doch nur aus Fernsehbildern bekannt waren. Doch diese Räume in Venedig sind still, die Machthabenden sind ausgezogen, die Büchergestelle leergeräumt, kein Feuer im Kamin. Was bleibt, ist das Vakuum. Zwei geschichtsträchtige Bauten, zwei symbolische Räume kollidieren hier miteinander und öffnen einen dritten Raum für das Publikum. Absorbing modernity, wie das Motto des diesjährigen Länderwettbewerbs lautet, funktioniert nicht nur zwischen Raum und Raum, sondern auch zwischen Raum und Publikum.

Ein ähnliches Unterfangen fand ebenfalls in Venedig statt, als die Harald Szeemann-Ausstellung When Attitutdes Become Form aus dem Jahr 1969 und der Kunsthalle Bern in das Jahr 2013 und die Kunst-Biennale transferiert bzw. in der Fondazione Prada am Canal Grande originalgetreu rekonstruiert wurde. So echt die Wiederaufführung mit den Originalkunstwerken auch sein mochte: diese Ausstellung – genauso wie der Kanzlerbungalow und Fernsehschlacht von Morgarten – macht vor allem die Relativität von Gegenwart sichtbar. Die Welt dreht sich weiter, ob wir wollen oder nicht. Die Räume, die einmal mit Bedeutung gefüllt waren, sind auf einmal nur noch Räume.

Bleibt schliesslich noch der Blick auf die Stadt, in welcher der Kanzlerbungalow und die Szeemann-Ausstellung wiederaufgeführt wurden, und die selbst Gegenstand gigantischer Wiederaufführungen ist, mit Kopien des Stadtkerns in Antalya, Las Vegas und Macau, wobei Macau genaugenommen nicht eine Kopie des Originals, sondern eine Kopie der Version in Las Vegas ist. Das Publikum wird hier und da so schnell nicht ausbleiben, fragt sich höchstens, welche Geschichte denn genau nacherzählt wird.