Dominanz des Visuellen
Die visuelle Wahrnehmung und Verarbeitung von Bildern beim Menschen ist mehr als zehnmal älter als die verbale Sprache. Die schnelle Erkennung von Mustern und Figuren war für den Menschen evolutionsbiologisch von grosser Bedeutung. Visuelle Reize sind infolgedessen bei der Wahrnehmungsselektion gegenüber anderen Reizen meist dominant. Bilder beschleunigen deshalb die Informationsaufnahme und -verarbeitung, wobei vor allem das Ansprechen von Emotionen eine grosse Rolle spielt. Häufig zitiert wird in diesem Zusammenhang der Kommunikationswissenschaftler Winfried Schulz: „Während die Wortnachricht erst durch den „Verdauungstrakt“ der kognitiven Informationsverarbeitung gehen muß, nehmen wir Bildnachrichten gleich intravenös auf.“
Fotografie und Film haben die Art des menschlichen Sehens grundlegend verändert. Die digitale Revolution hat zudem den Prozess der Bildentstehung und – verbreitung demokratisiert, die Menge der produzierten und publizierten Bilder stieg ins Unermessliche. Allein auf der Bildplattform Flickr befinden sich im Dezember 2012 8 Milliarden Bilder.[1]
Der Philosoph Günther Anders diagnostizierte bereits vor 50 Jahren eine Bildersucht, die er als „Ikonomanie“ bezeichnet[2], da die Menschen einem „Dauerregen“ von Bildern ausgesetzt seien.
Durch die Dominanz der Bilder geht Anders zufolge für die Rezipienten die Fähigkeit verloren, zwischen Wirklichkeit und Illusion zu differenzieren. Die gilt in besonderem Mass für die journalistische Fotografie. Für den Rezipienten wird es immer schwieriger, gegenüber der Suggestionskraft der Bilder eine kritische Distanz einzunehmen und sie auf ihre manipulierende Wirkung zu befragen. Der französische Philosoph und Medienkritiker Paul Virilio (*1932) formulierte schon im prädigitalen Zeitalter ein bewusstloses dyslexisches Sehen[3], das auf die zunehmende Quantität und Geschwindigkeit zurückzuführen ist, mit der uns Bilder im Alltag begegnen. Diese Sichtweise dürfte mit dem rasanten Anstieg von bildhaften Darstellungen in allen wichtigen Bereichen der Gesellschaft aktueller sein denn je.
In den neunziger Jahren wurde von den Bildtheoretikern Gottfried Böhm und John Mitchell der Begriff des „Pictorial Turn“ (auch: Iconic Turn) in der zeitgenössischen Kultur formuliert[4]. Sie umschrieben damit die zunehmende Dominanz visueller Kommunikationformen und die daraus entstehenden Herausforderungen. Sie plädierten insbesondere dafür, die Bedeutung der Bilder in der Kulturwissenschaft hervorzuheben, die Bilder in der Wissenschaft als Teil des Erkenntnisprozesses zu rehabilitieren und das jahrhundertlange vorherrschende Primat der Sprachlogik in Frage zu stellen. Die Auseinandersetzung mit der überbordenden Bilderflut und allen Aspekten und Phänomenen visueller Kultur hat in der Bildwissenschaft (auch: Visual Studies) ein neues, fachübergreifendes Feld wissenschaftlicher Beschäftigung hervorgebracht.
1) http://blog.flickr.net/de/2012/12/12/flickr-noch-besser-nutzen-besser-navigieren-und-fotos-entdecken/ (8. Juli 2015)
2) Die Antiquiertheit des Menschen / Günther Anders. – [Verschiedene Ausg.] – München : Beck, 1988
3) Paul Virilio, Die Sehmaschine
4) Boehm, Gottfried. Was ist ein Bild? / hrsg. von Gottfried Boehm. – München : Wilhelm Fink Verlag, 1994/ Bildtheorie; W.J.T. Mitchell ; hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Gustav Frank. – Frankfurt am Main : Suhrkamp, 2008;
Karin Seiler, *1965, ist Wissenschaftliche Illustratorin, Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste und Absolventin des Master Kulturpublizistik.