Ein Halt in Kljuc
Manchmal kommst du zurück an einen Ort, der deiner war, jetzt aber schon nur deshalb ein anderer geworden ist, weil du eine andere geworden bist. Vielleicht ist Identität eine Reise? Vielleicht ist Migration das, was wir alle täglich tun?
Auf meiner Reise von Bihac nach Sarajevo hält der Bus in «Kljuc», was übersetzt «Schlüssel» bedeutet. Ein Schlüssel wofür? frage ich mich, als der Bus, der etwas zu gross für diese schmale Dorfstrasse ist, an den Häusern vorbeirauscht.
Kljuc, stelle ich bei der Fahrt fest, ist ein Kaff. Angeblich stand während der Zeit des Osmanischen Reichs hier eine Festung. Übrig geblieben ist davon noch ein Turm, der wie vieles in Bosnien im Krieg zerstört und danach aufwändig restauriert werden musste. Ansonsten gibt es hier nicht viel zu sehen: Rund herum nur Bäume und Berge. Ich muss an eine Szene aus einem Dokumentarfilm denken. Als die Kriegsparteien ein 3D-Modell von Bosnien von oben auf- und abfahren, um den Verlauf des Korridors zu bestimmen, der den bosnischen Teil mit der Enklave Gorazde verbinden soll, meint der US-Sondergesandte Richard Holbrooke zum damaligen serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic verblüfft: «Da sind ja nur Berge, keine Dörfer, keine Häuser, nichts als Berge!» – «Das ist eben Bosnien!» entgegnet dieser.
«Sei nur froh, dass du in der Schweiz lebst!» sagen die jungen Leute bei meinen Besuchen hier immer zu mir. Heute ist der Balkan eine Region, in welcher meine Generation für sich keine Perspektive sieht. Egal, ob aus Serbien, Kroatien oder Bosnien, die Mehrheit der Jungen hier will nichts wie weg. Ist es das, wovon die Nationalisten geträumt haben? Dass ihre Kinder eines Tages vielleicht ein paar Wochen im Jahr, nicht aber ihr ganzes Leben verbringen wollen?
Ich wüsste wirklich gerne, was aus mir geworden wäre, hätte es diesen Krieg nicht gegeben.
Als ich wieder aus meinen Gedanken auftauche, fährt der Bus auf einen Parkplatz, wo wir einen kurzen Stop einlegen.
Ich steige aus dem Bus und suche die Toilette auf. Als ich eintrete, wandert mein Blick von der gegenüberliegenden leeren Wand auf das Loch im Boden. Beim Anblick des Plumpsklos wird mir richtig heimatlich zumute. Ich erinnere mich daran, wie meine Eltern mit mir und meiner Schwester das erste Mal nach Kriegsende nach Sarajevo fuhren. Ich war damals sechs und sah ich meine Grosseltern in diesem Sommer zum ersten Mal. Jedenfalls kam es mir so vor. Zwar wohnten wir vor Kriegsbeginn mit ihnen im selben Haus, aber da ich noch ganz klein war, konnte ich mich nicht mehr an sie erinnern.
Neben meinen Grosseltern, meiner Geburtsstadt und dem Haus, in welchem mein Vater aufwuchs, sah ich in diesem Sommer ’96 auch zum ersten Mal ein Plumpsklo. Zwar diente es nur als Zweitklo, trotzdem musste ich immer mal wieder darauf ausweichen. Es stand draussen, gleich vor dem Haus meiner Grosseltern. Darin war es dunkel und feucht, Klopapier gab es keines, nur einen Wasserhahn. Ich fand das eklig. Später lernte ich, dass hier auf dem Balkan das Gegenteil davon eklig war, nämlich Klopapier, aber kein Wasser zu haben.
Gleich neben dem Ticketschalter, dem Klo und einem leerstehenden, dem Zerfall geweihten Geschäft mit dem Schild «Izdaje se» (zu vermieten) steht ein Kiosk. Ich werfe einen Blick in den winzigen Kühlschrank mit Getränken, der vor dem Eingang steht, und suche ein Red Bull, finde aber keines. Stattdessen greife ich nach einer Tüte Smoki (Erdnussflips) im Regal daneben und betrete den Laden. Hinter der Theke steht ein alter Mann, im Hintergrund läuft jugoslawische Volksmusik. Ich reiche ihm die Tüte. «Sonst noch etwas?» – «Haben Sie Red Bull?» frage ich. – «Vielleicht, sehen Sie draussen im Kühlschrank nach!» Obwohl ich bereits weiss, dass da keines ist, tue ich ihm den Gefallen. Wieso? Keine Ahnung. Höflichkeit? Dabei frage ich mich, ob der Mann einfach nicht weiss, was ein Red Bull ist, oder bloss nicht, was er in seinem Laden verkauft. Ich nehme statt des Red Bulls einen Eistee aus dem Kühlschrank und gehe wieder in den Laden.
«Darf ich Sie etwas fragen?» sagt er.
«Klar», entgegne ich.
«Glauben Sie an die Liebe in den Jahren?»
«In welchen Jahren?», frage ich. Er schmunzelt verlegen und senkt seinen Blick. «Na, in meinen Jahren!» Er ist ungefähr 65, vielleicht auch etwas älter.
«Natürlich glaube ich daran», sage ich.
«Woran?» – «Na an die Liebe, auch in Ihren Jahren! Liebe kennt kein Alter, oder?»
«Da haben Sie recht» sagt er lachend. Und fügt hinzu: «Diese Frau, sie singt ein wundervolles Lied über die Liebe.» Er deutet auf das Radio hinter ihm.
«Wie heisst sie?» – «Zehra Bajraktarević.» Von der Sängerin habe ich nie gehört. Ich beschliesse, sie später zu googeln.
«Sie singt von der Liebe!» sagt der Mann abermals. Das ist nicht weiter verwunderlich. Balkan-Lieder handeln immer von der Liebe, meist von einer unerfüllten. Alle Balkan-Lieder zusammengenommen ergäben locker die längste Break-Up-Playlist der Welt. Die passende Hintergrundmusik, um sich damit für immer im Trennungsschmerz zu suhlen.
«Was ist mit Ihnen, glauben Sie an die Liebe in Ihren Jahren?» frage ich.
Er lacht laut auf, sein verlegener Blick ist einem verschmitzten Grinsen gewichen. Er streckt mir die Hand zu einem High Five entgegen, ich schlage ein. Er sagt nur: «Hören Sie hin! Sie singt davon, dass sie zwei Menschen gleichzeitig liebt. Dieses Lied, ich könnte es den ganzen Tag hören.»
«Da kann man nichts machen, das kann passieren» entgegne ich. Der Mann nickt. Bestimmt ist er verheiratet oder war es einmal. Liebt er seine Frau oder vielleicht doch eine andere? Woran denkt er, wenn er Zehra Bajraktarevićs Schnulzen hört? Aber eben, der Bus. Ich behalte meine Fragen für mich, packe den Eistee und die Tüte Smoki in den Rucksack, verabschiede mich und steige wieder in den Bus von Centrotrans, der mich von Kljuc nach Sarajevo bringt.
Als ich, in Sarajevo angekommen, meine Mutter nach der Sängerin Zehra B. frage, meint sie stirnrunzelnd: «Noch nie von ihr gehört, das ist bestimmt eine Papanka (Pomeranze) vom Land!»
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Melisa Muhtari ist Studentin im Master Kulturpublizistik.