Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Lars Willumeit, Ruedi Widmer

Foto-Politik: Strategien und Gegenstrategien

Wer übernimmt die Rolle des Fotojournalismus, wenn es diesen als unabhängige, handlungsfähige, finanzierbare Untersuchungsinstanz nicht mehr gibt – vielleicht auch: nie gegeben hat? Welche Foto-Gegenöffentlichkeits-Strategien gibt es ausserhalb des massenmedialen Kontextes? Und welche Strategien der Sensibilisierung für Foto-Politik als solche?

Fotografie war tendenziell immer schon Dienerin mehrerer Herren. Auch wenn der Fotojournalist tatsächlich im Sinne der Wahrheit und Unabhängigkeit agiert, wenn sich er tatsächlich exponiert oder sogar gefährdet – in der Realität sind Bild-Zugänge fast immer eine Frage des Gebens und Nehmens, also des Aushandelns in alle Richtungen. Immer schon galt, dass Fotografien, die aufgrund ihres Impact und ihrer formalen Qualität interessant sind, in ganz anderen Kanälen als nur den Massenmedien gezeigt werden können und, aus Sicht der Produzenten, auch sollen. Ihre Präsenz in Archiven, Galerien, Museen, Publikationen, Film- und TV-Dokumentationen, Sammlungen, Wettbewerben oder Förderprogrammen wird angestrebt, oft auch recht eigentlich geplant. Sie entspricht einer Vereinbarung zwischen den Autoren, den Vermittlern (Zwischenhändlern, Förderern, Mäzenen, Sponsoren) und den jeweiligen Zielgruppen, „dass es solche Bilder braucht“. Der Fotoreporter bleibt in diesem Rollenspiel grundsätzlich Journalist und Autor, tut dies aber in einem Selbstverständnis, in welchem das Massenmedium als Auftraggeber und Abnehmer eine abnehmend grosse Rolle spielt. Das ebenso klassische und grundsätzlich journalistische Rollenbild eines Agentur-Fotografen, der die Welt so abbildet, dass sich die Zeitung aus dem entstehenden Fundus, vom Ereignisbild (Feuer, Verhaftung, Siegespose) bis zum Zeitgeistdokument (Bilder der Arbeitswelt, der Freizeitgesellschaft, des gesellschaftlichen Umbruchs usw.), bedienen kann, wird durch die Omnipräsenz „besser postierter“ Kameras entweder überflüssig, oder es wird präzisiert (etwa im Sinne des „Reporters“, der dort fotografiert, wo andere nicht reindürfen, oder der sich überdurchschnittlich gut auskennt, der sich dann aber auch an entsprechende Regeln und Gepflogenheiten hält). Darüber hinaus gibt es heute vermehrt Auftragstypen, die demjenigen des investigativen, politisch motivierten Fotoreporters, der Missstände, Unbekanntes, schwer Erträgliches aufspürt, aufnimmt und bekannt macht, stark gleichen, die aber nicht journalistisch sind. Dazu gehört die Social Responsability etwa der Firma Benetton und ihrer von Olivero Toscani verantworteten „United Colors“-Kampagne, einer Fortsetzung der humanistischen Reportagefotografie mit anderen Mitteln und zu anderen Zwecken; Kampagnen wie die Antrassismuskampagne der UEFA, welche die foto-humanistische Tradition videografisch aufnimmt oder staatlich finanzierte Kampagnen (Aids, Drogen); oder aber die Strategien von NGO’s und Netzwerke wie Médecins sans Frontières, deren Aufträge an Fotografen (oft auch an Illustratoren, Schreibende, Dokfilmer) denjenigen an klassische Bildjournalisten stark gleichen können.

In dem so geöffneten Spektrum, das auch zu Labels wie „humanitäre Fotografie“ führt (mit zugehörigen Organisationen, Communities von Amateurfotografen usw.) findet grundsätzlich alles statt, was die Dimensionen Fotografie, Humanismus und Aufklärung verbindet, und dazu gehört nicht zuletzt die Aufklärung in Fragen der Fotografie, d.h. Initiativen und Strategien, die (bild‑)politisch motiviert sind und grundsätzlich in der medien-pädagogischen Tradition stehen – vgl. die im Folgenden aufgelisteten Kurzporträts einiger besonders interessanter Beispiele.

 

CASE STUDIES

#Dysturb

ist ein von den den Fotojournalisten Pierre Terdjman und Benjamin Girette gegründetes Kollektiv, welches sich zum Ziel gemacht hat, die „Universalsprache“ Fotojournalismus, unter Einsatz von Guerillastrategien inspiriert durch Street Art Posterwand-Okkupation, im öffentlichen Raum einzusetzen. Damit sollen eine visuelle Präsenz geschaffen werden für menschliche Schicksale und Thematiken welche, die durch die Krise der Printmedien und die damit verbundene Krise für Reportagefotografie unterrepräsentiert sind. Die Hoffnung ist dass dadurch Stereotypen aufgelöst, öffentliche Diskussionen ausgelöst und ein besseres Weltverständnis für eine möglichst breite Schicht von städtischen Weltbewohnern durch „street news“ generiert werden kann.

http://d219x6t5qap4y.cloudfront.net/

 

Werker Magazine

Werker Magazine schreibt die Neu-Aktivierung der Fotografie für den politischen Kampf um Rechte und Wahrnehmung in ihre künstlerische Praxis ein. In kollaborativen Prozessen werden über längere Zeit durch Gruppen wie zum Beispiel prekär angestellte Hausangestellte in Großbritannien Amateur-Fotoarchive erstellt, welche dann in gemeinsamen Treffen durch kollektives Lernen von Bildkritik und Editierstrategien in ein Ausstellungsformat der Selbstrepräsentation gebracht werden. Die Themen dieser neuen Form von Arbeiterfotografie sind Formen der „unsichtbaren Arbeit“ wie zum Beispiel Hausarbeit. Werker arbeiten in verschiedenen Regionen. Wichtiger Teil ihrer Arbeit ist auch die Vernetzung der Teilnehmergruppen, um so affektive Netzwerke zu erzeugen, welche im Kampf um Rechte aktiviert werden und so eine kritische Masse erzeugen.

http://www.werkermagazine.org/domesticwork/

 

Majority World photography

Das Konzept der Majority World repräsentiert eine Gegensicht zur Begrifflichkeit der Dritten Welt und beruht auf einer Perspektivenumkehrung, welche darauf hinweist, dass in der sogenannten Dritten Welt rund zwei Drittel der Weltbevölkerung lebt. Auf dieser Basis hat sich auch in der Welt des humanistischen geprägten Fotojournalismus über die letzten 15 Jahren eine Bewegung herausgebildet, welche die Frage einer echten Sichtbarkeit, des Zungangs zu (Bilder-)Märkten und Ressourcen ins Zentrum, um das Blick-Gewicht der Redaktionen der Ersten Welt (oder Minority World) zu relativieren. Diese Bewegung grenzt sich ab von der allgemein üblichen Praxis des „Fallschirm-Journalismus“ westlicher Redaktionen, „ihren Text- und Bild-Mann“ in ein Krisengebiet einzufliegen, oft ohne lokales Wissen oder lokale Sprachkenntnisse und ihn oft nach einer Periode von nur ein paar Tagen autoritativ über die Lage vor Ort berichten lassen. Einer der Protagonisten in dieser Bewegung ist Shadidul Alam aus Bangladesh, der das Konzept und eine Fotografen-Agentur gleichen Namens mitbegründet hat, wie auch die Bildagentur Drik, die Fotoschule Pathshala und das Foto-Festival Chobi Mela.

http://www.majorityworld.com/en/page/show_about_page.html

http://drik.net/

http://pathshala.net/

http://www.chobimela.org/

 

Slow Journalism

Rob Hornstra ist ein holländischer Fotograf, der sich das Konzept des Slow Journalism und des Deep Storytelling auf die Fahnen geschrieben hat. Dieses journalistisch-ethische Anliegen geht bei ihm einher mit dem fotografischem Anliegen, eine zeitgemässe Form des Menschenportraits zu finden, welche mehr vermag als nur in die Augen zu sehen. Unter dem Pseudonym The Sochi Project haben Rob Hornstra als Fotograf und Arnold van Bruggen als Autor über einen Zeitraum von fünf Jahren die erweiterte Region, in der 2014 die Olympischen Winterspiele stattfanden, bereist, erfasst und analysiert. Daraus entstanden sind mehrere Bücher sowie eine online Storytelling-Plattform welche sich zu einem erheblichen Anteil durch crowdfunding finanziert hat.

http://www.thesochiproject.org/en/chapters/the-summer-capital/

http://www.borotov.com/