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Nadine Wietlisbach

E wie Ex Voto

Der See schlägt in hohen Wellen an den Bug des Schiffes, welches sich auf das Ufer zuzubewegen scheint. Das Segel wird durch den Wind bauchig aufgeblasen, in der Mitte der weissen Fläche prangt das Nidwaldner Wappen, ein einfacher Schlüssel. Die Mannschaft an Bord, vier Männer, versuchen verzweifelt das Wasser aus dem Inneren des Bootes zu schaufeln. Die Gefahr ist gross, das Boot könnte kentern. Von der Mariafigur mit Kind geht ein Lichtstrahl aus, der die Szenerie beleuchtet und Hoffnung macht.

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Ein Votivbild muss drei Motive enthalten: Das durch den Betenden veranschaulichte Gelübde; das Gnadenbild, an das sich das Gelübde richtet; und den Votationsgrund, welcher den Anlass zum Gelübde gibt. Der oder die Betende wird meist kniend, oder wenn er krank ist, im Bett liegend dargestellt. Er oder sie versinnbildlicht das Versprechen, wobei die Tafel als Beweis für die Erhörung steht. Die meisten auf Nidwaldner Votivtafeln vorkommenden Gelübde richten sich an Marienbilder, das heisst an eines der vielen Muttergottes-Gnadenbilder, wie sie an den Wallfahrtsorten vorkommen. Neben der Votivtafel war die Votivgabe zeitgleich sehr verbreitet. Wachsöpferli – gefertigt etwa von den Klosterfrauen in St. Clara in Stans – hingen vor nicht allzu langer Zeit am Chorgitter der Muttergottkapelle und in vielen anderen Kapellen. Beine und Arme aus Holz, teilweise in Originalgrösse sowie zurückgelassene Krücken waren zusätzliche Zeichen für die erlangte Heilung. Ein häufiges Motiv, das Votivherz, ist nicht als Organ zu verstehen, sondern symbolisiert die Inbrunst des Bittenden.

Alte Sitten und Bräuche

Der Drang, durch Opfergaben Erlösung zu erlangen ist tief verwurzelt, und die Sitte, die höheren Mächte durch Wallfahrten und Votivgaben günstig zu stimmen, so alt wie die Menschheit. Im europäischen Raum verbreitete sich der Brauch, in Notsituationen eine Votivtafel zu versprechen, kurz vor der Reformation. Eine allgemeine Verbreitung in der Schweiz fand im 17. Jahrhundert statt. Die Zentralschweiz sticht hierbei besonders hervor, sie gilt als votivreichste Gegend. Die älteste noch vorhandene Votivtafel Nidwaldens hängt in Rickenbach und ist 1606 entstanden. An der Quelle der Seine, in der Nähe von Dijon, wurden anderthalb Tausend Votivgaben aus der gallorömischen Zeit ausgegraben; Arme, Beine, Augen, Köpfe aus Holz und Bronze, die unseren silbernen und wächsernen Votivgaben sehr ähnlich sehen. An griechischen und römischen „Gnadenorten“ wurden Tausende Votivfiguren aus gebranntem Ton gefunden.

Krankheiten aller Art, Unfälle, Naturkatastrophen und kriegerische Ereignisse sind auf schlichte, erzählerische Art und Weise widergegeben. Nicht selten sind die bildnerischen Elemente von grosser dramatischer Drastik: Unfälle, wie etwa bei der Obsternte, werden oft durch Frauen, die von hohen Bäumen stürzen und dabei die Hände verwerfen, dargestellt. Häufig werden die bildlichen Darstellungen von Inschriften begleitet, als häufigste und kürzeste Inschrift sind die Worte EX VOTO zu lesen; sie stammen vom lateinischen Begriff volvere, geloben und votivum, Gelöbnis ab. Von einem Alltagsunfall zeugt diese Inschrift auf einer Votivtafels aus der Kapelle in Rickenbach: „Einen Mann, der sein Leben durch einen genossenen Fischgrath einzubüssen glaubte, ist durch Zufluchtnahme zur allerseligsten Gottesmutter wieder vollständig geholfen worden.“

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Ex-Voto-Globalisierung: Votiv-Flucht und Rettung vor dem Drogenkrieg

Im 21. Jahrhundert hat die Rettung aus einer Notlage, für die Ex Votos stehen, andere Dimensionen angenommen. Ayotzinapa ist ein mexikanisches Dorf in der Nähe der Stadt Iguala im Bundesstaat Guerrero. Am 27. September stoppten Polizisten drei Busse von den Studenten der pädagogischen Fachschule Ayotzinapa. Die Beamten eröffneten das Feuer, mindestens sechs Personen starben. Von 43 Studenten fehlte jede Spur. Ein Polizist und ein Mann der kriminellen Organisation Guerreros Unidos (Vereinigte Krieger) führte die Ermittler schliesslich zu Massengräbern, in denen 28 Leichen lagen. In Mexikos Drogenkrieg gibt es täglich Opfer. Die rivalisierenden Kartelle Juarez und Sinaloa kämpfen seit 2008 um die besten Handelsrouten, dieser Konflikt führt zu einem stetig wachsenden Flüchtlingsstrom in Mexikos Hauptstadt und in die USA. Asylanträge in die Staaten werden nur selten bewilligt.

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Das nährt die Produktion von Votivbildern, die in Mexiko eine ebenso lange Tradition wie bei uns hat. Für viele Mexikanerinnen und Mexikaner ist die Jungfrau von Guadalupe eine wichtige Gesprächspartnerin. Unsere Liebe Frau von Guadalupe ist das bedeutendste Marienheiligtum Mexikos, ihr Abbild zählt zu den bekanntesten Gnadenbildern. Der Wallfahrtsort Villa de Guadalupe ist ein Vorort von Mexiko-Stadt und befindet sich auf dem Berg Tepeyac. Gotteshäuser in Mexiko sind mit Danksagungen für grosse und kleine Wunder beinahe vollgehängt.

Votivkunst ist Volkskunst, ihre Bilder heben das Wesentliche hervor, es geht immer um Existenzielles. Die Funktion der Votivtafeln stand und steht im Vordergrund. Nicht die Qualität der Malerei ist entscheidend, sondern die Vollständigkeit des Inhaltes und die Genauigkeit in Bezug auf das beschriebene Anliegen. In der Schweiz wurde, von einigen Ausnahmen abgesehen, die Votivkunst hauptsächlich von Laienmalern, etwa von Handwerks- oder Gelegenheitsmalern ausgeübt, diese besassen nur wenig oder keine künstlerische Bildung. In Mexiko werden ex votos auch retablos genannt, diese werden meistens in Auftrag gegeben und von retableros oder retablistas ausgeführt.

  • Von Matt, Hans: Votivkunst in Nidwalden, Stans 1976
  • Kunz, Martin: Ich male für fromme Gemüter (Ausstellungskatalog), Kunstmuseum Luzern, Luzern 1985
  • Roque, Vilchis Alfredo: Rue des Miracles. Ex-voto mexicains contemporains, 2003
  • http://www.derbund.ch/dossiers/dossier2.html?dossier_id=762