Fotografie und Realismus: Debattengeschichte
Ich werde also sagen, dass der Fotograf hauptsächlich der Zeuge seiner eigenen Subjektivität ist, das heisst der Art und Weise, wie er sich selbst als Subjekt zu einem Objekt verhält.
Roland Barthes
Soll sich der Mensch am Wahren und Guten orientieren, sind die Bilder immer schon ein Problem. Denn was auf dem Bild als wahr und wirklich erscheint, muss nicht wirklich und nicht wahr sein.
Die Krise der Repräsentation in der christlich-abendländisch-humanistischen Tradition beginnt mit dem Gebot Du sollst Dir kein Bildnis machen. In Platos fundamentaler Skepsis gegenüber der Kunst als Mimesis (Nachahmung, Nachbildung) erhält diese Tradition ihr philosophisches Über-Ich. Diese bilderskeptische Gewissensstimme bereitet ihr seither umso mehr Probleme, als sie sich als Kultur „auf ein realistisches Programm verpflichtet hat“, zu dessen wesentlichen Erfindungen die Camera Obscura, die Fotografie und der Film gehören. Just im Zeitalter der Aufklärung, die bezüglich Bilder-, Glaubens- und Erkenntnis-Skepsis zu neuen Höhenflügen ansetzt, wird das zuerst industrialisierte, dann digitalisierte foto-reale Bild zur second world. Die darin bediente Aufmerksamkeit ist tendenziell ästhetisch-touristisch-unbeteiligt, die Machtbalance zwischen dem Zeigenden und dem Gezeigten inexistent, der Anspruch einer „Zeugenschaft“ und „Wahrheit“ rundum relativ. Digitalisierung als Foto-Demokratisierung bedeutet nicht die Lösung des Problems, sondern bedeutet zunächst nur, dass die Kamera und ihre Ethik heute in der Griffweite und Deutungshoheit eines Jeden liegen. Das ist die Krise der foto-realen Repräsentation im Zeitalter fortschreitender Digitalisierung: Jedes Endgerät ist eine Wetterstation des Weltgeschehens; die Bilder, die im guten oder im schlechten Sinne Öffentlichkeit herstellen, sind deshalb immer schon gemacht. Das Wissen darum, dass Fotografen vor allem Zeugen ihrer eigenen Subjektivität sind – schon Barthes hatte dies als Banalität bezeichnet –, ist mittlerweile überall angekommen. Aber die schwer kontrollierbare Macht der foto-realen Bilder wird darob nicht kleiner.
Mimesis, die Wahrheit hinter den Dingen und das Abkommen vom rechten Weg
Im Bannkreis des mimetischen Bildes verliert der Mensch sich selber. Das Bestreben, mit immer raffinierteren technischen Mitteln die Welt so ab- und nachzubilden, dass man das Bild von der Welt nicht mehr unterscheiden kann, wird in Mythen und Parabeln seit Jahrtausenden als eine Gefahr für den Menschen thematisiert. Der fatale Tauschhandel zwischen Bild-Wahrheit und Bild-Magie (Pygmalion, Narziss und Echo) wird zur Frage von Kontroll-Gewinn und Kontroll-Verlust (Golem, Frankenstein), von Welt-Gewinn und Welt-Verlust (Brave New World), wobei die symbolische Gewalt der Wissenschaft, reale Technologiesprünge und eine real virtualisierte Gesellschaft stets in neue Endzeit-Erzählungen münden (Matrix). In der Technik-, Medien- und Kunstgeschichte ist spätestens seit der Erfindung der Fotografie alles verwoben: Reale Bildproduktion, bilderskeptische Diskurse (u.a. Romantik und die über den Niederungen angewandter Künste stehende autonome Kunst) und Dystopien des bildergetriebenen Untergangs der Menschheit.
Eine bis heute wirkungsmächtige Gussform für Technik-Mythen und theoretische Diskurse der Bilder-Skepsis liefert Platons Höhlengleichnis. Grosse Tugendlehrer der Vergangenheit (Seneca, Rousseau), aber auch Kulturkritiker/innen der Gegenwart (Adorno, Postman, Sontag, Schirrmacher, Lanier) können nicht umhin, mythische Erzählungen des durch Bilder bewirkten Selbst-Verlusts in der einen oder anderen Weise in ihre Diskurse aufzunehmen – denn sie waren und sind immer auch Erzähler/innen, die, gerade wenn sie das Bild problematisieren und den Menschen aufrütteln wollen, auch mit Bildern operieren.
Realismus als Sorge um die Wirklichkeit und den Menschen
In der Ethnologie und Feldforschung eines Claude Lévi-Strauss geht es um die Ursprünglichkeit oder Unschuld eines „von der Zivilisation unberührten“ Lebens. Doch der Ethnologe, der, indem er das Vorgefundene aufschreibt, es in seiner Kraft und Ursprünglichkeit zu beschützen oder zu bewahren meint und es so gegen die eigene, durch Zivilisation korrumpierte Herkunftskultur abhebt, steht nicht ausserhalb des Geschehens. Ebensowenig gilt das für die ganze Kunstgeschichte des Hochhaltens des Fremden durch Idealisierung, Stilisierung, Exotisierung usw. – so etwa in der Malerei eines Jean-Léon Jérôme oder Paul Gauguin, im Dokumentarfilm eines Robert Flaherty (Nanook of the North, Tabu). Ganze Heerscharen von Filmern und Fotografen mit oft sehr bekannten Namen wandeln bis heute in den Spuren dieser „Pioniere“ und erzählen – den Blick oft auch in die eigene Kultur gerichtet, wie das schon Vertreter der Frühromantik systematisch taten –, als ob sie einen dritten Standpunkt einnehmen könnten, die gleiche Geschichte von Schuld und Unschuld, indem sie Individuen als besonders illustre Beispiele „des Menschen“, seines Leidens und Hoffens usw. zur Darstellung bringen.
Doch die Denkfigur, mittels filmisch-fotografischer Kunst die Wirklichkeit (die Wahrheit, die Welt) zu „retten“, ist auch in wirkungsmächtigen Theorien des Films und der Kunst präsent – genauso wie diejenige, wonach die Kamera (als Instanz des Mediensystems, des Tourismus, der politischen und militärischen Macht) die von ihr gezeigte Welt in der einen oder anderen Weise zugrunde richtet. Zu den Realismen bzw. Werken, die sich aus der Sicht der Kunst-, Literatur-, Film- und Fotogeschichte in diesem Sinne an der Wirklichkeit und am Menschen verdient gemacht haben, gehören Francisco de Goyas Desastres de la Guerra; Werke von Literaten-Journalisten wie Heinrich Heine oder Ernest Hemingway; die Neue Sachlichkeit in der Malerei, Literatur, Fotografie und im Journalismus; der Neo-Realismus eines Roberto Rossellini; die frühen Filme eines Pier Paolo Pasolini; die Kino-Ethnografie eines Jean Rouch; die foto-soziologischen Studien eines August Sander oder einer Nan Goldin; Werke wie dasjenige des Fotografen Henri Cartier-Bresson und oder des Kulturanthropologen Clifford Geertz, welche die Conditio Humana ins Zentrum stellen; sowie eine grosse Anzahl von Fotografen, die mit „ikonisch“ gewordenen Bildern „die Öffentlichkeit aufgerüttelt“ haben.
Das in solchen Diskursen liegende heroisch-aufklärerische Pathos wurde, parallel dazu, immer wieder radikal befragt, wobei die Argumentation immer darin bestand, das realistische Bestreben für löblich, aber angesichts der Eigendynamik des Systems (der Medien) für naiv zu erklären. Stellvertretend sei hier nur dieses Votum von Walter Benjamin gegen die Neue Sachlichkeit zitiert:
[Die Photographie] wird immer nuancierter, immer moderner, und das Ergebnis ist, dass sie keine Mietskaserne, keinen Müllhaufen mehr photographieren kann, ohne ihn zu verklären. Geschweige denn, dass sie imstande wäre, über ein Stauwerk oder eine Kabelfabrik etwas anderes auszusagen als dies: die Welt ist schön. […] Es ist ihr […] gelungen, auch noch das Elende, indem sie es auf modischperfektionierte Weise auffasste, zum Gegenstand des Genusses zu machen.
Wenn viele der oben zitierten Namen heute als grosse Namen gelten, sind dafür sowohl kritische Debatten (an denen einige von ihnen prägend teilnahmen) als auch, und vor allem auswählend-kuratierende und wirkungsmächtig-propagierende Instanzen verantwortlich: Zuständig dafür die Nobilitierung waren und sind Tempel der Kunst wie das Museum of Modern Art, Zeitschriften wie die Cahiers du Cinéma, Verlage wie Phaidon Press, Zeitschriften wie das Time Magazine, Institutionen wie der Pulitzer-Preis, der World Press Photo Award, Brand-gewordene Bewegungen wie Magnum Photos, NGO-Institutionen wie Green Peace usw.
Realismus vs. Naturalismus
Ist Realismus eine Frage handwerklich-detailgetreuer Abbildung, oder geht es vielmehr um künstlerisch-subjektiver Beobachtung? Der Streit erreicht einen frühen Höhepunkt im Frankreich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In „Le peintre de la vie moderne“, einer Apologie auf den mit zeichnerisch-malerischen Mitteln operierenden Chronisten Constantin Guys – zeigt sich Charles Baudelaire begeistert über die Möglichkeiten, die dessen künstlerisch-dokumentaristische Stil bietet. Gleichzeitig bekämpfen Baudelaire und seine Weggefährten als Wegbereiter der Autonomie der Kunst jeglichen Realismus, der an die naturgetreue Abbildbarkeit der Wirklichkeit glaubt und daraus sogar ein künstlerisches Credo ableitet:
Da man uns jedoch in letzter Zeit mit kindischem Schulgewäsch die Ohren vollgeschwätzt hat, da wir von einem gewissen literarischen Verfahren, Realismus genannt, vernommen haben – eine abscheuliche Beleidigung, allen sorgfältig Unterscheidenden ins Gesicht geschleudert, ein unbestimmtes und dehnbares Wort, das für die Menge nicht etwa eine neue Methode künstlerischer Schöpfung bezeichnet, sondern eine kleinliche Beschreibung des Beiläufigen.
In einem Realismus, der die Wirklichkeit mit-erfindet, statt sie nachzuäffen – wie etwa dem von Gustave Flauberts Madame Bovary, der für Baudelaire exemplarisch ist; und viel später eines Jeff Wall, für den der peintre de la vie moderne vorbildhaft bleibt – geht es darum, der Wirklichkeit aufs Maul zu schauen, um sie dann mit Mitteln der Fiktion oder Inszenierung kenntlich zu machen, d.h. sie allenfalls auch bis zur Kenntlichkeit zu entstellen.
Dieser Unterscheidung zwischen einer mimetisch-schwachen und einer künstlerisch-starken Wirklichkeitsdarstellung folgen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die Debatten um die Grenzlinie zwischen Fotografie und Kunst, Film und Kunst, Reportage/Journalismus und Literatur. Die Frage war zunächst, ob Fotografie, Film oder Reportage als Medien bzw. Professionen zu künstlerisch-starker Wirklichkeitsdarstellung überhaupt fähig seien. In einer Art Flucht nach vorne erneuerte sich die Kunst und Literatur, in dem sie das Feld des Figurativen den technischen und insofern minderen Medien überliess und ihren im 19. Jahrhundert erlangten Autonomie-Status noch radikalisierte. In dieser Bewegung wurde auch Teilen des Films und der Fotografie – darunter der Experimentalfilm, der Dokumentarfilm, später auch Autorenfilm und Reportagefotografie – das Label Kunst verliehen. Gleichzeitig wurden das Fernsehen und später das Internet zu Über-Medien, die insofern demokratisch waren, als sie die Hierarchien und Autonomiebehauptungen zwischen Kunst und Nichtkunst, zwischen „Aufklärung“ und „Manipulation“, zwischen „Bildung“ und „Verdummung“ zugunsten der Macht des Konsumenten auflösten.
Im dergestalt etablierten Grenzgebiet Journalismus/Kunst fand aber auch, soweit und solange die Geschäftsmodelle dies erlaubten, Erneuerung von Innen statt. Auf die Erkenntnis, dass es objektiven Journalismus nicht geben kann, folgten selbst-reflexive Ästhetiken wie der New Journalism von Truman Capote und Tom Wolfe, verwandte Bewegungen gab es auch in der Fotografie und im Dokumentarfilm. Und seit den Nullerjahren werden im Netz, das etablierte Formen, Vertriebsformen und Kanäle des (Foto-)Realismus buchstäblich alt aussehen lässt, die Felder und Werte, namentlich aber die Rollen und Deutungshoheiten noch einmal ganz neu verhandelt und verteilt.
Krise der Repräsentation als Problem der Perspektive
Wer schildert, zeichnet oder aufzeichnet, schreibt oder aufschreibt, ist in keiner neutralen, schon gar nicht in einer unschuldigen Position (siehe oben: Ethnologie als Rettung des Ursprünglichen). Das macht die Krise der Repräsentation und die Writing Culture-Debatte in der Ethnologie in den 70er Jahren vollends deutlich (und für Felder wie Foto- und Reportagen-Journalismus relevant). Protagonisten wie James Clifford machten, inspiriert vom Dekonstruktivismus eines Jacques Derrida, darauf aufmerksam, dass der Ethnograf beim Schreiben einen Standpunkt einnimmt, dass er diesen nicht verlassen kann, und dass er das Problem nur entschärfen kann, wenn er sein Schreiben (oder Fotografieren) als subjektive Interpretationsleistung deklariert, d.h. seine Herkunft, Prägung oder Blickrichtung als solche kenntlich macht, und seine Sprache als eine Sprache ohne besondere Gültigkeit spricht. Andere Erkenntnisse von grosser Tragweite sind damit verknüpft: Es gibt, obwohl dies in einschlägigen Medien immer schon mitvermittelt wird, kein ursprüngliches Ereignis, das noch nicht eingeschrieben wäre, und das der Ethnologe oder Reporter also „entdecken“ oder „als erster“ schildern (fotorafieren, filmen) könnte. Auch der Gedanke, dass für die Beschreibung einer Kultur nur Vertreter/innen derselben befugt und fähig seien (etwa die Idee des native anthropologist), wird in dem Moment problematisch, wo gefragt wird, ob und wie eine solche besonders befugte Person andere Publika als das eigene erreichen kann, und wo es ein dergestalt „eigenes“ und kulturell „reines“ Publikum noch gibt.
Die letzten drei Jahrzehnte waren an Fotografie-internen Debatten (ebenso: Mediendebatten, die sich an fotografischen und kommerziellen Praxen entzündeten) nicht arm. Spannungsfelder wie Kunst vs. Engagement, Unterhaltung vs. Aufklärung, Rhetorik vs. Wahrheit, Branding vs. Sensibilisierung, Machtausübung vs. Ermächtigung, westlicher Universalismus vs. Multiperspektivität waren dabei stets wichtige Dimensionen. Das im Umfeld des Existenzialismus und der Aufbruchbewegungen der 60er Jahre entstandene, in den 80ern und frühen 90ern immer noch sehr hohe Image der humanistischen bzw. künstlerischen Reportagefotografie wurde durch solche Debatten, aber auch durch die Entwicklungen des Fernsehens und des Internet stark relativiert. So tat und tut es noch einmal Not, Spreu und Weizen zu trennen: Ästhetiken und Ideale des foto-realen Realismus werden zunehmend musealisiert, im Sinne ihrer Verwertbarkeit im Kunstsystem neu positioniert oder als Brand-Währung in einen sich zunehmend als Werbe-Umfeld verstehenden Journalismus eingespiesen.