Erblast als Chance. Interview mit Albert Lutz und Esther Tisa
RUEDI WIDMER: Seit 16 Jahren bist du Direktor des Museum Rietberg und insofern auch Erbe einer Sammlung. Wie gehst du damit um?
ALBERT LUTZ: Die Verantwortung wird je länger desto schwerer. Wir müssen uns an die Zeit anpassen. Wir können und müssen eine Zukunft vorausdenken. Das macht den Job herausfordernder. Allerdings sehe es ich immer noch als unsere Hauptaufgabe, dass wir Dinge bewahren, in ihrem Wert würdigen und entsprechend ausstellen. Da finden wir uns im Konsens mit einem Land wie beispielsweise der Elfenbeinküste, dessen Kulturminister in unserer Institution die grosse Chance sieht, mit Kunst aus der eigenen Geschichte von einem Publikum in Europa wahrgenommen zu werden – übrigens auch und gerade darin, dass wir Dinge, die in seinem Land eher als Ritualobjekt gelten, als Kunst in unserem Sinne sehen und ihnen damit Wert verleihen. Oder mit dem koreanischen Botschafter, der bedauert, dass Korea bei uns nicht vertreten ist.
RUEDI WIDMER: Für mich ist interessant, dass du nicht von einer grösser gewordenen, sondern von einer schwerer gewordenen Verantwortung sprichst.
ALBERT LUTZ: Dass ich die Verantwortung als schwer bezeichne, sagt ja nur, dass wir sie spüren und ernst nehmen.
RUEDI WIDMER: Was konkret hat denn dazu geführt, dass die Verantwortung schwerer wurde?
ALBERT LUTZ: Es ist das Wissen. Ich bin jetzt 30 Jahre hier. In den ersten 20 Jahren habe ich mich mit der Provenienz praktisch nicht beschäftigt, weil das kein Thema war. Mir ging es um die Kunst. Ich wollte beispielsweise zwei alte versunkene Kulturen, die noch niemand gezeigt hatte, zeigen. Das hat mich angetrieben.
ESTHER TISA: Unsere Hauptaufgabe ist ja, die in der Sammlung repräsentierte Kunst und Kultur zu vermitteln. Dabei müssen wir natürlich auch Wissen über die Herkunftskontexte vermitteln.
ALBERT LUTZ: Ein Beispiel: In der Afrikaausstellung sah man Produktions- und Lebenskontexte in Filmen aus den 30er und 50er Jahren.
RUEDI WIDMER: Und dann hat sich gezeigt, dass man auch über den grösseren Kontext sprechen muss.
KATHARINA FLIEGER: Diese Filme sind interessant, da sie als solche Zeitzeugnisse sind. Sie erzählen, wie man damals auf Afrika blickte, Stichwort Exotismus, das Verhältnis zum sogenannt Primitiven. Was tut ihr, um diese Themen sichtbar oder lesbar zu machen?
ALBERT LUTZ: Ich glaube, dass dieser Zugang sich heute durch das Material von selbst erschliesst. Im Katalog sieht man ja beispielsweise unseren ehemaligen Direktor mit dem Tropenhelm, als Forscher in diesem Afrika. Damals ging man so zu diesen Kulturen und hat das dokumentiert. Ich sehe daran aber auch etwas Verdienstvolles und Bemerkenswertes: Damals hat sich kaum jemand dafür interessiert, wie solche Werke entstanden. Feldforschung ist auch heute – unabhängig von der Frage, wie wir sie betreiben – etwas, was zu wenig gemacht wird.
RUEDI WIDMER: Wir haben nun schon einiges gehört über Sinn und Zweck des Museums für aussereuropäische Kunst. Dennoch will ich mit Bezug auf unsere zweite These, noch einmal ganz direkt fragen: Was ist, kurz zusammengefasst, die Daseinsberechtigung des Museums Rietberg?
ALBERT LUTZ: Wir sind in vielen Fällen die einzigen, die diesen Werken, und damit auch den in ihnen verkörperten Kulturen, eine würdige Bühne geben und damit ermöglichen, dass man sich in der Schweiz wie anderswo vertiefend damit auseinandersetzen kann. Aus meiner Sicht ist das Daseinsberechtigung genug.
RUEDI WIDMER: Esther Tisa, deine Aufgabe ist ja explizit, herauszufinden, woher die Dinge kommen, auch: welche Mentalitäten in früheren Epochen prägend waren. Wie manifestiert das Museum Rietberg die kritische Distanz zu solchen Mentalitäten?
ESTHER TISA: Primär geht es um den Umgang mit der Vergangenheit. Eduard von der Heydt, deutscher Banquier, NSDAP-Mitglied, sammelt hervorragende aussereuropäische Kunst, und die Stadt Zürich kommt zu diesem Geschenk. Unser Anspruch ist: Da wollen wir genauer hinschauen. Dass wir dies tun, manifestieren wir auf unserer Website, und die Provenienzen sind auch, soweit das seit Projektbeginn leistbar war, in der Online-Museumsdatenbank dokumentiert. Vertiefte Auseinandersetzungen zu dem damit verbundenen Themen finden sich in Texten in Publikationen, und wir haben ja auch eine Ausstellung zur Sammlung selbst gemacht. Darin wollten wir uns nicht von unserem Gründungssammler distanzieren – wir wollten aber transparent und lesbar machen, wer er war und wie die Sammlung zustande kam.
RUEDI WIDMER: Warum keine kritische Distanznahme seitens des Museum?
ESTHER TISA: Da wären wir bei einem Urteil. Wir würden fragen: gut oder nicht gut? In der Geschichte geht es nicht darum, sondern darum, zu erklären; und zwar auch und gerade das, was nicht so einfach zu erklären ist.
RUEDI WIDMER: Wo wurde bisher der Anspruch, „hinzuschauen“, aus Deiner Sicht am überzeugendsten umgesetzt worden?
ESTHER TISA: Die ganze Sammlung des Rietbergs umfasst mehr als 25‘000 Objekte. Wir haben mit der 1600 Objekte umfassenden Sammlung von der Heydt begonnen. Da haben wir bei unklaren Fällen ganz genau hingeschaut und die Ergebnisse auch publiziert. In einem Fall kam es zu einer Entschädigung, in einem anderen komplexen Fall konnten wir feststellen, dass die Objekte im rechtmässigen Eigentum des Museums sind.
RUEDI WIDMER: Neben der Frage der Sammlungsgeschichte gibt es die Frage des Kunstbegriffs. Ihr sagt, auch um euch abzugrenzen gegenüber anderen Erwartungshaltungen, dass ihr ein Kunstmuseum seid. Auch hier müsst ihr euch meiner Meinung nach erklären. Warum sprecht ihr, als ob das so selbstverständlich wäre, von Kunst?
ALBERT LUTZ: Es gibt da eine Tradition. Der erste Direktor, Johannes Itten, hat aussereuropäische Kunst nach ästhetischen, vom Bauhaus her geprägten Kriterien ausgestellt. Diesen Approach haben wir übernommen und sind ihm, verbunden mit dem Anspruch der Wissensvermittlung, von dem wir schon sprachen, bis heute mehr oder weniger treu geblieben.
RUEDI WIDMER: Zwei Punkte müsste man denke ich ergänzen: Erstens gab es gerade in der klassischen Moderne, auf die du dich berufst, verschiedene, oft auch undeklarierte Formen der Aneignung sogenannt primitiver Kunst. Zweitens ist es für unsere Epoche prägend, dass das Ästhetische in der Wahrnehmung des Publikums von den grösseren Zusammenhängen abgelöst wird.
ALBERT LUTZ: Die „Vitrinisierung“ solcher Objekte ist tatsächlich ein wichtiges Thema. Es ist richtig, dass wir so dem Objekt eine Aura verleihen, und dass darin ein Zwiespalt liegt. Wir tun das aber mit grosser Sorgfalt, und ich sehe darin eine Form der Wertschätzung. Zum Kunstbegriff: In China oder Japan gibt es sehr wohl eine Kunsttradition, mit frühen Formen der Kunstkritik, von Künstlerbiografien usw. Der Kunstbegriff ist hier, unter anderen Vorzeichen aber auch in Afrika, sehr wohl am Platz. Das Wollen von Kunst gibt es in allen Kulturen.
RUEDI WIDMER: Das leuchtet soweit ein. Ich meine nur, dass ein Kunstbegriff wie derjenige der Renaissance, auch und gerade wenn er viel zu tun hat mit bestimmten Merkmalen der heutigen Kunstwelt, genau zu definieren ist. Und dasselbe gilt dann auch für die Kunst in China des 8. Jahrhunderts oder die Produktion stammes-religiöser Objekte in Nigeria des 19. Jahrhunderts. Wenn dies nicht geschieht, ist es die Vitrine, die uns glauben macht, dass alles grundsätzlich gleich ist.
ALBERT LUTZ: Das sehen wir genau so.
RUEDI WIDMER: Ein letzter und sicher nicht unwichtiger Punkt bei der Selbstlegitimation ist der Zuspruch, der sich über Besucherzahlen und den durch Sponsoren ermöglichten Selbstfinanzierungsgrad zeigt.
ALBERT LUTZ: Es gibt eine Erwartungshaltung, dass wir stets einen höheren Eigenfinanzierungsgrad und immer mehr Publikum aus immer mehr gesellschaftlichen Segmenten generieren. Da gibt es aber Grenzen. Der Eigenfinanzierungsgrad lag letztes Jahr bei beachtlichen 48 Prozent. Unsere Besucherzahlen sind insgesamt stabil. Natürlich suchen wir immer neue Besuchergruppen und sind dabei auch immer wieder erfolgreich. Aber es ist nun einmal schwer denkbar, dass unser Publikum alle Bevölkerungsgruppen gleichmässig abbildet.
RUEDI WIDMER: Du votierst also dafür, dass eine zahlenmässige Vergrösserung nicht möglich ist oder angestrebt werden soll?
ALBERT LUTZ: Du sprichst wie ein Politiker.
RUEDI WIDMER: Meine Frage ist mehr, ob es nicht vielleicht jenseits der Zahlen starke Argumente dafür gibt, Bibliotheken oder Museen gerade dann weiterhin öffentlich zu finanzieren, wenn sich proportional nur ein kleiner Teil der Bevölkerung mit diesen Inhalten tiefergehend beschäftigt.
ALBERT LUTZ: Solche Argumente gibt es allerdings. Darin, dass wir uns beispielsweise in relevanter Weise mit japanischer Kunst auseinandersetzen, hat die ganze Gesellschaft, der Standort als solcher mit eingeschlossen, einen bedeutenden Gewinn, der sich in Besucherzahlen nicht fassen lässt.
RUEDI WIDMER: Geht es um Bildungseffekte?
ESTHER TISA: Ich denke ja. Es geht um die Nachhaltigkeit der Erfahrungen, die jemand in einer Ausstellung machen kann – auch und gerade wenn sie nicht als Blockbuster konzipiert ist.
ALBERT LUTZ: Die Erfolgsnachweise können sehr verschieden sein. Was ist uns wichtiger – eine Seite in der F.A.Z. zu unserer Ausstellung über indische Malerei oder das Mädchen aus Sri Lanka, das in der Schulklasse noch nie gesprochen hat, und nun zu sprechen beginnt, weil sie in der Ausstellung einen Gott sieht, den sie kennt?
ESTHER TISA: Das Frage der Provenienz von Kunst wird hier zur Frage der Provenienz von Geld. Einerseits weiss ich als Historikerin, die an der Arbeit der Bergier-Kommission beteiligt war, um das Gewicht der Frage, und sie ist auch legitim. Anderseits leben wir in einer Zeit, in der sogar der Umstand, dass ein Lohn aus Steuergeld bezahlt wird, dazu gereichen kann, den Lohnempfänger in Zweifel zu ziehen. Wenn wir eine solche Denkweise pflegen, können wir mit einem Finanzierungsmodell wie dem unsrigen zusammenpacken. Wichtig ist, dass die Programmierungshoheit alleine in unserer Hand liegt.
RUEDI WIDMER: These 3 nimmt die Frage auf, wie wir in einer multiperspektivischen Welt mit der Relativität unseres Standpunktes umgehen.
ESTHER TISA: Die historische Ausgangslage ist klar: Unser Blick ist längst nicht mehr der eines unhinterfragten Zentrums der Welt, sondern das Gewicht von Europa in der Welt ist relativ geworden.
ALBERT LUTZ: Es gibt aus meiner Sicht nur einen Umgang mit der Frage. Wir müssen den Austausch weitertreiben. Das Gegenbild, dass man die Kultur dort konzentriert, wo sie herkommt, dass man also beispielsweise alle Giacometti-Werke wieder ins Bergell zurückführt, ist für mich eine Horrorvorstellung. Eigentlich müsste die Kunst der Côte d’Ivoire bei uns sichtbar sein, und es müsste Giacometti-Kunst in Abidjan geben. Dass das nicht so ist, hat natürlich viel damit zu tun, dass wir das Geld haben und somit darüber mitbestimmen können, welche Kunst wo zu sehen ist. Deshalb intensivieren wir Kooperationen mit Museen in der ganzen Welt.
RUEDI WIDMER: Du hast eingangs Repräsentanten von Ländern wie Elfenbeinküste oder Korea zitiert. Du kooperierst mit Museumsdirektoren aus Indien oder Peru, also mit deinen Kollegen. Im Museum werden Welten evoziert, die es am Herkunftsort so nicht mehr gibt. In der Schweiz leben aber nicht wenige Nigerianer, Tibeter, Inder, Chinesen usw., die weder Kunsthistoriker noch Kulturminister noch Botschafter sind. Könnte das Museum Rietberg nicht viel stärker ein globalisierter Ort sein, der immer noch die Kunst ins Zentrum stellt, aber für solche Blickrichtungen mehr Räume öffnet?
ALBERT LUTZ: Wir haben in diese Richtung schon viel versucht. Wir veranstalten Workshops, in denen Kunsthandwerker und Künstler aus verschiedenen Ländern das tun, was sie auch sonst tun. Natürlich geht es, wenn Japan das Thema ist, um Teezeremonien, und natürlich ist das nur ein Japan. Aber immerhin ist es schon gelungen, dass zu bestimmten Ausstellungen Leute aus Japan oder Sri Lanka hierher kamen. Es wurden hier auch schon mehrfach Feste solcher Communities gefeiert.
KATHARINA FLIEGER: Aber die Antwort auf die Frage, was wertvolle aussereuropäische Kunst ist, gebt ihr – natürlich mit hohem Wissen und wissenschaftlicher Kompetenz – weiterhin selbst.
ALBERT LUTZ: Warum laden wir Künstlerinnen und Künstler ein, ihren Blick auf diese Objekte zu werfen? Warum führen wir mit Euch den Dialog und lassen uns kritische Fragen stellen? Wir wissen, dass wir uns in dieser reichen Hälfte der Welt befinden, und dass damit Privilegien verbunden sind, aber keine Wahrheitsansprüche. Wir haben keine Antworten, die man nicht noch einmal befragen sollte. Deshalb suchen wir diesen Dialog, und daraus wollen wir auch lernen. Aber bei alledem haben wir ein Kerngeschäft. Dieses liegt nicht darin, dass wir Blicke von aussen auf unsere Sammlung werfen lassen. Wir kümmern uns um Kulturen und ihre Zeugnisse, ihnen wollen wir gerecht werden. Was mich betrifft, habe ich wirklich eine Liebe zu diesen Kulturen. Dass sie untergehen können oder schon untergegangen sind, ist dabei nicht ohne Belang.
KATHARINA FLIEGER: Das klingt für mich so, als ob ihr einen Innenblick hättet. Aus meiner Sicht ist aber, bei allem Wissen, auch euer Blick ein Aussenblick.
ALBERT LUTZ: Das ist richtig. Aber man kann in redlicher Absicht und in langjähriger Forschungsarbeit versuchen, beispielsweise die chinesische Kunst aus ihrer eigenen Sicht zu interpretieren. Genau das tun wir, wenn immer möglich im Dialog mit Leuten aus dem Ursprungskontext, und im Wissen um die eigene Prägung. Ein Anspruch auf Deutungshoheit ist damit nicht verbunden.
Das Interview mit Albert Lutz (Direktor Museum Rietberg) und Esther Tisa (Leiterin Provenienzforschung Museum Rietberg) wurde von Ruedi Widmer und Katharina Flieger am 2. Juli im Museum Rietberg geführt. Die Zollfreilager-Reihe Der Balken in meinem Auge. Reflexivität als Ressource versammelt Gespräche mit AkteurInnen der Kunst und Kulturvermittlung.
Spezialausgabe
Gastspiel im Gastspiel
Die Gesprächsreihe «Der Balken in meinem Auge. Reflexivität als Ressource» wurde zwischen 2014 und 2022 von verschiedenen Mitgliedern der Zollfreilager-Redaktion bespielt.