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Kijan Espahangizi, Ruedi Widmer

Differenz manifestieren

Über die postmigrantische Gesellschaft des Spektakels.
Ein Briefwechsel zwischen Kijan Espahangizi und Ruedi Widmer

1. Juli 2018

Lieber Kijan

Wir schreiben uns also, so haben wir verabredet, Mails. Wir führen in dieser Form ein Gespräch, von dem wir wissen, dass es am Ende, wenn wir beide dazu ja sagen, öffentlich wird. Beginnen will ich mit einem ein bisschen ausführlicheren Einstieg.

Das Öffentlichwerden dessen, was Menschen denken und sind, ist Teil unseres Themas. Die postmigrantische  Gesellschaft und die «Neue Schweiz», für die du zusammen mit anderen einstehst, hat sehr viele Dimensionen. Es geht, so hätte ich es formuliert, um Bürgerrechte, um Chancengleichheit, um das Recht auf Differenz als ein Recht auf Anerkennung. Die postmigrantische Gesellschaft – oder auch: die Überwindung der Dominanzgesellschaft (ein Wort, das du verwendest) durch die Differenzgesellschaft (ein Wort, das ich hier einführe) wird immer auch öffentlich verhandelt. Zu den öffentlichen Räumen, in denen das geschieht, gehören die Arenen oder «Bühnen» des Sports mit ihren massenmedialen Echoräumen; ein besonders virulentes und interessantes Feld ist die Frage, wie Sportler sich verhalten, wenn sie aufgefordert sind, ihre individuelle Herkunft oder Zugehörigkeit und eine Behauptung nationaler Einheit, wie sie etwa im Singen einer Nationalhymne zum Ausdruck kommt, miteinander zu verbinden.

Um ein paar ganz verschieden gelagerte Beispiele zu nennen: Tommy Smith und John Carlos, die an den olympischen Spielen 1968 aus der Medaillenverleihung des 200 m-Laufs eine Black Panther-Manifestation machen. Profi-Mannschaftssportler im Trump-Amerika, die beim Abspielen der Nationalhymne niederknien, um gegen Diskriminierung zu protestieren. Ilkay Gündogan und Mesut Özil, die sich ausserhalb des Spielfelds mit «ihrem Präsidenten» Erdögan fotografieren lassen. Edilson Cavani, der an der laufenden WM in Russland, wenn er ein Tor erzielt hat, mit allem Pathos seinen christlichen Gott anruft. Oder Mohamed Salah, der, hätte er getroffen, das Gleiche mit seinem islamischen Gott getan hätte. Granit Xhaka und Sherdan Shakiri, die im Spiel Schweiz gegen Serbien nach ihren Toren in einem emotionalen Ausbruch, den man wohl als eine Manifestation gegen erlebte Fremdzuschreibung lesen muss, einen Doppeladler machen. Stephan Lichtsteiner, der das gleiche tut, um, wie er sagt, seine Solidarität zum Ausdruck zu bringen.

Aber auch auf der Seite der Fans – und wo es um Fussball und Nationalmannschaften geht, gibt es die verschiedensten Manifestationen eines klassisch-nationalen Patriotismus und/oder eines postmodern-spielfreudig-subversiven Fantums, die auch mit dem Fussball als einer sehr speziellen Form des «Spiels» und des «Theaters» zu tun hat. Die Fans der WM-Teams erscheinen mir oft wie ein Chor im Theater: Das Drama wird ausgelebt, die Dimensionen des kollektiven «Triumphs» oder der kollektiven «Schande» kommen zum Ausdruck, aber auch postheroische Botschaften wie «Alles nur ein Spiel» sind möglich. Auf dieser Bühne erscheinen auch Politikerinnen wie Angela Merkel und Intellektuelle wie Daniel Cohn-Bendit. Cohn-Bendit zum Beispiel ist ein Kritiker der WM in Russland, der Fifa usw., will aber, wenn das Spiel angepfiffen ist und bis es zu Ende ist, darüber nicht nachdenken. Als Bürger und politisch Engagierter zweier Länder kann er, wenn er Fan ist, nur die Franzosen unterstützen, nicht aber die Deutschen.

Bei all diesen Beispielen befinden wir uns auch in der Gesellschaft, die Andreas Reckwitz die «Gesellschaft der Singularitäten» nennt, die man aber auch in der Nachfolge von Guy Debord die Gesellschaft des Spektakels nennen könnte: Man gibt sich, auch als Fussballer oder Popstar, Looks, man zeigt sich mit Symbolen, die z.B. nationale oder religiöse Zugehörigkeit manifestieren, bringt dabei mitunter auch den Stolz auf die eigene Herkunfts-Andersheit ins Spiel. Man begibt sich damit, je nachdem auch ganz spielfreudig oder subversiv, auf einen Markt der Eitelkeiten, oder der Aufmerksamkeit, oder auch der Politik, des Zementierens oder Überwindens von Identitätsvorstellungen, Zuschreibungen, Bewertungen. Als Bühne eignen sich öffentliche Räume wie Stadien, auch und vor allem aber Social Media.

Dies alles gesagt, könnte ich mir diesen Titel über unserem Gespräch vorstellen: Über die Manifestation von Differenz in der (postmigrantischen) Gesellschaft des Spektakels. Und ich wollte dich als erstes fragen: Gibt es in der Episode mit Xhaka und Shaquiri und dem Doppeladler (mitgemeint sind natürlich die vielen Reaktionen in Massen- und sozialen Medien, wo ja auch du dich geäussert hast) für dich Dinge, die Dich überrascht haben? Ist deiner Meinung nach die Schweiz als postmigrantische Gesellschaft in dieser Episode einen kleinen Schritt weitergekommen? Wie erlebst bzw. verstehst du dich selber als jemand, der diese WM mitverfolgt – Fan und/oder Beobachter? Für oder gegen eine Mannschaft und warum?

Dich herzlich grüssend und mich auf Deine Antwort freuend

Ruedi

6. Juli 2018

Lieber Ruedi,

wahrscheinlich hat mich am meisten überrascht, dass der Kapitän Stephan Lichtsteiner, der sich 2015 noch etwas holprig über «Identifikationsfiguren», «richtige Schweizer» und Kollegen »mit Migrationshintergrund» ausgelassen hat, ebenfalls den Doppeladler gemacht hat. Das hat mich schon echt erstaunt und zeigt, dass da intern Gespräche zwischen Mannschaftskollegen geführt wurden, die sich respektieren und ernstnehmen, über Lebensgeschichten, die zur Schweiz gehören, sich aber nicht nur innerhalb der Landesgrenzen abspielen. Das kann man schon als einen gewissen erfreulichen Fortschritt deuten, finde ich. Auch dass es in der öffentlichen Debatte, neben den üblichen empörten Stimmen, die hier sofort mangelnde nationale Loyalität, ein Scheitern der Integration oder gar Verrat wittern und das Ganze für Ihre politischen Zwecke ausschlachten, durchaus auch viele andere Stimmen gegeben hat, die sich differenzierter mit Fragen von Mehrfachzugehörigkeit und transnationalen Lebensgeschichten auseinandergesetzt haben. Die Debatte um Mesut Özil und Ilkay Gündogan in Deutschland hatte da schon regressivere Tendenzen. Doch auch hier ist klar, es gibt letztlich kein Zurück mehr in die 1980er, an die ich mich noch gut erinnern kann. Heute müssen sich bestimmte Leute anstrengen, medial zu skandalisieren, dass die Özils, Gündogans keine richtigen Deutschen sind, damals war es nicht mal denkbar, dass sie welche hätten sein könnten. Als ich aufwuchs, war klar: einmal Schwarzkopf, immer Schwarzkopf. Überhaupt finde ich es wichtig, bei aller Wachsamkeit und Besorgnis gegenüber den aktuellen rechten Tendenzen nicht in Panik zu verfallen und die grösseren Entwicklungslinien in den letzten fünfzig Jahren in Hinblick auf die Einwanderungsrealität aus dem Blick zu verlieren.

Darum geht’s auch bei dem Begriff der postmigrantischen Gesellschaft. Gemeint sind Gesellschaften, wie die Schweiz und Deutschland, die sich aufgrund von unterschiedlichsten Migrationsdynamiken seit Ende des 2. Weltkrieges grundlegend verändert haben, demographisch, politisch, sozial, kulturell. Die Transformation ist irreversibel, zumindest unter demokratischen Bedingungen. Das ist ein Fakt, an dem letztlich niemand vorbeikommt. Und doch ist die Frage, wie dieser Wandel politisch und kulturell gestaltet werden soll, immer umkämpft. Einerseits wurden im Namen von Integration, Teilhabe, Anerkennung und interkulturellem Zusammenleben in der Tat viele neue Räume geöffnet. Andererseits gibt es seit den 1960ern in der Schweiz auch starke Kräfte, die sich gegen die vermeintliche Überfremdung aufbäumen und die Unterordnung meinen, wenn sie Integration sagen. Die VertreterInnen der weltoffenen Schweiz und Inselschweiz verstehen sich gerne als politische Gegenfiguren. Tatsächlich handelt es sich um zwei Seiten einer Medaille in einer Situation, in der die Auseinandersetzung um Migration und Integration längst zu einer zentralen Form der Vergesellschaftung geworden ist. Es ist gar nicht klar, was Politik und Medien machen würden, wenn es Migration als Thema nicht gäbe. Hinzu kommt die Pragmatik eines Alltags, in dem heute schon vieles Normalität ist, mit dem man sich auf der grossen Bühne der offiziösen Öffentlichkeit noch schwertut, eben zum Beispiel Mehrfachzugehörigkeit. Auf der Ebene der Lebenswelten, in Freundschaften, Liebesbeziehungen, unter KollegInnen und Bekannten macht die vermeintlich klare Unterscheidung von Schweizern hier und Ausländern da immer weniger Sinn. Die Dinge sind hier längst vielschichtiger, mehrdeutiger, facettenreicher. Doch weder entspricht diese gelebte Vielfalt dem Schreckensszenario der Überfremdungsgegener mit ihren schwarzen und weissen Schafen, noch entspricht sie dem quietschbunten Bereicherungsklischee der weltoffenen Diversityfreunde. Migration und Vielfalt sind weder einfach gut noch einfach schlecht. Es handelt sich schlicht um gesellschaftliche Realitäten, die bestmöglich demokratisch und pragmatisch gestaltet werden sollten. Dass es hier Konflikte gibt, ist doch klar, wo gibt es die nicht?

Manchmal ist es schwierig, die verschiedenen Ebenen auseinanderzuhalten. Da sind die periodisch wiederkehrenden Debatten um die Nati eine gute Gelegenheit zu üben. Muss man den Doppeladler und andere nationalistische Symboliken per se gut finden? Nein. Muss man den Konflikt zwischen Menschen mit serbischem und kosovarisch-albanischen Hintergrund richtig finden oder gar Partei ergreifen? Nein. Aber es ist empirisch auch nicht haltbar, zu sagen, es handele sich da um Dinge, die nichts mit der Schweiz zu tun hätten, das sei Sache der Usländer. Man muss es gar nicht gut finden, aber der Doppeladler ist nun faktisch Teil der Populärkultur der Schweiz, genauso wie das Serbenkreuz und und und. Alles andere sind Fake News. Und aufgrund der Migrations- und Fluchtgeschichten gibt es längst ein unauflösliches lebendiges Band zwischen der Schweiz und den Menschen, die in den Ländern Ex-Jugoslawiens leben und vielen anderen Regionen der Welt, genauso wie etwa zwischen Deutschland und der Türkei. Oder zugespitzt: Kein Erdogan ohne die Geschichte der türkischen Gastarbeit in Deutschland. Die Dinge sind längst transnational miteinander verknotet. Diese Realitäten anzuerkennen oder sie richtig bzw. wünschenswert zu finden, sind zwei verschiedene Dinge. Der Begriff der postmigrantischen Gesellschaft meint entsprechend auch keine utopische Vision einer multikulturellen Differenzidylle, die einer vermeintlich monolithischen Dominanzgesellschaft entgegengestellt werden kann, sondern es handelt sich um einen Versuch, das umkämpfte Durcheinander einer historisch gewachsenen Gegenwart, ihre Widersprüche und Mehrdeutigkeiten, ihre Ein- und Ausgrenzungslinien in den Blick zu kriegen. Nicht mehr und nicht weniger. Postmigrantische Gesellschaften wie die Schweiz und Deutschland sind geprägt von einer erstaunlichen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: rassistische Vorstellungen aus dem frühen 20. Jahrhundert, ausländerpolitische Gesetze aus den 1930er Jahren, Anti-Überfremdungshetze aus der Fremdarbeiterära nach dem 2. Weltkrieg, Integrationslogik aus den 1970ern, Multikulti-Exotik aus den 1980er und 1990ern, Terrorpanik und Diversity Management seit 2000ern, post- und transnationale Lebenswelten im heutigen Alltag und und und…. Es ist beileibe nicht so, als ob es sich hier um eine historische Abfolge handeln würde, alle diese Dinge sind heute gleichzeitig da, wie in einem Kleiderschrank, den man seit Jahren nicht ausgemistet hat. In dem Sinne gibt es aus einer postmigrantischen Perspektive auch mehr als nur die Alternative zwischen den zwei linearen Entwicklungsformen Fortschritt oder Regression. Mit jeder Natidebatte drehen wir uns gewissermassen auch wieder im Kreis, jedoch ohne uns auf der Stelle zu bewegen. Zusammengesehen ergibt dass dann wohl sowas wie eine Spiralbewegung.

Herzlich

Kijan

8. Juli

Lieber Kijan

Wir drehen uns im Kreis, und es ergibt sich doch eine Spiralbewegung: Wie recht du hast! In unserem Beispielfeld, dem zur Debattenbühne erweiterten Fussballfeld, ging es ja zwischenzeitlich in der medialen Debatte (nicht: in deren Erkenntnisgewinn) schon weiter. In der Nachbearbeitung der WM-Erfahrungen der deutschen und der schweizerischen Nationalmannschaft kommt hinter dem «Drama» auf dem Platz das «Drama» der Nation hervor: sie kann, wie du richtig beschreibst, nicht mehr zurück zu den klaren Verhältnissen, die es (vermeintlich) mal gab.

Alle Fragen, die in der Debatte drinstecken, sind Fragen der Loyalität. Es ist heute nicht nur die real-riesige Diversität der Prägungen und Herkünfte, die eine Eindeutigkeit der (Selbst‑)Zuschreibung und Zugehörigkeit, wenn man sie deskriptiv ernst nehmen möchte, verunmöglicht. Es ist genauso das «Grundgesetz», in dem wir heute, sei es in der Familie, im Staat, in der Firma usw. alle leben:  Was uns die jeweilige Zugehörigkeit bedeutet, was und wieviel wir dafür zu geben bereit sind, ist eine situative Angelegenheit. Stets sind wir in innerer und äusserer Verhandlung darüber, ob das Gegenüber unseren Einsatz, unser Commitment, unsere Opfer usw. rechtfertigt. In der Reaktion von Granit Xhaka auf die vom SFV-Verbandsfunktionär Alex Miescher aufgebrachte «Steinzeit»-Frage, ob Doppelbürger, die mit zwei Pässen ausgestattet sind,  im vollen Sinne Nationalspieler sein können, liegt eine grosse Coolness: Er gibt den Ball zurück. Sinngemäss sagt er, dass die Gesellschaft, die ihn auf den Rasen schickt, vielleicht mal überlegen müsste, was sie denn nun von ihm erwarten möchte. Den exakt gleichen Konflikt sieht man bei Toni Kroos, wenn er nach dem ultraknappen Sieg gegen Schweden darauf hinweist, dass viele in Deutschland sich über ein vorzeitiges Ausscheiden sehr gefreut hätten.

Das ist die Situation des Helden bzw. der Heldin, der das «dramatische» Theater von Antigone über Romeo und Julia bis in die Gegenwart ausmacht: Die Loyalität und Aufopferung, die man von ihm will, und zu der er sogar fähig ist, bringt ihn zur Verzweiflung, denn sie ist nicht zu leisten. Die Gesellschaft oder Öffentlichkeit von Ländern wie der Schweiz oder Deutschland ist in dem, was sie von jedem Spieler fordert, so widersprüchlich, dass die Institution «Weltmeisterschaft», das Format «Länderspiel» und das Ritual «Nationalhymne» so postdramatisch werden wie die Gesellschaft postmigrantisch.

Ich gebe Dir vollkommen recht, dass demokratische Bedingungen Voraussetzung für den weiteren Fortschritt sind. Das Interessante ist aber, dass auch diese demokratischen Bedingungen sich in der postmigrantischen (singularisierten, spektakelförmigen) Gesellschaft fundamental verändern. Diese Gesellschaft ist postdemokratisch-postdramatisch: Wir wissen, dass wir uns nicht mehr einigen können, dass wir nicht mehr in EINER Welt oder EINER Zeit oder EINEM Land leben – und dennoch EIN «Territorium» und EINEN Verlauf der Dinge zu managen haben. Also: der Kleiderschrank, von dem du sprichst, in dem alle diese Dinge (Vorstellungen, Realität) gleichzeitig (unvereinbar) da sind, und den man seit Jahren nicht ausgemistet hat, wird zwar also solcher sichtbar, und das ist ein Fortschritt. Doch bei genauerer Betrachtung wird er sichtbar als der Schrank, den man (weil das «man» immer die grosse fiktionale Leerstelle ist) nicht ausmisten kann.

Was sollen wir also tun? Uns über die erreichte Sichtbarkeit und Freiheit (von falschen Loyalitäten) freuen, und ansonsten in der Gleichzeitigkeit des Anderen kreis-spiralig weiterwursteln?

Herzlich Ruedi

10. Juli

Lieber Ruedi,

ich merke, es fällt mir schwer, auf Deine Mail zu antworten. Vielleicht deswegen, weil hier vieles anklingt, das jeweils eine eigene Debatte verdienen würde und wo ich selbst nur mehr Fragen als Antworten zu bieten hätte. Zudem fühle ich mich auch unwohl dabei, die Debatte um Zugehörigkeit in der Nati zu einem «Drama der Nation» hochzustilisieren. Meines Erachtens würden der ganzen Debatte etwas weniger Drama, weniger Theater, weniger Aporien guttun – auch in der Sprache, mit der wir beschreiben, was da gerade passiert.

Ich finde, dass es gerade heute in der Frage, ob und wie nationalstaatlich verfasste demokratische Gesellschaften auf Migration, Globalisierung und Pluralisierung reagieren sollten, wichtig ist, die Dinge runterzukochen bzw. möglichst sachlich, realistisch und pragmatisch anzugehen. Damit meine ich keine technokratische Experten-Logik, sondern viel mehr einen unaufgeregteren Sinn für die realen Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten, Widersprüchlichkeiten und Aushandlungsprozesse, die den Alltag nun mal ausmachen. Das wäre sicher lebensnäher, als das was da gerade medial inszeniert wird. Dies sage ich natürlich vor dem Hintergrund, dass die Dramatisierung der öffentlichen Debatten um Migration und Integration offensichtlich politische Polarisierungen und Lagerbildung befeuert und letztlich antidemokratischen Kräften in die Hände spielt.

Auszugehen, von dem was da ist, – in all seiner schmerzhaften Widersprüchlichkeit – scheint mir heute ein sinnvoller Ansatzpunkt politischen Handelns, der die Kraft haben könnte – hier bin ich vorsichtig skeptischer Optimist – Menschen jenseits der ideologischen Lager anzusprechen. Man kann lange darüber streiten, ob man die migrationsbedingte kulturelle und ethnische Pluralisierung der Schweizer Gesellschaft gut oder schlecht findet. Tatsache ist, sie hat längst stattgefunden. Die Frage ist also nicht ob, wir diese gelebte Vielfalt wollen, sondern wie wir diese als demokratische Gesellschaft – und das muss der Rahmen sein – in Bildern, Institutionen, Gesetzen etc umsetzen und repräsentieren wollen. Die Kunst wäre hier doch, weder das breitbeinige Spektakel der vermeintlichen (nationalen, ethnischen etc.) Eindeutigkeiten mitzumachen noch sich relativierend hinter der Komplexität und Vielschichtigkeit der Situation zu verstecken. Wer Vielfalt sagt, muss auch dazu Position beziehen, was die Gesellschaft als Gesellschaft dann zusammenhalten soll. Wer auf Einheit pocht, muss erläutern, wie das – unter demokratischen Bedingungen – mit der gelebten Vielfalt der realen Bevölkerung in Einklang zu bringen ist.

Die Frage der Mehrfachzugehörigkeit in der Nati ist wie gesagt ein gutes, weil letztlich harmloses Beispiel, um dies diskursiv zu üben. Grundsätzlich finde ich, wir sollten in der Tat darüber streiten, wie man gesellschaftliche Kohäsion am besten organisiert, denn ein Patentrezept gibt es nicht und die Problemstellung ist zudem ein historischer Dauerbrenner – immer wieder in neuen Worten und Umständen. Da kann man im Guten wie im Schlechten doch einiges aus der Geschichte lernen. Dass wir offensichtlich immer wieder um ähnliche Fragen kreisen – demokratische Teilhabe und Repräsentation, soziale Gerechtigkeit – muss uns daher auch nicht zur Verzweiflung bringen. Demokratie ist eben kein statischer Zustand, sondern etwas, das immer wieder aufs Neue errungen werden muss, ein fortlaufender (spiralförmiger 😉 ) Prozess der Kämpfe um Demokratisierung. Da sind alle in der Verantwortung. Daher halte ich auch wenig davon, nun die Postdemokratie bzw. das Ende der Demokratie auszurufen, als wäre sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für alle mal richtig dagewesen.

Herzliche Grüße

Kijan

15. Juli

Lieber Kijan

Deine Forderung nach «Runterkochen» und Sachlichkeit in der Debatte teile ich zu hundert Prozent. Denn überall, wo Ideologie-Fragen (pauschal gestellte Angst-Fragen, pauschal gestellte Identitätsfragen) in Fragen umformuliert werden können, die auf konkrete Antworten zielen, kommen wir weiter.

Gleichzeitig muss ich zugeben, dass eine solche «Sachfrage» – hier also, sagen wir, die Frage der Mehrfachzugehörigkeit von Menschen auf der Ebene konkreter Rechte und Pflichten –, wenn wir sie an Einzelfällen diskutieren können, in mir auch ein intellektuelles Interesse wecken. Ich sehe tatsächlich, bei allen Unterschieden (!), einen tieferen Zusammenhang zwischen Sportler- oder Politikerfiguren wie Ivan Rakitic oder Daniel Cohn-Bendit und Theaterfiguren wie Antigone. Wenn darauf verwiesen wird, dass zwei der Kandidaten für den letzten frei gewordenen FDP-Sitz im Bundesrat Doppelbürger waren, und dass unklar blieb, was der Verzicht von Ignazio Cassis auf den italienischen Pass nun wirklich bedeutet, finde ich das, auch und gerade wenn Cassis, auf die öffentliche Wahrnehmung schielend, damit opportunistisch umgeht, hoch interessant. Ich könnte, wo es um Loyalitätskonflikte und ihren Gehalt für das Verhandeln von Rechten und Pflichten geht, übrigens auch Menschen aus meiner eigenen Familie als Beispiele nehmen. Ich könnte dafür auch banale eigene Erlebnisse mit Behörden usw. nehmen: Die Aporien, die darin aufscheinen, sind die oft die gleichen wie in Stücken von Shakespeare, Kleist oder Frisch.

Versteh mich richtig: Es geht mir sicher nicht darum, dass solche Stücke in der politischen Debatte, oder auch in unserem Gespräch, vertiefend behandelt werden müssen. Dennoch bin ich der Meinung, dass das, was darin an Wissen über den Menschen enthalten ist, Gewicht hat, wenn wir uns in der heutigen Realität um Sachlichkeit und Menschlichkeit bemühen. Shakespeare ist vielleicht ein besonders gutes Beispiel: Sein Umgang mit den Grundfragen und Aporien in der menschlichen Gesellschaft lässt uns «in Abgründe blicken», ist also nahe an den Problemen. Gleichzeitig ist sein Zugang ein grundsätzlich aufklärerischer: Er erinnert uns an unsere Handlungsfähigkeit und Handlungsmöglichkeit. Es ergibt sich etwas, das ich, auch hier in Ermangelung eines besseren Wortes, «Weisheit» nennen möchte. Immer dann, wenn etwas von dieser Weisheit – also ein zugleich die Widersprüche und Aporien sehende, die Sachlichkeit wahrende und die Lösung suchender Zugang – in den öffentlichen Raum kommt, empfinde ich das als Trost. Dabei weiss ich, dass ein solches aus der westlichen Theatertradition geschöpftes Verständnis nur eines von sehr vielen möglichen ist und dass mit seiner Hilfe in der Geschichte oft auch Dominanz-Verhältnisse kreiert und gestützt wurden.

Zurück zum Thema, wie du es beschreibst: Du sprichst von «schmerzhafter Widersprüchlichkeit». Ich frage mich: Was tut weh? Zuerst einmal ist es das konkrete Unrecht, wenn ich es erfahre oder von aussen erlebe. Dieses betrifft eben nicht nur die sogenannten Grundbedürfnisse. Es betrifft auch das (empfundene) Recht, z.B. in dem Sinn ein Mann oder eine Frau zu sein, ein Leben zu haben und zu gestalten, mit anderen so umzugehen, wie es in der jeweiligen Kultur oder Community verstanden wird. Weh tut dann auf einer nächsten Ebene, wenn mit solchen Fragen in unzulässiger Weise politisch-rhetorisch umgegangen wird; Auftrag des Wählers, die Konstruktion von kategorialen Unterschieden zwischen Bürgern usw. Und weh tut, wenn in einer Debatte ganz grundsätzliche Fragen, etwa die Frage, was ein Mensch ist und was «menschlich» heissen kann, und die Weisheit und Pragmatik im Umgang damit (die ich im Alltag sehr oft erlebe), gewissermassen untergehen.

Du sagst: Wer Vielfalt sagt, muss auch dazu Position beziehen, was die Gesellschaft als Gesellschaft dann zusammenhalten soll. Ich bin auch hier zu hundert Prozent einverstanden. Viele öffentliche Intellektuelle sagen, das, was die Gesellschaft als Gesellschaft zusammenhalte, müsste eine «Erzählung» sein, und dass die zur Verfügung stehenden Erzählungen nicht mehr taugen. Wie ist deine Antwort? Was soll die Gesellschaft als Gesellschaft zusammenhalten? Ist es der Prozess, den du beschreibst? Ist es eine darin zu erarbeitende und zu erkämpfende «neue Erzählung»? Ist es «eine» Haltung, von der wir als Gesellschaft bzw. politische Gemeinschaft heute oder in einer erreichbaren Zukunft ernsthaft sagen können, dass es «unsere» ist?

Herzlich Ruedi

16. Juli

Lieber Ruedi,

Du hast natürlich recht. In heutigen Debatten scheinen menschliche Grundkonflikte und Aporien auf, die sicher universeller sind, als es uns unsere Fixiertheit auf News, sprich tages- ja sekundenaktuelle Medienereignisse glauben macht: Fremdheit, unmögliche Zugehörigkeit, Kampf gegen Unrecht, moralische Konflikte … alles zeitlose Themen. Da heute alles mindestens innovativ sein muss, werden alte Weisheiten, die eigentlich gesellschaftlich und kulturell vorhanden wären, nicht abgerufen bzw. nicht als solche erkannt. Da muss man gar nicht bis zu Shakespeare zurückgehen. Bei jeder neuen Migrations- und Fluchtepisode wirkt es doch wieder so, als sei sie die erste ihrer Art und «man» müsse das Rad neu erfinden. Viel Leid könnte vermieden werden, wenn man allein schon die Weisheiten und Erfahrungen anerkennen und abrufen würde, die in den vielen Familiengedächtnissen schlummern, die von Geschichten der Flucht und Migration geprägt sind. Aber auch die Migrationsforschung, die sich nicht erst seit gestern mit Fragen der Zugehörigkeit, Teilhabe usw. auseinandersetzt, hätte hier wenn nicht perennische Weisheiten, so zumindest einiges an empirisch fundiertem Wissen und Expertise anzubieten. Aber selbst die gesellschaftlichen Erfahrungen im Umgang mit Migration und Flucht aus den 1980er und 1990er Jahren scheinen heute längst aus dem sozial(medialen) öffentlichen Bewusstsein verdrängt.

Nun muss ich aber auch ehrlich sein: der eigentliche Grund, warum ich auf den von Dir ins Spiel gebrachten Link zu den Klassikern nicht so recht eingehen mag, ist schlicht, weil ich keine Ahnung von ihnen habe. Ich bin nicht mit Shakespeare, Kleist und Frisch aufgewachsen, sondern ganz unbürgerlich in Sichtweite von RTL in Köln. Hollywood und heute Netflix liegen mir habituell definitiv näher als der bürgerliche Bildungskanon. Da fremdle ich biografisch bedingt etwas, muss ich zugeben. Zu meinem persönlichen Kanon gehören aber auch die Geschichten, die uns mein Vater zum Einschlafen erzählte: Erzählungen aus dem iranischen Nationalepos Shahnameh, dem Buch der Könige aus dem 10. Jahrhundert. Und wo Du mich mit der Nase draufstösst, es stimmt: die Frage der Mehrfachzugehörigkeit, von der wir ja ausgegangen sind, spielte schon hier in der Tat eine zentrale, tragische Rolle. Der grosse iranische Nationalheld und Krieger Rostam bringt auf dem Schlachtfeld den Feldherrn der Erzfeinde aus Turan im Zweikampf um. Eigentlich ein grandioser Sieg. Erst als es zu spät ist, erkennt Rostam an einem Schmuckstück, dass es sich um seinen Sohn Sohrab handelt, der da in seinen Armen verblutet. Rostam hatte nämlich – modern ausgedrückt – ein Kind aus einer binationalen Ehe mit der turanischen Prinzessin Tahmine. Das Ganze war ein kurzes Jugendglück gewesen und der Kontakt brach dann schnell ab. Kommt ja noch häufiger vor. Dass der Nationalheld Rostam dann Jahre später seinen Doppelbürger-Sohn Sohrab umbringt, der wiederum im Widerspruch zu seiner binationalen Geschichte unter dem Banner seines Mutterlandes gegen sein Vaterland in den Krieg geritten war, und dass Rostam daran letztlich innerlich zerbricht, sollte uns heute zu denken geben. Dass die Thematik der Mehrfachzugehörigkeit bei den alten Mythen offenbar eher blutig und tragisch endet, könnte uns aber auch anregen, über neue kollektive Geschichten nachzudenken, die andere Sinngebungs- und Handlungsangebote machen. Ich bin in der Tat der Meinung, dass wir im Zeitalter der Migration und Globalisierung neue Erzählungen von Gesellschaft, Zugehörigkeit und Citizenship hervorbringen müssen, die entsprechend auch neue Haltungen in sich codieren und vermitteln. Die kann man natürlich nicht am Reissbrett erfinden. Sie erwachsen – willentlich und unwillentlich – aus dem bereits laufenden Prozess gesellschaftlicher Transformation, aus dessen Dynamik der Pluralisierung aber auch aus den neuen Konflikten, Ambivalenzen, Widersprüchlichkeiten und Aporien. Suchen sollte man nach diesen neuen Narrativen, Bildern und Styles wahrscheinlich eher an vielen verschiedenen Orten, nicht nur im Theater und in Romanen, das sicher auch, aber eben auch auf Youtube, Soundcloud & Co.

Herzliche Grüße

Kijan