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Foto-Weltbürgertum und Foto-Orientalismus

„Sie brauchten keine Rechtfertigung, hier zu sein. Ihr Anblick war sehr tröstlich.“
Charlie Marlowe, Ich-Erzähler in Joseph Conrad’s „Herz der Finsternis“, über Afrikaner in Afrika

 

Die Geschichte des Weltbürgertums (der Weltoffenheit, der völkerverbindenden Freundschaft, des Welt-Ethos usw.) ist untrennbar mit Geschichten der Okkupation verknüpft. Weltbürgertum referiert immer auf einen, wie immer glaubwürdigen oder unglaubwürdigen, Idealismus. Jedes Subjekt, jede Bewegung, jede Organisation, die eine in den Grenzen von Ethnien, Nationen, Kulturen formatierte Welt aufbrechen oder öffnen will, kann Weltbürgertum auf ihre Fahne schreiben. Der weltbürgerliche Idealismus kann somit religiös oder laizistisch, demokratisch-aufklärerisch oder revolutionär-diktatorisch, hochkulturell-exklusiv oder marktliberal-inklusiv auftreten (Goethe ist Weltbürger genauso wie Napoleon und Che Guevara, Coca Cola genauso wie die katholische Kirche oder Médecins Sans Frontières). In jedem Fall sind seine Erzählungen (Erzählstrategien, Machtstrategien, Marktstrategien) in profunder Weise bild-förmig, und die humanistische Fotografie spielt darin oft eine zentrale Rolle.

Foto-Globalisierung und das Ende der klassischen Fotoreportage

„Heutzutage kaufen Investoren wie Bill Gates Bildarchive und vor allem Fotorechte auf – fast so intensiv, wie Nestlé Wasserrechte und Trinkwasserquellen erwirbt. Was in einem Fall die Existenz der Menschheit im 3. Jahrtausend ausmachen wird, bestimmt im anderen Fall das Feld der (Bild‑)Kommunikaiton und verankert die Fotografie als offenbar zeitgemässe und formgerechte Reliquie des Wirklichen. Wir haben es also scheinbar mit paradoxen Bewegungen zu tun: Hier, im angestammten Berufsbereich, mit dem Verschwinden der Reportagefotografie, dort – in der Mode, Werbung, Kunst, in den Bilderbanken, in unserem alltäglichen, privaten Leben – mit einer Anhäufung von reportierenden, Wirklichkeitspartikel vermittelnden Fotografien, eine Anhäufung, die davon zeugt, wie sehr wir nach Wirklichkeit dürsten, wie abstrahiert sie auch sein mag.“
Urs Stahel
im Katalog zur Ausstellung „Weltenblicke“ (1997)

Der Autor dieser Zeilen weiss kaum etwas von Flickr oder Second Life. Er weiss sicher nichts von Facebook, Instagram, Buzzfeed, Tumblr, Twitter. Dennoch behalten diese Zeilen auch mit Blick auf den aktuellen Medienwandel ihre Relevanz. So etwa darin, dass in der doppelten Analogie – Wasser-Ökonomie und das Problem der Verknappung auf der einen, Wirklichkeits- bzw. Aufmerksamkeits-Ökonomie und das Problem der Anhäufung auf der anderen Seite – fast alles enthalten ist, was in den in den fast 20 Jahren seit „Weltenblicke“ in der globalisierten Welt (der Bilder), d.h. vor allem im Internet, beobachtbar wurde.

Zuständig für die Krise der Repräsentation im Allgemeinen und die Krise der Reportagefotografie im Besonderen ist die Diskrepanz zwischen einem normativen Bedürfnis (z.B. Aufklärung, Öffentlichkeit, Gedächtnis) und einem dramaturgischen Bedürfnis, also einem Begehren, einem Durst, einer Verführbarkeit (z.B. Unterhaltung). Solange es Medien im Sinne von wirkungsmächtigen Leuchttürmen der Aufklärung gab, konnte die Diskrepanz klein gehalten werden, indem man ein urteilsfähiges und interessiertes Publikum um eine Ware versammelte, deren Qualität anerkannterweise in ihrem künstlerischen und aufklärerischen Wert lag, und deren Quelle anerkannterweise unabhängig war. Das ist heute weder in den Printmedien noch im Internet so organisierbar. Um auf die Wasser-Analogie zurückzukommen, gleicht die Anhäufung der Bilder – zumal unter den Vorzeichen ihrer Verflüssigung – einem Regen, der grundsätzlich immer und überall niedergeht, aber als Trinkwasser in relevanter Menge nur selten nutzbar wird. Der Regen mit seinen Foto-Realitäts-Partikeln kann auf unbewohntes Land treffen oder verdunsten (Indifferenz, Ignoranz); er kann, ganz unmittelbar, in einer Überschwemmung oder einem Seuchen generierenden Abwasser aufgehen (Propaganda, Instrumentalisierung); nur in sehr seltenen Fällen, d.h. wenn sich das Virale und die Aktualität mit dem Künstlerisch-Wertvollen verbindet, wird er im alten Sinn „ikonisch“. Der Erfolg von Online-Medien beruht heute nachgerade darauf, dass sie Entdecker und Weiterverbreiter möglichst frischer (und: durchschnittlich schnell verderblicher) Bild-Ware sind, die irgendwoher kommen kann, und in welcher der Begriff „News-Wert“ immer neu (und immer weiter) definiert wird. Anderswo, in kuratierten Auffangbecken und Reservoirs, werden die im globalen Bildregen niedergehenden Partikel auf ihren ästhetischen, ev. auch künstlerischen Wert hin ausgewählt, etwa als Ressource, aus der Sammler/innen und Museen das „Überdauernde“ – sprich für das kollektive Gedächtnis und zugleich Wertsteigerung geeignete – herausfiltern. Zwischengeschaltet im immer hochtouriger und vielverzweigter pumpenden Bilderkreislauf sind immer mehr Individuen und volatile Kollektive auf Social Media, die ihr Interesse und ihr Vertrauen von der empfehlenden Quelle abhängig machen. Das heisst: Bilder erlangen und verlieren Bedeutung in einer Dynamik des Empfehlens und Weiterempfehlens; Bild-Öffentlichkeit ist so stabil und mitverfolgbar wie das Börsen-Geschehen; das Publikum ist überall und nirgendwo. Einen Ort, der Bilder, die im starken journalistischen oder auch sozialreformerischen Sinn einen Impact entwickeln, systematisch in Auftrag geben, bezahlen und zuhanden eines grossen, ev. weltweiten Publikums publizieren könnte, gibt es in diesem Kreislauf nicht mehr. 

Foto-Asymetrie

In der Geschichte des Fotojournalismus sind es Weltbürger oder Welt-Reisende im Sinne von omni-kompetenten Reportern, die für Werte wie Aufklärung, Gerechtigkeit, Menschlichkeit Partei nehmen, indem sie an „Hotspots“ gehen und dort fotografisch herausarbeiten, was diesen Werten entgegensteht oder als Energie in ihrem Sinne einsetzbar wäre. Sie tun dies im Auftrag von Magazin-Herausgebern, die sich wiederum im Auftrag eines „weltbürgerlichen“ – nämlich an universellen Werten orientierten, sich um die Welt und nicht nur ihr Gärtlein sorgendes – Publikums sehen; dieses ist zwar in einer bestimmten Geografie und Kultur verortet, könnte aber grundsätzlich überall zuhause sein. Fotojournalismus stellt also idealerweise – und einschlägige Medien haben das in ihrer Selbstdarstellung immer auch propagiert – Welt-Öffentlichkeit und Weltbürgertum recht eigentlich her. 

Diese in ihrem Kern ebenso bürgerliche wie revolutionäre Idee, die mit der Idee der Fotografie als Weltsprache eng verbunden ist, erweist sich als inkompatibel mit der verbal-visuellen Vielsprachigkeit und der postrevolutionären Pragmatik der real-globalisierten Welt. Namentlich mit der Digitalisierung wird deutlich, dass das Publikum der Reportagefotografie, wo man es überhaupt noch in grosser Zahl und innerhalb funktionierenden Geschäftsmodelle aggregieren kann, ein zahlendes, kulturell vorgeprägtes, Privilegien geniessendes und in diesem Sinne interessiertes ist, und dass Fotografen und ihre Medien immer eine Perspektive haben – also nicht nur Weltenblicke einsammeln, sondern auch Weltsichten durchsetzen. Bilder werden von den Einen gemacht und von den Anderen erlitten. Wobei die Anderen nicht nur sozial, sondern auch kulturell Andere sind, und das Wissen um Multiperspektivität, da es die Machtlosen nicht mächtig, die Vor-Urteile in den Köpfen nicht wirkungslos macht, das Problem der Asymetrie nicht löst.

Foto-Okzident und Foto-Orient

Für all dies ist das Verhältnis von Okzident und Orient ein Beispielfeld, das, zumal im Licht aktueller Geschehnisse und Debatten, lernträchtiger nicht sein könnte. Fotografie im Sinne einer „westlich“ formatierten Form von Öffentlichkeit ist darin in hohem Ausmass impliziert und auch verstrickt. Solche Fotografie (die „westliche Öffentlichkeit“ schlechthin) muss sich nicht nur fragen, wie sie sich legitimiert – z.B. was sie zum Verständnis des real existierenden Orients beiträgt –, sondern auch: ob und wie Werte wie freedom of speech, also fundamentale Errungenschaften der bürgerlichen Aufklärung, ideel und real verteidigt werden können. Geschichte und Gegenwart der Orient-Fotografie und mit ihr verknüpfte Felder wie Kultur- und Kunstwissenschaft, Reiseschriftstellerei, Kunsthandel (Kunstraub), Tourismus usw. – auch: die religiöse Prägung von Bild- und Menschenverständnissen – sind für die oben beschriebene Asymetrie zugleich Agens und Symptom.

Historisch haben sich west-östliche See- und Landwege wie z.B. die Seidenstrasse als privilegierte Routen militärisch-politischer und kaufmännisch interessierter Akteuren (Heere, Handelsgesellschaften) etabliert. Ostwärts Reisende mit wissenschaftlichem, künstlerischem oder journalistisch-chronistischem Zugang bildeten die Vor- oder Nachhut. So bereiteten frühe „Entdecker“ von z.B. „Weltwundern“ den Boden für das Horten von „Weltkultur“ in europäisch-nordatlantischen Kapitalen, in deren (Bild-)Spuren Heerscharen von Akteuren und Agenturen der Orient-Konstruktion bis heute wandeln. Vier Feststellungen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung: Erstens ist der so konstruierte Orient, wie Edward Said gezeigt hat, eine hochproblematische Projektion. Zweitens ist das Gegenstück – das Orientalische als etwas fundamental Eigenes und Reines, von Verklärung Unbedrohtes, an das sogar Orientalen glauben wie etwa Schweizer an das reine Schweizertum – etwas genauso Irreales. Drittens lieferte der Orient, verstanden als geografisch-zivilisatorischer Kontext, substanzielle Grundlagen für das, was heute als „westliche Zivilisation“ verstanden wird, und morgenländische Schlüssel-Narrative (der Koran, 1001 Nacht, Gilgamesch usw.) waren mit abendländischen immer schon verbunden. Viertens: Wenn dieser Orient heute, z.B. als ölfördernder Staat mit Reputationsabsicht, die grossen Bühnen und Tempel der westlichen Kunst-, Kultur und Wissenschaft im eigenem Sinne nutzt, seine Söhne und Töchter darin studieren und agieren lässt, sie wie eine Franchise im eigenen Territorium übernimmt und entwickelt (wenn er sie nicht recht eigentlich, wie das bei Fussballclubs schon der Fall ist, käuflich erwirbt), kann dies, bei aller Fragwürdigkeit, durchaus auch als Ermächtigung, Öffnung und Wiederherstellung einer verlorenen Machtbalance gelesen werden.

In alledem wird sichtbar, dass Weltbürgertum in einem bestimmten Sinn, nämlich als Welt-Bildungsbürgertum oder Welt-Bildungselite spätmoderner Prägung, Realität geworden ist: Kennerinnen und Verehrer von Orhan Pamuk, Wong Kar Wei, Toni Morrison oder Johann Wolfgang Goethe findet man, wie Adepten oder Interpreten avancierter Mode oder Musik, grundsätzlich überall auf dem Erdball (und auch durchaus in unterschiedlichen sozialen Schichten). So verstandenen Humanismus – bei Peter Sloterdijk beschrieben als ein Netz unter Brieffreund/innen, die sich in ihrem Bildungsgeschmack auf gleiche Referenzpunkte beziehen – gibt es seit Jahrhunderten, wobei auch und gerade die Werke von (westlichen) Chronisten- und Journalisten-Künstler/innen, die im Orient unterwegs waren oder diesen thematisierten, den Status solcher „Weltkultur“ erlangt haben. Diese weltumspannende Kulturelite hat zwar Gewicht in Prozessen der Etablierung von Werten im Kunstsystem (dafür stehen, im Sinne einer Umkehrung der West-Ost-Asymetrie, der Gender-Asymetrie und sozialer Asymetrie, eine ganze Anzahl von fotografisch-dokumentarisch-künstlerischer Werke der Gegenwart, deren Autor/innen fast immer Wanderer/innen zwischen den Welten sind), nicht aber in (bild)politischen Prozessen der Etablierung von (aufklärerischen) Werten in Medien. Was die durch Social Media massen-individuell werdenden Massenmedien und ihr Gewicht für (bild‑)politische Prozesse betrifft, kann von Eliten, die Weltbürgertum manifestieren, nicht die Rede sein: Hier ist es, wenn schon, die omnipräsente und aufmerksamkeitsökonomisch verselbständigte Kamera, die durch ihre Omnipräsenz und die konstitutive, auch Kulturen und Zivilisationen relativierende, Gleich-Gültigkeit ihres Bild-Ausflusses Weltbürgerin geworden ist.