Die Zeit vergeht auch im Kühlschrank
Woran merken wir, dass Zeit vergangen ist? Mal, weil sich etwas verändert, mal, weil etwas zurückkehrt. Unsere Autor*person wird von einer Kindheitserinnerung eingeholt und merkt, dass die Zeit gar nicht immer und überall gleich schnell läuft.
Protagonist*innen
Erzähler*in
Die Zeder
wachsendes Kind
Die Zeit
Nebenfiguren
Die gefährdeten Orang-Utans
Die Erwachsenen
Die Zeiger einer Uhr
Regenwald
Kellerassel
Blauwal
Noch so manches Agglomerationskind hatte, als es klein war, im Kühlschrank seines Hauses eines: Margarine.
So auch das Kind in dieser Erzählung. Sonntags würde die Familie den Frühstückstisch decken und Brot und Zopf und Halbfettmilch um Orangensaft und Joghurt anordnen, drei verschiedene Konfitürengläser aus der Küche an den Tisch tragen und das Geschirr etwas verschieben, damit diese auch noch Platz fänden. Sie würden Speck und Eier braten – die Eier im Fett des Specks – und jemand würde mit der brutzelnden Bratpfanne alle an den Tisch rufen. Meistens ass die Familie des Kindes drinnen. Ab Mai bis in den August auch draussen, wenn das Wetter schön war und jemand die Musse hatte, den Gartentisch abzuwischen. Dann würde jemand dafür sorgen, dass die Milchprodukte einen Schattenplatz fänden, also würde jemand die Sonnenstore einen Viertel ausrollen, um dann die Milch, das Joghurt und die Butter in ihren Schutz zu stellen. Da stellte die Familie die Margarine dann auch hin. Die LÄTTA. Die Lätta – im Gegensatz zur Butter nicht in Papier gewickelt oder auf einer Platte serviert, sondern in dünnwandiger weisser Plastikschale – wurde von Kindern im Brotaufstrich-wahlberechtigten Alter entweder bevorzugt, weil sie sich besser als Butter auf einem Brot verteilen liess, oder sie wurde von ihnen verabscheut, weil sie nicht nach Butter schmeckte. Beim Kind zuhause gab es sie, und sie wurde auch reichlich konsumiert. Für die Wahl des Fetts zwischen Brot und Aufschnitt fiel bei diesem Kind aber stärker ins Gewicht, dass es die grossen farbigen Buchstaben «LÄTTA» früher lesen konnte als das kleine «Die Butter».
Im selben Lebensabschnitt las es auch die Magazine des WWF. Das Kind hatte ein Abonnement, denn es waren die frühen Zweitausender. Zu dieser Zeit sorgte sich der WWF sehr um den Orang-Utan und schenkte ihm deshalb Schlagzeilen und Steckbriefe. «Der Waldmensch», so nannte die Organisation das Tier, stehe am Rande des Aussterbens. Und Schuld am besorgniserregenden Stand des Orang-Utans war das Palmöl oder, genauer, dass für dessen Anpflanzung der Regenwald abgeholzt wurde. Im Kinderzimmer also lernte das Kind vom Orang-Utan und vom Palmöl. Und es kombinierte: Den Orang-Utans geht es elend, weil die Lätta den Regenwald tötet. Denn die Lätta besteht aus Palmöl.
Dass die Familie also in jeder Portion Margarine eigentlich auch den Orang-Utan mit aufs Brot strich, begriffen die Eltern des Kindes offenbar auch, denn irgendwann fiel die Margarine aus dem Sonntagsbrunch-Repertoire und blieb ihm von da an auch fern. Damals ist das dem Kind nicht wirklich aufgefallen (es war ja auch ein Kind, und Kinder merken nicht alles), und andere Dinge scheinen in seinem Aufwachsen prägender gewesen zu sein, denn vermisst hat es die Margarine nicht.
Als das Kind, nun schon eine Weile von zuhause ausgezogen, kürzlich bei den Eltern zu Besuch war und nach alter Gewohnheit die Tiefen des Familienkühlschranks durchforstete, fiel sein Blick auf etwas Ungewohntes. In weiss-hellgrünem Papier eingewickelt lag sie im obersten Fach neben Konfitüre und Hummus: eine Margarine. Sie heisst nun nicht mehr Lätta, sondern «Plant-based vegan Bloc», und ist auch nicht mehr aus Palmöl, sondern aus Raps. Sein Vater hatte eine Weile zuvor nämlich einen Dokfilm gesehen und war nun bereit für eine pflanzenbasierte Ernährung. Ohne Affe, wohlgemerkt.
Zeit ist vergangen, seit im Kühlschrank der Eltern zum letzten Mal Margarine lag. Das Kind stand in der offenen Tür und dachte an den Orang-Utan und ob er sich wohl vom Rand des Aussterbens wegbewegt hat. So schien das zu sein: Erst durch die Wiederkehr eines Streichfetts merken wir, wie weit die Zeit gelaufen ist, seit wir vom Orang-Utan gelesen haben. Im Wartesaal einer Arztpraxis schauen wir vielleicht schon mal dem Zeiger in der Wanduhr nach, wie er die rechte Seite ihres Ziffernblatts herunterfällt, um dann wieder ihre linke Seite emporzusteigen; er unterteilt die Zeit in Sekunden und wir merken, dass sie vergeht, weil er fällt und steigt. Meistens ist das aber nicht so.
Eine menschliche Zeiteinheit liesse sich auch folgendermassen einteilen:
Kindheit, in der der Mensch kontinuierlich wächst und in unregelmässigen Abständen von immer gleich aussehenden Erwachsenen auf sich heruntergesagt bekommt: «Du bist aber gewachsen», beendet durch die Ankunft im eigenen Erwachsenensein, wenn dem Menschen selbst zum ersten Mal ein «Du bist aber gewachsen» herausrutscht.
Die sich bückenden Erwachsenen in diesem Beispiel merken, dass Zeit vergangen ist, wenn das Kind überraschend grösser vor ihnen steht. Sie messen die Zeit am veränderten Kind. Der Mensch beginnt mit dem Messen also vielleicht erst, wenn er selbst einmal in Anbetracht eines unerwartet grossen Kindes feuchtäugig die Hände in die Hüften stützt.
Unser Zeitgefühl ist bestimmt durch Veränderung und Wiederholung. Oder dadurch, welche Veränderungen die Wiederholung anzeigt: Wir erleben die Zeit an den Wiederholungen – wenn schon wieder Tag der Kartonabfuhr ist, wenn low-waisted-Jeans wieder «in» werden, wenn wir wieder auf dem Arbeitsweg am gleichen Baum vorbeigehen. Und wir lesen sie ab an den Veränderungen in den Dingen. Manche messen die Zeit in Milchkäufen («die Milch ist schon wieder leer» oder: «die Milch ist schon wieder schlecht geworden»), andere an wachsenden Kindern.
Wie dem auch sei: Unsere Zeit vergeht in Wiederholungen von Einheiten und diese Einheiten sind uns eigen. Die Zeit einer Kellerassel vergeht wohl anders als die eines tauchenden Blauwals, wo das Herz der Assel hundert Schläge in der Zeit eines Walherzschlags macht. Das sind Leben in anderen Geschwindigkeiten.
Kehren wir noch einmal zum Kind mit der Margarine zurück. Es ist nun erwachsen. Gerade schreitet es, in Gedanken ganz bei einer Kellerassel mit Herzrasen, seinen Stadtzürcher Arbeitsweg ab: Um eine Fassadenecke, über eine Quartierkreuzung ohne Fussgängerstreifen, ein schmales Trottoir hinauf, unter der Krone einer Zeder hindurch. Meistens hetzt es am mächtigen Baum vorbei, denn er steht zwischen seinem Haus und der nächstgelegenen Tramhaltestelle. Doch dieses Mal ist anders. Es ist März und kurz vor sieben Uhr. Hinter dem Unispital stehen in den Strassen die Bäume hoch wie die Häuser, gefüllt mit Vögeln, die so laut zwitschern wie zuletzt im Frühsommer. Dem Himmel rutscht sein Wintergrau ab, die Luft riecht neu. Niemand spricht. Die Zeder überragt sogar die Häuser der Strasse, und obwohl das erwachsen gewordene Kind schon seit einem halben Jahr am Fuss der Strasse mit der Zeder wohnt, hat es noch nie angehalten, um den Baum zu berühren. Was ein eigenartiges Wunder, in Zürich eine Zeder als Nachbarin zu haben. Zögerlich stehen geblieben, schaut es am Stamm hoch. Die Furchen der Rinde verschränken sich mit den Fingern seiner offenen Hand, währenddessen das erwachsen gewordene Kind von der Plakette neben dran liest. Die Zeder ist eine Blaue Atlas-Zeder. Das Kind liest, dass die Zeder vor hundertneunzig Jahren gepflanzt wurde – ein junger Baum also, denn die Lebenserwartung dieser Zeder sei über tausend Jahre, sagt die Plakette. Mit hundertneunzig ist die Zeder trotzdem älter als mindestens alle dritten und vierten Stockwerke der Wohnhäuser um sie herum, älter als das Unigebäude, das Café und die Restaurants, älter als der Asphalt auf der Strasse unter Baum und Kind. Ein Leben in anderer Geschwindigkeit. Wenn das Kind in ihre Krone schaut, verlangsamt sich die Zeit. In ihren wallenden Ästen bewegt die Zeit sich schleichend, streicht bedächtig durch sie durch.
Die christliche Zeitrechnung ist etwa zwei Zedernleben lang. Zwei. Das sind zweihundertzwölf Milliarden sechshundertsiebenundfünfzig Millionen siebenhundertsechzigtausend Kellerasselherzschläge.
In der Brust einer Assel läuft die Zeit anders als im Kühlschrank eines Familienhauses im angrenzenden Dorf einer Agglomeration, anders als auf einem Trottoir oder in der Baumkrone darüber. Wir alle haben unsere eigenen Einheiten, in denen wir Zeit zählen. Die Zeder wohl eher in Stockwerken, die um sie gebaut werden, und weniger in Malen, wo das Kind an ihr vorbeischreitet. Das Kind durchaus. Wenn es an der Zeder vorbeikommt, merkt es beispielsweise, dass schon wieder Dienstag ist oder überhaupt schon wieder Morgen und es – wofür auch immer – auf dem Weg zum Tram ist, aber viel wichtiger: Es merkt, dass Zeit vergangen ist, seit es das letzte Mal an der Zeder vorbeieilte.
Die Wiederholung zeigt die Veränderung an. Die Wiederholung zeigt, dass Zeit verstrichen ist. Vielleicht ist das erwachsen gewordene Kind in der Zeit gereift und muss nun seltener an der Zeder vorbeihasten. Vielleicht rechnet es morgen die Zeit ein, um für eine Weile seine Stirn in Richtung ihrer Kronenzeit zu recken. In die Zeit, in der Zedern tausendjährig werden.
Spezialausgabe
fallen
Smilla Diener (*2000) hat einen BA in Industrial Design und steckt nun im Master Kulturpublizistik. Dingkultur und Sprache sind die Räume, in denen Smilla für ein lebenswertes Heute und Morgen entwirft.