Eine Ode an die Vielsprachigkeit
Oder: Wie der Turmbau zu Babel auch hätte ausgehen können. Das Stück «Space – The Third Season» zeigt eine alternative Variante, wie mit Vielsprachigkeit und Meinungsvielfalt umgegangen werden kann – mit Musik, Harmonie und ordentlich Chaos.
Socalled alias Joshua David Charles Dolgin eröffnet sein Puppenmusical Space – The Third Season mit einer Lüge: «This is not going to be political.» Und ob. Das anarchische Stück dünstet aus jeder einzelnen Pore politische Botschaften aus.
Das Musical des kanadischen Regisseurs erzählt die Geschichte einer Familienwiedervereinigung, die jedoch durch restriktive Gesetze behindert wird. Das mag ernster klingen, als es nachher auf der Bühne tatsächlich dargestellt wird. Zu sehen sind dort singende und tanzende, bunte Handpuppen à la Sesamstrasse. Die sogenannten «Fuzzies» leben auf einem Planeten, wo sie von einer Königin in Farben und Singstimmen unterteilt wurden und jeder nur mit den gleichfarbigen Fuzzies seine Melodie singen darf. Diese Herrscherin, gehüllt in ein Glitzerkostüm und mit einer Art Lumpenzepter in der Hand, musste von ihrem kriegsgepeinigten Heimatplaneten flüchten. Die Ursache des Krieges sieht die Königin, verkörpert von der indischen Sängerin Kiran Ahluwalia, in der Vielstimmigkeit, die dort zu Konflikten geführt hatte. Die ihr als interplanetarisch-imperialistischen Königin anvertrauten Fuzzies will sie vor diesem Schicksal bewahren.
Darum ist musikalische Harmonie strengstens verboten. Die rote Fuzzy-Frau Tina hat bei einem Ausflug auf die Erde mit einem Bär eine Tochter gezeugt, doch der Vater ist verschwunden. Nun hat ihn die Tochter gesucht, gefunden und mit heimgebracht. Als der Besucher vom Planeten Erde nicht im Chor mit den anderen roten Fuzzies singt, sondern seine eigene Melodie trällert, will ihn die Königin einsperren. Der Bär aber rennt weg und lernt auf seiner Flucht weitere Ausgestossene kennen. Gemeinsam sorgen sie für Furore am Sing-Festival der Königin, auf das alle Fuzzies stets hinfiebern. Aus dem Chaos heraus singt plötzlich auch die Königin in Harmonie.
Es mag Zufall sein, dass sowohl Kanada als auch die Schweiz über mehrere Landessprachen verfügen. Nichtdestotrotz wirkt es, als spreche Socalled in seinem Stück nicht nur von Vielstimmigkeit, sondern auch von Vielsprachigkeit und vor allem von Meinungsvielfalt. Von Zensur, Monotonie und Einheitlichkeit soll – wenn auch ausgeübt durch Angst vor Dissonanz – abgesehen werden. Damit negiert Socalled die Parabel vom Turmbau zu Babel und hält fest, dass Vielsprachigkeit – sei sie denn linguistisch, musikalisch oder haltungsspezifisch ausgeprägt – nicht zwingend zu einer Katastrophe führen muss. Vielmehr hängt der Ausgang einer solchen Pluralität von den Intentionen und der Offenheit der einzelnen Individuen ab.
Interessant wird Space – The Third Season aber nicht nur durch diese mit intelligentem Witz verpackten linguistisch-politischen Fingerzeige, sondern vor allem auch durch den vermeintlichen Dilettantismus, der mit dem Bühnenbild und den Puppen suggeriert, aber durch die hochprofessionelle musikalische und schauspielerische Leistung aufgefangen wird. Zu Beginn sind auf der Bühne lediglich zwei schmutzig wirkende, farbige Leintücher zu sehen, die über etwas Undefiniertes gespannt wurden. Unter diesem Wäscheberg, der auch eine Bastelecke in einer Primarschule sein könnte, verstecken sich Puppenspieler, die erstaunlich synchron mit den Sängern und Sprechern agieren, welche hinter einer halbtransparenten Leinwand versteckt sind. Die Musikanten wechseln spielend zwischen Broadway-Popsongs, Klezmer-Klängen, Wüsten-Blues und Rap hin und her. Socalled selbst ist am Klavier zu erkennen – immer dann, wenn die Leinwand nicht gerade durch einen Beamer zum Feuerwerk oder Weltall wird.
Socalleds Stück führt die Zuschauer in eine völlig andere Welt. Und obwohl die Themen doch so nah sind, passt es wunderbar auf die Seebühne. Auf die Scheinwerfer montierte Collagen werfen Schatten auf die Bühne, die im selben Rhythmus tanzen, wie das Licht, das vom Theaterspektakel aus auf die Wasseroberfläche des Zürichsees fällt. Und ein bisschen wirkt das beleuchtete Seeufer im Hintergrund fast schon wie ein ferner Planet, auf dem die Bewohner trotz verschiedener Sprachen zu einem gemeinsamen Verständnis finden, was irgendwie auch wahr ist – und irgendwie auch nicht. Beim Gang von der Saffainsel zurück auf die Landiwiese und in die Realität hängt die drängende Aufforderung der Fuzzies nach.
Trotz vier verschiedenen Sprachen scheint in der Schweiz eine Art Grundverständnis füreinander vorhanden zu sein. Die Vielsprachigkeit gehört zur nationalen Identität dazu. Doch bei der Meinungsvielfalt wird es schwieriger: In den oftmals hitzigen politischen Debatten und der zunehmenden Entfernung der persönlichen Realitäten voneinander ist die Versuchung gross, «falsche» Meinungen vom öffentlichen Diskurs auszuschliessen, weil sie den eigenen Wertvorstellungen zuwiderlaufen. Noch grösser wird dieses Bedürfnis, wenn Menschen, die – von der eigenen Warte aus gesehen – falschen Grundprämissen folgen, in die Position kommen, wichtige Entscheidungen für alle zu treffen. Die Diskussion, wer in einer Demokratie mitregieren darf, ist schwierig. Aber sie ist eine der Schlüsseldebatten unserer Zeit. Man kann der Königin der Fuzzies gut nachfühlen. Doch auch dem vielstimmigen Chor ihrer Untertanen sollte man lauschen, denn sie singen einem zu: «Wir sind nicht Babel!»
Spezialausgabe
Turmbau zu Babel
Deborah von Wartburg (*1991), Absolventin des Master Kulturpublizistik der ZHdK, ist Journalistin. Sie interessiert sich für gesellschaftliche Fragen auf und neben der Bühne und mag es, wenn im Theater mediale Grenzen verschwimmen.