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Leonard Haverkamp

Fallen zählen

Das Leben ist voller Fallen. Der Weg zur richtigen Entscheidung ist gepflastert mit Versuchungen, Täuschungen und Irrungen.

Stellen wir uns vor: einen Studenten, der gerade vor dem Abschluss steht. Aus einem Gefühl heraus entschliesst sich der Student, vor dem Ende seines Studiums ein Auslandsemester einzulegen. Wäre ja schade, wenn man nie eins gemacht hätte. An der University of Zagreb gibt es im Winter- wie im Sommersemester spannende Kurse. Ein sorgfältiges Abwägen erübrigt sich. In Frage kommt eigentlich nur der Sommer. Noch ein Semester länger? Das kann er wirklich niemandem erzählen. Im Sommer gibt es einen Kurs in Photojournalism. Da fällt dem Studenten auf, dass ihm eigentlich schon immer eine Linse gefehlt hat, durch die er die Welt betrachten kann. Und weil der Student sein Studentengehalt gespart hat, beschliesst er sich zum kommenden Geburtstag ein Geschenk zu machen: zum Kauf einer Digitalkamera.

Bislang hat der Student mit einer analogen Point-and-Shoot-Kamera fotografiert. Das hatte etwas Poetisches, denn die Momente mussten sorgfältig ausgewählt werden. Und als der Student die abgelaufenen Filme entdeckte, mit denen die Bilder in einem nostalgischen grünen Schleier rauskamen, war es auch nicht mehr so wichtig, dass sie selten dem Zauber der Momente gerecht wurden. Jetzt aber würde er sie richtig einzufangen lernen: mit der neuen Digitalkamera. Im Fotokurs würde er alle Komponenten eines Bildes beherrschen lernen. Aber es würde weiter etwas Poetisches haben, wie schon die Dozentin in der Kursbeschreibung bestätigte: Photography is drawing with light.

Budget: 400 Euro, notfalls 650. Lieber jetzt etwas mehr Geld in die Hand nehmen als in zwei Jahren wieder eine neue Kamera kaufen. Der Student ahnt, dass es verführerisch sein kann, fotografische Misserfolge mit Geld aufzuwiegen. Ein guter Fotograf kann auch mit einer einfachen Kamera vorzeigbare Bilder machen! Einfach was Solides.

Also rein ins Internet. Vorbei an den ersten Links mit den um bis zu 30 Prozent reduzierten Ladenhütern. Natürlich lassen die reduzierten Preise den Studenten nicht kalt, aber er denkt, dass, was für so viel weniger über den Ladentisch gehen kann, auch nicht viel mehr wert ist. Ausserdem hat er mal irgendwo gehört, dass sie die Preise hochschrauben, bevor sie die Prozentlabels draufmachen. Und bei Saturn oder Mediamarkt will er eigentlich sowieso nicht einkaufen. Ein paar Klicks später findet der Student, was er gesucht hat, und begibt sich in die Welt der Foren und Fotoblogs. Hier möchte er zunächst erfahren, worauf man achten kann. Es gibt spezielle Seiten, die in Tabellen und Spinnennetzgrafiken jeden Aspekt ins Verhältnis setzen: Sensorgrösse, Megapixel, Gewicht, Lichtempfindlichkeit, Videoqualität. Er lernt, was Tiefenschärfe heisst und was ein Crop-Faktor ist. Für alles gibt es Diagramme mit bunten Balken, Tabellen mit grünen Häkchen oder roten Xen. Und es lassen sich stets weitere Details in kleinen Fenstern auffächern.

Der Student steht nun vor der ersten Entscheidung. Die Spiegelreflexkameras drohen verdrängt zu werden. An der Schwelle warten die spiegellosen Systemkameras, bereit zu übernehmen. Sie können das Bild auf dem Sucher mittels eines elektronischen Sensors erzeugen. Das mechanische Umklappen eines Spiegels, der das Bild vom Objektiv in den Sucher umleitet, wird damit überflüssig. Bei seiner Recherche erfährt der Student auch, dass es der Spiegel ist, der das herrliche Geräusch beim Drücken des Auslösers erzeugt. Was beim Fotografieren schon irgendwie dazugehört, findet der Student. Er erinnert sich an einen Frankreichaustausch in Paris, wo er zum ersten Mal eine Spiegelreflexkamera in den Händen hält, mit der er seine Gefühle für deren Besitzerin im Garten von Versailles schüchtern einzufangen versuchte. Klackklack, Klackklack, Klackklack.

Soll er also jetzt den Weg in die Zukunft wagen? Oder steht er dann in ein paar Jahren wie ein Idiot da mit seiner spiegellosen Kamera? (Der Student fürchtet, den Systemkameras könne es ähnlich ergehen wie den Blu-Rays.) Wird einem das elektronisch erzeugte Bild auf dem Sucher bald ganz normal vorkommen, wie man sich eben an alles gewöhnt? Wahrscheinlich haben damals, als die Spiegelreflexkamera rauskamen, auch Leute gesagt: «Durch zwei Spiegel? Das ist kein echtes Sehen!» In einem Blog liest der Student, dass die Hersteller die technische Weiterentwicklung der Spiegelreflexkameras bereits vernachlässigen. Spiegellos bedeutet Zukunftssicherheit.

Sie merken, Entscheidungen dieser Art fallen unserem Studenten nicht leicht. So vieles gilt es zu bedenken! Er versucht, alles sorgsam abzuwägen und nicht leichtsinnig in eine Falle zu gehen. Aber wovor fürchtet sich unser Student eigentlich? Ein Fehlkauf würde schlimmstenfalls bedeuten, dass er die Kamera einfach weiterverkaufen könnte (natürlich mit Verlust, aber auch wenn der Student ein überschaubares Studentengehalt bekommt, würde ihn das nicht ruinieren). Vielleicht fürchtet er auch, die gerade entdeckte Passion in einem unzureichenden Werkzeug zu ersticken. Bislang hat jedenfalls keine Kamera das Gefühl auflodern lassen, das er gerade in sich entdeckt hat. An irgendeiner Stelle hakt es immer.

Oder beisst unseren Studenten etwa sein Gewissen? Schliesslich weiss er um die Produktionsbedingungen moderner Technikgeräte und hat schon lange entschieden, nichts mehr nachzufragen, was nicht unbedingt sein muss. Durch sein Studium kennt er die Tricks der Konsumwelt nur allzu gut. Ihr kann er seine gerade entdeckte Leidenschaft nicht kampflos überlassen. Es gilt also, sich nicht von irgendwelchen überflüssigen Features locken zu lassen. Nice to have is not nice to have!

Inzwischen hat der Student ein paar Wochen recherchiert und angefangen, eine Exceltabelle zu führen, um Ordnung in das Chaos aus Tabs zu bringen (auch wenn ihm das am Anfang etwas spiessig vorkam). So kann er die Übersicht über die Informationen behalten, die er säuberlich aus den unzähligen Seiten herausdestilliert hat. Zufrieden wandern seine Augen über die Zellen mit den nackten Fakten. Es wird Zeit, ein Farbschema zu entwickeln, um vorläufige Tendenzen hervorzuheben. Er verziert ein paar Felder mit verschiedenkräftigen Grüntönen. Rote Felder warnen vor Defiziten: kein Bildstabilisator, sehr kurze Akkulaufzeit, sowas.

Langsam zeichnen sich erste Tendenzen ab. Doch noch immer tut sich kein Modell klar hervor. Da wäre zum Beispiel die Panasonic Lumix DMC-FZ300, eine Bridgekamera. Die Brücke zwischen Spiegelreflex- und Kompaktkamera hat gute Daten (teils kräftiges Grün). Ein echter Allrounder. Klar, das Gold liegt bekanntlich in der Mitte. Aber, obwohl unser Student durchaus kompromissbereit ist, würde er eine exzentrische Ader nie kategorisch von sich weisen, die bei ihm gerade mütterlicherseits angelegt ist und die, wenn er sich das recht überlegt, gut zu seiner neuen Leidenschaft passt. Ausserdem lassen sich bei den Bridgekameras die Objektive nicht wechseln. Mit ihnen hat er sich zwar noch nicht eingehender befasst. Aber sich diese Möglichkeit gleich von vornherein verbauen?

Ob sich unser Student dies zu diesem Zeitpunkt eingesteht, ist schwer zu sagen. Vielleicht würde er es auch nicht zugegeben. Und doch wäre es schwer von der Hand zu weisen, dass es ihm in dieser Sache auch um ein kreatives Ventil, vielleicht sogar das Freilegen einer künstlerischen Ader geht. Die er länger geahnt, aber nicht gründlich genug gesucht hat. In diesem Fall ist die Auswahl keine schwere, viele Talente sind ihm auf diesem Feld nicht gegeben. Pinsel und Staffelei wären schwer vorstellbar, auch musikalisch ist unser Student nicht sonderlich begabt. Aber ein Auge für die Orte und Momente, an denen sich etwas zeigt, hat der Student, das kann er, ohne überheblich zu wirken, sagen, schon immer gehabt.

Das ist es auch, was ihn von den vielen anderen abhebt – und so muss es eben auch bei seiner Kamera sein. Zum Beispiel die mit den metallenen Gehäusen, die gerade in den Unicafés von jedem zweiten Rollkragen baumeln: Wenn das nicht nach pseudointellektuellem Langweilertum schreit? Noch peinlicher sind nur die extra auf alt gemachten «Retrokameras». Wenn das keine Falle ist: «Diese subtile Note verleiht dem Gerät eine ganz eigene Persönlichkeit, die es zu einer erwägenswerten Investition macht.» Ich schau dir in die Augen, gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang! Wirkliches Interesse spiegelt sich eher in den zunächst schlicht daherkommenden, unter Kenner*innen aber für ihre Qualität bekannten Exemplaren.

Selbstverständlich könnte sich der Student auch erst mal eine Kamera leihen. Ein paar Modelle von Freund*innen ausprobieren. Aber das wäre zu einfach. Unser Student lehnt es ab, auf den Spuren anderer zu wandeln. Ausserdem würden sich diese dann wahrscheinlich über ihn lustig machen. Copycat! Nachkaufen verboten: Ein ungeschriebenes Gesetz vielleicht, aber nicht ohne Strafe. Es geht ja gerade darum, sich zu behaupten, sein Eigenes zu finden.

Natürlich hat unser Student die Kursleiterin längst nach einer Empfehlung gefragt, auch wenn ihm kurzsichtig vorgekommen war (der Fotokurs sollte doch erst der Anfang seiner neuen Leidenschaft sein). Die Antwort lässt den Studenten am Morgen einer schlaflosen Nacht innerlich aus der Haut fahren (auch wenn genau genommen nur sein linkes Auge zwei Mal zuckt): «Don’t worry, just some digital camera will do!» Weniger Eingrenzung gibt es nicht mal im Internet! In einem Anflug denkt der Student dann, einfach ein Los aus der Tabelle ziehen zu wollen. Soll doch das Schicksal entscheiden! Das ist natürlich blanker Unsinn, der leicht auf eine in den letzten Wochen gewachsene Nervosität zurückzuführen ist.

Sollten wir uns langsam Sorgen um unseren Studenten machen, der sein Zimmer immer seltener verlässt und auch das Nägelkauen wieder angefangen hat? Hätte ihm nicht einfach eine alte Digitalkamera auf dem Dachboden seiner Eltern in die Hände fallen können? Wie gerne hätte er mit kindlichem Leichtsinn zur Fotografie gefunden…

Welch ein Gräuel der Gedanke, dass irgendwann mal seine Enkelkinder die Kamera, für die er sich jetzt entscheidet, aus einem verstaubten Kellerregal bergen könnten wie einen verlorenen Schatz. Um dann voller Enttäuschung eine Nichtigkeit der Fotografiegeschichte in den Händen zu halten, die schon längst in Vergessenheit geraten ist. Hat Opa mal zwei Wochen ne Fotophase gehabt! Dass daraus nichts wurde, sieht man ja in den Familienfotoalben. Wahrscheinlicher ist es sowieso, dass der Student mit seinem angeborenen Talent, von Fettnäpfchen zu Fettnäpfchen zu springen, eine Kamera der Marke kinderlos ins Grab kauft.

Bei diesem Gedanken wird der Student noch aus einem anderen Grund traurig. Ihn beschleicht der Zweifel, dass die Kameras, die er heute kaufen kann, zwei Generationen später noch funktionieren. Wahrscheinlich kann er froh sein, wenn sie nicht direkt mit dem Verstreichen der Garantie das Zeitliche segnet. Geplante Obsoleszenz nennt man das, dazu hat der Student mal eine Doku gesehen. Ein Teil wird so gebaut, dass es nach einer bestimmten Nutzungsdauer einfach kaputt geht. 4000-mal den Auslöser gedrückt und zack! Das Ersatzteil ist natürlich dann schwer zu kriegen, mit Reparatur fast so teuer wie eine neue Kamera.

Natürlich hat der Student auch daran gedacht, von vornherein eine gebrauchte Kamera zu kaufen. Aber was, wenn sie nach drei Bildern den Geist aufgibt, weil ausgerechnet dann die geplante Obsoleszenz zuschlägt? Dass es Seiten gibt, die gebrauchte Kameras reparieren und dann sogar mit Garantie verkaufen, weiss der Student. So ganz geheuer ist ihm aber auch das nicht. Genau genommen sind das nicht mehr als Friedhöfe ausgemusterter Kameras. Wahrscheinlich müsste er genau die Kamera kaufen, die es dort nicht gibt!

Übrigens: Wir sollten uns scheuen, dem Studenten zu sagen, dass die Stunden, die mittlerweile in die Recherche geflossen sind, bei einem einfachen Caféjob für eine, vielleicht sogar zwei sehr passable Kameras gereicht hätten. Darum geht es hier nicht. Bei Entscheidungen geht es schliesslich nicht um ein einfaches Entweder-oder: Vielmehr sind sie ein Persönlichkeitstest, in dem sich Verhaltensmuster einspielen, die dann immer schwerer abzuschütteln sind. Wer blind eine Kamera kauft, spielt vielleicht irgendwann Lotto in der Hoffnung auf das ganz grosse Glück!

Inzwischen ist der Geburtstag des Studenten verstrichen. Das macht natürlich nichts, wenn man sich selbst beschenkt. Ohnehin war dem Studenten der Gedanke immer fremd, auf einen Stichtag hin einen Gegenstand zu suchen, der eine besondere Wertschätzung ausdrückt. Nicht dass sich alle diese Mühe machten. Auf seiner Kommode zeugen albern formulierte Karten, die gleichzeitig ein Gutschein sind, davon, wie man sich gekonnt aus der Affäre zieht.

Auch wenn das Auslandsemester immer kürzer bevorsteht und die Zugtickets immer teurer werden, wäre ein Einknicken nach alledem natürlich lachhaft. Im Fotokurs würde er an nichts anderes denken können als an die Kamera, die sich gleich in der ersten Sitzung als die richtige herausstellen würde. Die, wie es die ironische Natur jeder Geschichte verlangt, in den Händen einer anderen Kursteilnehmerin liegen würde, um den Studenten mit jeder Sitzung mehr ins Verderben zu stürzen. Klackklack, die wars, die wars.

Mittlerweile ist in unserem Studenten der Entschluss gereift, dass ihn das nahende Auslandssemester nicht zu einer Entscheidung zwingen sollte. Schliesslich war der Fotokurs lediglich der Anlass, seinem Hang zur Fotografie nachzugehen. Im Grunde hatte er nur den Fokus geschärft auf eine bislang im Verborgenen gelegene Seite, die irgendwann zwangsläufig zutage getreten wäre. Das Auslandsemester hätte den Lauf der Dinge jetzt nur beschleunigt, ihm gewaltsam eingeheizt, unnatürlich Tempo in einen Reifeprozess gebracht, Dünger auf eine Pflanze gegossen, sie so abhängig gemacht, sodass sie ohne den Wachstumsbeschleuniger das Wachsen verlernt hätte und irgendwann eingegangen wäre. Unser Student ist sich sicher: Das Auslandsemester anzutreten, wäre ein Fehler! Bedauerlich, natürlich, auch um den ganzen Aufwand beim Bewerbungsprozess – das darf aber kein Grund sein, irgendwohin zu gehen und sich seine Fotoleidenschaft zu verderben.