«Empathie ist lernbar, sie braucht Geduld, Raum und Zeit». Interview mit Ivy Monteiro
DAMIAN CHRISTINGER: Die Produktionsgesellschaft, die Du gegründet hast und die auch das Stück «Las Templas» produziert, das Du für das Theaterspektakel auf die Bühne des Tanzhauses bringst, heisst Verein Tropikahlismus. Warum?
IVY MONTEIRO: Einerseits ist dies natürlich eine Referenz an die Tropicalismo-Bewegung in Brasilien. Während der Militärdiktatur schufen Student:innen aus einer Position der relativen Privilegierung eine Pop-Subkultur, die eine Form des Widerstands bildete. Tropicália, wie das Genre auch genannt wurde, verband Popmusik mit Poesie, Mainstreamfilme mit dem Theater, das Populäre mit einer Avantgarde. Andererseits verbindet sich der Name mit Frida Kahlo, einer wunderbaren Frau und Künstlerin, aber auch einer Figur, einer medialen Chiffre, die für das Überwinden von Benachteiligungen steht, für einen eigenwilligen Stil trotz körperlicher Beeinträchtigung und Schmerzen.
Tropicália steht auch für einen revitalisierenden Rückgriff auf eine Denkfigur der brasilianischen Moderne, auf das Prinzip des Anthropophagismus, auf das Manifest von Oswald de Andrade von 1928, das den Kannibalismus, das sich Einverleiben des Anderen aus dem Gleichen, auf die kulturelle Fahne schrieb. Frida Kahlo wird so von einer mexikanischen Figur zu einer brasilianischen Ikone, zu einer Inspiration in Zürich?
Unbedingt. Es ging bereits beim «Manifesto Antropófago» um Widerstand durch verschiedene Körper und Notwendigkeiten. Der jetzige Moment in Brasilien verlangt wieder nach einer solchen Bewegung und es ist kein Zufall, dass die Gegenwehr vorwiegend durch die queere Jugend erfolgt. Figuren sind notwendig, um der gesichtslosen Apokalypse etwas entgegenzusetzen.
Wir leben bereits in der Apokalypse?
Viele von uns tun das, ja. Es sind tausende kleine Apokalypsen, die tagtäglich erlebt werden. Insbesondere auch in unserer Community, in der wir immer wieder mit Gewalt und Selbstmorden konfrontiert sind. Das beste Gegenmittel ist die Schaffung von Orten der Gemeinsamkeit, der Freiheit und Gleichheit. Hier bin ich sehr aktiv involviert und daraus wächst auch meine künstlerische Arbeit. Aktivismus und Kunst bedingen sich gegenseitig, wir sind als Künstler:innen in einer relativ privilegierten Situation, was uns dazu verpflichtet, den Apokalypsen etwas entgegenzusetzen.
«Las Templas» kombiniert gemäss der Ankündigung «Tanz, Klang und Projektion für die Beschwörung eines utopischen Raums, der Ausdruck und Mitteilung ermöglicht – auch denjenigen, denen das sonst so oft verwehrt bleibt.» Wenn Du einen utopischen Raum beschwörst, wie siehst Du dann die Zukunft?
Verschwommen und neblig. Ich kann mir momentan keine positive Zukunft auf diesem Planeten vorstellen. Deswegen stelle ich mir eine Zukunft vor, die auf einer alternativen Geschichte beruht. «Las Templas» sind wie eine Gurl-Band der Zukunft, jeder Körper ein Tempel der Spiritualität, gemeinsam bilden wir ein Raumschiff für die Reise in ein anderes Jetzt.
Die Utopie findet sich im Pop, in einer hedonistischen Spiritualität?
Ich bin als Netzwerker:in und Gestalter:in im Voguing Ballroom aktiv. Dort kreieren wir mit den Mitteln des Tanzes und des Ausdrucks aus dem Pop erstens einen sicheren Raum für alle und in einem zweiten Schritt ein Vokabular der Heilung. Die Codes, die wir verwenden, sind wie ein Anker für verlorene Seelen. Erfahrungen von Leid und Gewalt, von Diskriminierung und systematischer Benachteiligung können transformiert werden. Ja, ich bin ein spiritueller Mensch. Das heisst nicht, dass wir naiv sind. Hedonismus ist eine Form des Widerstands, ein Raum, in dem wir uns Gehör verschaffen können. Wir kreieren Alter-Egos, Voguing-Figuren, alternative Existenzen, die aber dem Kern dessen entspringen wer wir sind, und nicht dem, was wir sein sollen. Die utopische Perspektive ermöglicht dann einen Blick auf eine dystopische Gegenwart. Wir alle befinden uns momentan in einem konstanten Zustand der Anspannung und Beklemmung. Die Codes, die wir innerhalb des Hedonismus schaffen, bringen auch Trost und Entspannung. Das orgiastische, eine gelebte, freie Sexualität sind immer auch Mittel der Heilung. Die Musik ist dabei die Wurzel, von der aus ich arbeite, denke und fühle.
Verstehe ich, als jemand der nicht Teil dieser Welt ist, diese Codes, die ihr abruft?
Wahrscheinlich nur teilweise. Zuerst ist «Las Templas» ein Raum, der sich für uns auftut, in dem sich queere Menschen bewegen und Platz beanspruchen. Du bist aber herzlich eingeladen, auch Platz zu nehmen, Deinem Nicht-Verständnis und uns mit Respekt zu begegnen. Das ist manchmal alles, was man braucht, wenn man zum Beispiel erschöpft ist. Dass jemand Platz macht und wir uns hinsetzen und erholen können. Dann kommen wir vielleicht ins Gespräch. Für Dich ist es zuerst einmal unmöglich, die Erfahrungen, die wir machen mussten und auch durften, nachzuvollziehen. Was schwarze, queere Körper erleben, ist Dir fremd, vielleicht weit weg. In der Utopie, die wir mit «Las Templas» imaginieren, kommst Du auch nicht vor, in dieser Zukunft sind wir sicher, unter uns. Gleichzeitig siehst Du uns, wir haben eine Bühne, Du kannst uns beobachten und dabei lernen, vielleicht fühlst Du dich uns nachher näher, begegnest ähnlichen Codes in der Zukunft und lernst die Zeichen zu lesen. Empathie ist lernbar, sie braucht Geduld, Raum und Zeit. Auf dem Weg dahin können wir aber sicher zusammen eine gute Zeit haben, den Hedonismus und den Pop nutzen, um uns gegenseitig wirklich kennen zu lernen.
Welche Rolle spielt die Bühne von «Las Templas» für die Community?
Eine grosse. Vor 10 Jahren habe ich mir unmöglich vorstellen können, einmal die Möglichkeiten zu haben, die sich mir heute auftun. Dass ich nicht nur mich selbst sein kann, sondern dieses Selbst auch verwenden kann, um anderen zu helfen, für sie da zu sein, den Raum, der sich auftut, zu erweitern und zugänglich zu machen. Es hat sich in kurzer Zeit einiges bewegt, es bleibt trotzdem noch viel zu tun. Dass sich auch die Bühnen öffnen, ist dabei essentiell. Die Figuren, die ich kreiere und bewohne, brauchen die Bühne, um sich ausdrücken zu können. Die Community braucht gemeinsame Bühnen, um zu erleben, dass vieles möglich ist, dass wir nicht nur da, sondern auch sichtbar sind. Gleichzeitig sind Bühnen auch Möglichkeiten der Interaktion, des Austausches. Wie gesagt: Empathie ist lernbar.
Spezialausgabe
Figuren des Figurierens
Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.