Die Welt zu Gast bei Freunden?
Theaterfestivals und die Politik des Globalen.
Ich bin der Falsche, um an dieser Stelle über das Globale zu schreiben. Weshalb bin ich der Falsche? Ich habe Zweifel daran, dass ein weisser deutscher Wissenschaftler uns derzeit irgendetwas über das Globale erzählen kann, was uns tatsächlich weiterhelfen würde. Wer auch immer dieses etwas grösser, etwas internationaler gedachte «Wir» sein mag: Was «wir» derzeit brauchen, ist höchstwahrscheinlich etwas anderes als eurozentrische Perspektiven, anderes als eurozentrische Perspektiven kann ich aber natürlich nicht liefern.
Denn nimmt man ernst, was die Einführung in die Dramaturgie lehrt, dass jede Figur eben nur aus ihrer Position und Perspektive heraus verstanden werden kann, und lassen wir für uns gelten, was jede kritische Historiografie voraussetzt, dass auch Subjekte nur kulturelle Konstruktionen sind, dann hilft kein Post-Colonial Studies Reader,[1] um aus dem eigenen Privilegium herauszukommen. Auch die Wissenschaft kann eben nur von dort aus sehen und denken, wo sie steht, oder besser: lebt. Die Perspektive ergibt sich immer aus der Position. Und diese Positionalität, die jedes Sprechen voraussetzt, ist eben nicht nur eine intellektuelle, sondern wesentlich auch eine materielle Angelegenheit. Unsere Position ergibt sich aus dem Schnittpunkt einer Vielzahl sich durchkreuzender Machtbeziehungen, die uns im Durchgang durch unsere Sprache und unsere Körper überhaupt erst einen Platz in der Welt zuweisen. Nur von diesem Platz, der eben mehr zugewiesen als ausgesucht wird, kann die Welt begriffen werden.
Damit will ich nicht sagen, dass der privilegierte Blick auf die Welt ein verwerflicher wäre oder es die Tugend der Drangsalierten wäre, die Welt mit klareren Augen zu sehen. Das wäre ein moralisches, noch dazu falsches Argument. Mir geht es viel mehr um die epistemologische Dimension des Ganzen. Unsere europäische Sicht auf die Welt, diese Fassung des Globalen als weltweiter Einheitsraum, den wir seit Nikolaus Kopernikus und Kompass mit mal subtileren und mal brutaleren Mitteln in mehrfacher Hinsicht haben Wirklichkeit werden lassen, hat ausgedient und ist gescheitert. Wir in Europa, insbesondere im deutschsprachigen Raum, sind in der Situation, dass wir dringend jemanden von aussen brauchen,der uns hilft, aus diesem Schlamassel wieder herauszukommen. Wir selbst schaffen es derzeit über die Dekonstruktion unseres bürgerlichen Selbst nur selten hinaus. Und so notwendig diese Dekonstruktionen immernoch sind, um nicht wieder der imperialen Hybris der Aufklärung zu verfallen (die den Fortschritt der Vernunft in alle unvernünftigen, also alle anderen, Welten trägt, gerne auch mit entsprechend vernünftiger Gewalt), so sehr hat man doch das Gefühl, dass mit dieser sich selbst kritisierenden Kritik kaum noch Politik zu machen ist und sie ihr Komplement letztlich in einem recht hilflosen Pragmatismus hat.[2]
Die Weltkugel ist ein schönes Bild, weil sie die Gewalt nicht zeigt, auf der ihre Einheit beruht
Das Problem beginnt schon mit dem «Globalen» als Konzept, dem Bild von der Welt als Kugel: ein in sich geschlossener Körper, auf dessen unbegrenzter Oberfläche eine ungestörte Gleichverteilung herrscht, wo jeder Punkt gleich weit von seinem ideellen Zentrum entfernt ist. Niemand ist bevorzugt, es gibt keine Grenzen und keiner kann vom Rand fallen, und: «We are in this together». Als Globus steht diese Welt seit 1492 in den Kabinetten, später dann in Bürgerstuben und Kinderzimmern als handliches Ganzes zur Verfügung, das vermessen und vernetzt werden will, bis auch der letzte Vorposten des Fortschritts an einen globalen Handelsraum angeschlossen ist. Seit den 1970er Jahren ist es das Bild des blauen Planeten, von oben aus dem Weltall aufgenommen, das nun von Postern und Bildschirmschonern prangt.[3] Es ist ein schönes Bild, ein Bild voller Hoffnung, von dem Wunsch beseelt, dass wir alle gleich und irgendwie auch eins mit der Natur wären.
Das Bild ist aber auch deshalb so schön, weil es aufgrund der Entfernung, aus der es aufgenommen wurde, nicht zeigt, was sich dort unten auf diesem Erdball abspielt, und weil es nicht ahnen lässt, dass die Technologien, denen wir diese Vision vom Weltganzen zu verdanken haben, in erster Linie zur gewaltsamen Unterwerfung einzelner Teile eben dieses Weltganzen entwickelt wurden.
Diese Idee des Globalen lebt eben gerade von dem, was sie nicht zeigt, der materiellen Konstitution der Welt: den Mauern und Grenzkontrollen, den Strömen aus Waren, Menschen, Geldern, den Attraktoren aus Kapital und Macht, deren etablierte Ordnung ganz im Gegenteil wesentlich aus Zentren und Peripherien besteht. Diese Welt hat keine symmetrische Gestalt, passt auf keine Kugel und ist überhaupt schwer darzustellen, höchstens als verzerrtes und geborstenes Gebilde.[4]
Das Bild des Globalen als Repräsentation von Welt aber ist nur der Auswuchs eines umfassenderen Weltverhältnisses, das mit der europäischen Aufklärung in die Fussstapfen des Monotheismus tritt und an die Stelle der Wahrheit des einen Gottes die eine Wahrheit der Vernunft setzt. Sein Zentrum ist eine Epistemologie, die davon ausgeht, dass sich abstecken lässt, was und wie es gewusst werden kann; die behauptet, es liessen sich valide Aussagen über die Welt als Ganzes machen, die unabhängig von Zeit und Ort Gültigkeit beanspruchen können; die so tut, als gäbe es eine Erkenntnis, aus der das subjektive Interesse, das heisst der historische und politische Standpunkt herauskürzbar sei, und die deshalb weltweite Akzeptanz verlangen könne, weil sie potentiell durch das bessere Argument verbürgt sei.
Man kann diese Ideologie, die sich im Bild des Globalen manifestiert, Universalismus nennen. Sie ist seit geraumer Zeit in Misskredit geraten und hat doch wenig an Einfluss verloren. In der Nachfolge von Friedrich Nietzsche haben Denker wie Jacques Lacan, Michel Foucault und Jacques Derrida immer wieder die Ausgrenzungs- und Ordnungsmechanismen dieses universalistischen Diskurses thematisiert. Dennoch ist die im Anschluss an die kritische Theorie gestellte Frage offen, welches Korrektiv gegen eine offen brutale Machtpolitik ohne diesen Universalismus noch bliebe.
Grundlegender scheint mir daher die marxistisch inspirierte Kritik von Immanuel Wallerstein zu sein, die den Universalismus als transkulturelles Wissen einer weltweit ausgebreiteten und vernetzten Mittelklasse beschreibt. So sorgt der Universalismus einerseits dafür, die Widerstände ökonomischer Austauschprozesse zu reduzieren, und verdeckt andererseits die realen Ungleichheiten, die zwischen den Zentren und Peripherien der kapitalistischen Wirtschaftsordnung herrschen.
Die entscheidende Pointe ist demnach, dass der Universalismus gerade nicht universell ist, sondern einer konkreten historischen und politischen Interessenlage entspricht, dass das Bild der ›einen‹ gleichen Welt mit der Installation radikaler Ungleichheit verbunden ist und die Durchsetzung dieses Bildes die Ungleichheit nicht nur verdeckt, sondern wesentlich stützt. Zugleich aber, das ist das entscheidende Paradox, ermöglicht dieser Universalismus auch die Kritik eben jener ungleichen Verhältnisse, an deren Verdeckung er so massgeblich beteiligt ist.
Die Erklärung der Menschenrechte, das sollte man nicht vergessen, wurde von einem Sklavenhalter verfasst. Thomas Jefferson hat nie daran gedacht, seine Sklaven in die Freiheit zu entlassen, sondern tat viel dafür, sein Leben so einzurichten, dass er sie nicht allzu häufig sehen musste. Dennoch hat eben diese Erklärung der Menschenrechte einige Zeit später doch noch ihren Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei geleistet.
Trotz aller Kritik – oder gerade wegen ihr – scheint dieser Universalismus noch immer unserer (westlichen) Interessenlage zu entsprechen: Zu sehr baut gerade die linksliberale mittelständische Existenz westeuropäischer Theatermacher/innen und Akademiker/innen sowohl ökonomisch als auch moralisch auf diesem Fundament auf, zu gross ist gerade aus europäischer Perspektive die Angst vor einer ungeschminkten Machtpolitik, die Kultur wieder auf Repräsentation von Macht zu reduzieren versucht. Angesichts des zunehmenden weltpolitischen Zynismus, wie er sich in der ausgesetzten Ächtung der Folter im Kampf gegen den Terror, der ängstlichen Abschottung der Besitzstände und einem völlig entsubstanzialisierten Gewinnstreben zeigt, ist es jedoch äusserst fragwürdig, ob dieser Universalismus überhaupt noch als Korrektiv funktioniert.
Die Frage an das Theater als Festival, als ein Ort, auf dem sich Welt konstituiert, kann daher meines Erachtens derzeit nur lauten, ob hier etwas passiert, was sich dem universalistischen Globalen entzieht, das dem Dilemma von idealer Gleichverteilung und zentrifugalen Marktmächten zumindest zeitweise entkommt. Ich glaube, es müsste eine besondere Form des Gesprächs sein, die dies leisten könnte, und weil wir, wie skizziert, ganz gut in dem Universalismus leben, müsste das Gespräch von anderen geführt werden als uns. Statt Operndörfer in Afrika zu gründen, bräuchte das europäische Theater dringend selbst Entwicklungshilfe. Nigerianische, koreanische oder venezolanische Intendant/innen sollten die Staatstheater leiten, besser noch eine komplett international besetzte Kommission bilden, die durch die Lande reist und deutsche Theater mal aus ethnologischer Perspektive in den Blick nimmt. Aber während in der bildenden Kunst Leute wie Okwui Enwezor führende Museen übernehmen, fängt das Theater zumindest in Deutschland gerade erst widerwillig an, dem türkischstämmigen Mittelstand einen Platz einzuräumen.
Wie kann das Welttheater etwas anderes sein als Tourismusmesse?
Doch betrachtet man kursorisch die zeitgenössische Diskussion des Festivalbetriebes, dann geht es dabei anscheinend um ganz andere Fragen. Ein Beispiel: Renate Klett, 1981 die erste Programmdirektorin des Festivals Theater der Welt, beklagte 2004 in der Neuen Zürcher Zeitung, unter dem Titel «Welttheater überall», die «Festivalisierung»[5] der Theaterkultur:
«Die Notierungen der europäischen Festivalbörse sind für Kenner vorhersehbar – wie bei der Haute Couture gibt es regelmässig neue Kollektionen, die ihre Leitfiguren hinauf- oder hinunterstufen. Momentan ist Rodrigo Garcia (Argentinier in Spanien) leicht im Minus, Caden Manson (USA) im Plus, und Alvis Hermanis (Lettland) hat beide überflügelt. Die heisse Aktie der nächsten Saison wird Andrei Zholdak (Ukraine) heissen, sich aber vermutlich nicht lange halten. Das Spiel ist so amüsant und langweilig wie alle Spekulationen; und im Kulturbetrieb wie in der Wirtschaft gilt, dass jeder Marktwert ein Konstrukt und also manipulierbar ist, Qualität dabei nur ein Merkmal unter vielen. […] Vielleicht verklärt die Erinnerung, aber es scheint, als sei auch dort das Gras früher grüner gewesen. Ehedem musste, wer etwas entdecken wollte, eigene Wege gehen und viele mühsame Umwege, heute haben alle die gleichen Internet-Informationen, die gleichen Networks und Mailing Lists.»[6]
Das Argument ist letztlich ein erschreckend Ökonomisches: «Der globale Austausch von Produktionen führt zwar zu einer Diversifizierung des Angebots, nicht immer indessen zur Steigerung der Qualität».[7] So hätte das auch in der Broschüre einer Mittelstandsvereinigung stehen können: Die Überhitzung des Marktes führt zu Innovationsmangel und Qualitätsverlust der Ware. Kritisiert wird letztlich die Auswahl der zur Schau gestellten Produkte.
Der Begriff, der eine solche Willkür der Zusammensetzung traditionell kritisiert, ist das Potpourri: eine Ansammlung vielfältiger Elemente, ein Allerlei, das im Gegensatz zur avantgardistischen Collage nicht auf Kontrast, sondern auf Melange aus ist. «Der Organist gibt dazu ein munteres Potpourri aus Bach, Amazing Grace und anderen Ohrwürmern», gibt Wiktionary als Beispiel an, oder auch: «Ein Potpourri von Akazienhonig, reifen Quitten, Rosenblättern und Limonen begeistert die Nase».[8] Ein Potpourri ist aber eigentlich noch mehr: Ein pot pourri, ein verdorbener Topf, ist meist als vasenförmiges Gefäss ausgestaltet, in dem getrocknete Pflanzenteile oder mit Salz konservierte Blüten aus aller Welt vor sich hin gammeln, um wohlriechende Düfte zu erzeugen.
Es ist ein Ahne der Duftlampe, die in den 1980er Jahren auf den Fensterbrettern Staub sammelte und heute vor allen Dingen in Yoga-Studios Verwendung findet. Das Potpourri bringt den lieblichen Duft einer ausgesperrten Natur in die Wohnzimmer der bürgerlichen Moderne und beschwichtigt von der Grossstadt aufgewühlte Nerven durch eine unansehnliche Masse verderbenden Komposts, die dem Blick entzogen ist. Es ist ein exotisches Gesamtduftwerk, das nicht ohne Grund an Richard Wagner denken lässt, der ja mit Klingsors Zaubergarten eine ähnlich exotische Blumenwiese im Parsifal auftreten lässt, den man vielleicht nicht ganz unbegründet als ein riesiges altgermanisches Potpourri – als einen «Wahntopf» – begreifen kann.
Wenn 1882 in Bayreuth die Geschichte des Theaterfestivals als «Bühnenweihfestspiel» beginnt, dann ist die erfundene Tradition des Bayreuther Festspiels auch das Gegenmodell zu einer anderen Form von Festival: der 1851 in London erstmaligen Weltausstellung. Diese war immer schon eine Weltverkaufs- oder Weltausverkaufsausstellung, in der die Welt in jener Egalität zu besichtigen war, die sie als Ware erlangt hatte. In Bayreuth hingegen sollte Kunst als Gesamtkunstwerk nicht mehr nur Rahmenprogramm und Verkaufsargument sein, sondern das Wesentliche, der Anlass für eine nichtkommerzielle, nicht- industrielle Form der Vergemeinschaftung.[9] Das hatte ursprünglich ein revolutionäres Ansinnen, wollte Herrschern und Märkten die Mittel zur kollektiven Identitätsstiftung entreissen, lief dann aber doch letztlich auf ein reaktionäres Beruhigungsgeschehen hinaus, das im Angesicht der damals aktuellen Globalisierungskrise in erster Linie als Kompensation der Moderne verstanden werden muss.[10] Die Bayreuther Festspiele haben insofern eine historische Nähe zum Potpourri mit seinen exotischen Düften, dem Naturersatz und der beschwichtigenden Einwirkung auf die Nerven.
Auch Salzburg, die zweite Festivalgründung im deutschsprachigen Raum, antwortet auf eine Globalisierungskrise: den Ersten Weltkrieg. Während in Bayreuth eine Tradition der Kunst inszeniert wird, antwortet Salzburg mit deren inszenierter Zukunft.[11] Auch hier geht es primär um die Vergewisserung von etwas Eigenem, das aber diesmal von einem internationalen Publikum bewundert werden soll, weil es wie die Weltausstellungen das Nationale durch die Leistungsschau im europäischen Wettbewerb artikuliert. War der österreichische Vielvölkerstaat auch militärisch und industriell unterlegen, so stellte die Republik Österreich in Salzburg nochmals ihr kulturelles Kapital zur Schau. Internationalität und Nationalgedanke sind kein Widerspruch, sondern bedingen sich: Man ist schon Welt- bürger und will Welttheater. «Salzburg will dem ganzen klassischen Besitz der Nation dienen» , schreibt Hugo von Hofmannsthal in seiner Festspielprogrammatik.[12] Der Glaube an Europa «ist das geistige Fundament unseres geistigen Daseins».[13] Das hört sich demütig an, ist aber von einem Überlegenheitsgefühl genährt, das die Welt toleriert, weil es glaubt, sie belehren zu können. Das Festival als Potpourri kompensiert nicht nur, es stiftet auch nationales Selbstbewusstsein.
Natürlich ist so ein Potpourri leicht verurteilt. Unser Kunstbegriff, der immer noch aus der selbsternannten Avantgarde genährt wird, baut ganz wesentlich auf der Verachtung der Kultur des Potpourris auf: also den abgehängten Fenstern, dem Plüsch, den ausgepolster- ten Sitzmöbeln des verpönten 19. Jahrhunderts. Psychosozial betrachtet hat Kompensation dahingegen eine ganz wichtige Funktion, die radikalen Umbrüche der Lebenswelt abzudämpfen und die Schocks der Moderne zu verkraften. Führt man sich die Nähe fast aller Theateravantgarden zu den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts vor Augen, müsste man vielleicht die Bewertung des verstaubten 19. Jahrhunderts noch einmal überdenken.
Das eigentliche Problem mit dem Potpourri liegt meines Erachtens nicht so sehr in der beruhigenden Wirkung, als in der Art, wie es die Welt dabei erscheinen lässt: Die Welt wird in gewisser Weise zur Selbstberuhigung missbraucht und darüber erfolgreich vergessen. Denn im Potpourri schwelt der Exotismus.
Ein Beispiel: Vor zwei Jahren war ich auf einem deutschen Festival in einer aufgehübschten Fabrikhalle, hinten im schummrigen Licht Tänzer mit dunkler Hautfarbe, davor in ordentlichen Reihen ein älteres, bürgerliches weisses Publikum, links von mir ein junger Mann, der sofort «Favela» erkennt mit einer gewissen Verwegenheit in der Stimme, rechts von mir flüstert eine ältere Dame von den tollen Körpern. Südlich von Neapel scheinen es doch immer wieder Peter Scholl-Latour und Leni Riefenstahl zu sein, die den Deutschen die Welt erklären. Lässt sich in Deutschland also, wo Deutsche, wenn sie nur schwarze Hautfarben haben, immer noch ganz Afrika repräsentieren müssen, überhaupt ein Theater zeigen, das tatsächlich einen anderen sozialen Hintergrund hat? Diverse ethnische Gruppen, die auf dem Berliner Karneval der Kulturen wahnsinnig viel Spass haben, in folkloristischen Kostümen durch die Strassen zu tanzen, sind das Hassobjekt meiner Kreuzberger Theaterfreunde, sie werfen ihnen Selbstexotisierung vor und entwickeln ausgeprägte Peinlichkeitsgefühle. Es scheint mit anderen Worten gar nicht so einfach, das Ausland nicht ins Potpourri zu stecken.
Ein zweites Beispiel: das 1981 als Auskopplung des internationalen Theatre of Nations vom deutschen International Theatre Institute ITI gegründete Theater der Welt. Noch 2005 schreibt die damalige Programmdirektorin Marie Zimmermann in ihrem Vorwort zur Stuttgarter Ausgabe, sie sei mit einem Kompass auf «Forschungsreise» gegangen, um «fremden Welten und den durch sie geprägten künstlerischen Entwürfen in den unvertrauten Harmonien und Klängen das Echo des eigenen Verstehens ab[zu]lauschen».[14] Von den Kreisbewegungen des indischen oder ägyptischen Zeitverständnisses inspiriert, wolle sie mit einem Theater im Ausnahmezustand, das bloss die Themen Liebe, Macht, Tod und Unglück kenne, den «Fliehkräften der Globalisierung» entkommen und lädt das Publikum zu einer «furchtlosen Entdeckungsfahrt» ein.[15] Das ist vielleicht gut gemeint, aber vom kolonialen Sprachduktus her erschreckend, und zeigt einmal mehr, wie Deutschland auch in der Auseinandersetzung mit dem Postkolonialismus noch einmal als «verspätete Nation» erscheint.[16] Es wird hier sozusagen voll durchs Potpourri gewatet.
Spannender ist hingegen, wie das Festival in den Folgejahren ganz bewusst diesen Sumpf des Exotismus zu vermeiden versucht. 2008 erklärt Thorsten Mass in Halle mit einer wegweisenden Rhetorik nicht mehr die Welt zum Programm, sondern die Stadt, in der das Festival zu Besuch ist. 2010 in Mülheim an der Ruhr und Essen führt Frie Leysen dies weiter, indem sie die Stadt als Ort der Begegnung von Differenzen bestimmt, die zwischen Herausforderungen und Versprechen und Missverständnissen oszillieren – die Welt des Festivals wird so zum Teil einer ohnehin schon weltseienden städtischen Kultur. 2014 in Mannheim geht Matthias Lilienthal dann einen Schritt weiter, indem er den fremden Blick auf die eigene Welt fordert und fördert, die eigene Realität soll als fremde Welt erlebt werden:[17] Mannheim Stadt statt «brasilianisches Hinterland, Tokioter Grossstadtdschungel oder Strassenschluchten von Manila» soll als Theater der Welt erlebt werden, heisst es in der Beschreibung des HOTEL shabbyshabby (2014).[18] Exotisch ist nunmehr das Eigene oder nur scheinbar Eigene: Mit den vielfach wiederholten X Wohnungen (2002) wird das Entdecken der städtischen Diversität geübt, und gleichzeitig verschwindet die Welt jenseits der Stadt aus der Wahrnehmung. Wenn «Performance […] genauso globalisiert [ist] wie die von SAP entwickelte Software»,[19] wie Lilienthal schreibt, dann hat sich Theater der Welt eigentlich erledigt, weil es auch im Theater den Goldstandard gebe, der als Massstab aller Dinge diene. Die Gefahr des Exotismus ist damit restlos gebannt, aber auch die Welt jenseits der Stadtgrenzen.
Genau dieses Dilemma findet einen spannenden Ausdruck in den kritischen Überlegungen der Dramaturgin und Kuratorin Stefanie Carp zum postkolonialen Kuratieren. In der Reflexion der eigenen Massstäbe bestimmt sie die Suche nach «Wirklichkeits- und Erfah- rungsgehalten, nach dem Heterogenen, den Brüchen und den authentischen Ausdrucksformen einer anderen Kultur»als Zielsetzung.[20] Dabei betont Carp selbstkritisch den «widersprüchliche[n] Wunsch nach Arbeiten, die […] erkennbar fremd, aber gleichzeitig international lesbar sind», die »befremden« sollen, aber «nicht exotistisch wirken», und fragt sich:
«Ist es nicht ein touristisches Bedürfnis, ein internationales Erfahrungsarchiv voller fremder Wirklichkeiten zu präsentieren? Alles soll deutlich fremd sein und von anderen Realitäten berichten, aber gleichzeitig bitte in unseren ästhetischen Geschmacksnormen verbleiben; es soll alles so daherkommen, dass unsere Avantgarden in Berlin-Mitte oder Hamburg oder Wien es als «auf der Höhe der Zeit befindlich» erkennen können.» Am Beispiel eines Theaterbesuchs im Teatro de la Candelaria in der Altstadt von Bogotá wird das Dilemma konkret:
«Ich hatte die Tage zuvor […] zu viele oberflächliche,vergessbare Arbeiten gesehen. Doch in diesem Raum herrschte […] Konzentration und Stille. Die Szenen waren Shortcuts von Gewalttaten und alltäglichen Katastrophen, die auf die Abwesenheit des Heiligen bezogen wurden. Ich spürte nach fünf Minuten, dass ich es mit ernsthaft arbeitenden Künstlern zu tun hatte. Aber: Die Ästhetik ist doch zu raunend, dachte ich, ein bisschen kitschig, der Ausdruck der Spieler nicht nüchtern genug. Man würde das Stück in einer Black Box in Mitteleuropa als exotisch ansehen.» Carp hat das Stück nicht eingeladen und kommentiert dies im Nachhinein folgendermassen: «Meine innere europäische Zeitgeist- und Geschmackspolizei hat es verboten.»[21]
Die Entscheidung ist nachvollziehbar, die Wahrscheinlichkeit, dass im europäischen Kontext von Kolumbien, das vorwiegend mit Koks und Guerilla assoziiert wird, nur wieder Klischees südamerikanischer Emotionalität übrig bleiben und allein schon die katholische Prägung der Ästhetik im protestantischen Nordeuropa eher belächelt als verstanden würde, ist gross. In der Tat ähneln die ästhetischen Überlegenheitsgefühle deutscher Theaterleute gegenüber «konventionellen» Theaterästhetiken manchmal dem Stolz auf deutsche Autos oder deutschen Fussball und haben einen merkwürdigen Beigeschmack. Denn letztlich hat die Rezeption ihre Entsprechung auf der Produktionsseite: Es ist die europäische Kuratorin, die hier auf Reisen ist, um in der Peripherie für einen europäischen Markt einzukaufen: Kulturgüter, Neues, Anregendes, was die Leute auch sehen wollen werden und mit dem man sich von der Konkurrenz ein wenig abheben kann, um das eigene Profil zu stärken. Es sind Marktplätze und keine Spielwiesen, auf denen sich das globale Festivalgeschehen abspielt.
Denn welches Interesse könnte das Teatro de la Calendaria, ein engagiertes Theater, das sich mit der sozialen Realität Kolumbiens auseinandersetzt, eigentlich daran haben, in Deutschland aufzutreten, ausser einem ökonomischen?
Das Dilemma ist offensichtlich: je signifikanter vor Ort, desto exotischer anderswo. In der Umkehrung hat die Vermeidung des Exotismus einen Universalismus zur Folge, bei dem fragwürdig ist, ob er überhaupt noch etwas zulässt, was wir nicht bereits kennen. In einer Welt, in der alle die gleiche Sprache sprechen, lassen sich vielleicht Missverständnisse vermeiden, aber ohne sie sind auch keine Irritationen mehr möglich und ohne Irritation wird Veränderung zunehmend unwahrscheinlich. Es stellt sich die Frage, ob unsere kanonisierten performativen und postdramatischen Ästhetiken nicht vielfach auch nur ein neues, moderneres, schickeres Potpourri darstellen, mit denen die Verwerfungen des Neoliberalismus wundervoll kompensiert und neue mittelständische Identitäten geprobt werden können.
Hören wir auf, das andere zu konstruieren, um es uns einzuverleiben
Mir scheint, dass gerade in dem emanzipativen Gestus unseres bürgerlichen Theaters eine Ideologie schlummert, die einen anderen konstruiert und in der Begegnung einverleibt, um dadurch selbst zu wachsen. Nach dem Schock von 1793, dass Revolutionen zu instabi- len Verhältnissen neigen und Gewalttaten entfesseln können, sind es Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung, die einen alternativen moderaten Weg der Emanzipation entwerfen: Statt spontanem kollektiven Umbruch der Gesellschaft wird die langsame individuelle Bildungsarbeit, verstanden als Prozess der Versöhnung von Ich und Welt durch die Ästhetik, präferiert. Das ist im Grunde ein Versuch der Befreiung aus der Entfremdung der Moderne, die in den Industriegesellschaften mit der Descartes’schen Trennung von Geist und Körper auf brutale Weise ernst gemacht hat: «Der Nutzen ist das grosse Idol der Zeit, dem alle Kräfte frohnen und alle Talente huldigen sollen».[22]
Jacques Rancière hat dieses Schiller’sche Programm vor ein paar Jahren als alternativen Begriff der Moderne wieder ins Spiel gebracht, indem er die Moderne der Kunst nicht als selbstreflexive Autonomisierung begreift, sondern als eine Kunst, die eine Alternative zu spekulativem Idealismus und politischem Pragmatismus formuliert.[23] Doch das Problem scheint mir, dass mit diesem präpolitischen Bildungsideal der Kunst alles sogenannte und erfahrene Fremde letztlich zum einzuverleibenden Bildungsgut mutiert, zu jenen heterogenen «Erfahrungsgehalten»,[24] die wir uns so dringlich wünschen, um über den eigenen Horizont hinausblicken zu können. Bei Schiller verbirgt sich der entscheidende Satz in einer Fussnote:
«Um uns zu teilnehmenden, hilfreichen, tätigen Menschen zu machen, müssen sich Gefühl und Charakter mit einander vereinigen […]. Wie können wir, bei noch so lobenswürdigen Maximen, billig, gütig und menschlich gegen andere sein, wenn uns das Vermögen fehlt, fremde Natur treu und wahr in uns aufzunehmen, fremde Situationen uns anzueignen, fremde Gefühle zu den unsrigen zu machen?»[25]
Das klingt gut gemeint, hat aber in der Betonung der Anverwandlung und Einverleibung eines vermeintlich Fremden einen kannibalistischen Unterton, der bedenklich ist. Anstatt sich «an die Welt zu verlieren», geht es darum, «diese vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer Erscheinungen in sich [zu] ziehen»,[26] «alles in sich [zu] vertilgen, was bloss Welt ist»,[27] und die «Empfänglichkeit» zum Zwecke des eigenen Wachstums auszubilden: «desto mehr Welt ergreift der Mensch, desto mehr Anlagen entwickelt er in sich», Anlagen, die dann wieder zur Unterwerfung der Welt gebraucht werden können: «je mehr Kraft und Tiefe die Persönlichkeit, […] desto mehr Welt begreift der Mensch, desto mehr Form schafft er ausser sich». [28] Die ästhetische Menschwerdung, wie Schiller sie sich vorstellt, basiert insofern auch auf einer Aneignung einer Vielfalt, die als ein Äusseres, Anderes, Fremdes dem Einzelnen gegenüberstehend konstruiert wird. Es wäre zu fragen, inwieweit ein solches «menschenfreundliches Othering» dem bürgerlichen Theater überhaupt zu eigen ist und wieweit es mit ihm fortlebt.
Mit Emmanuel Levinas, mit dem hier weiterzudenken wäre, bleibt zu fragen, inwiefern es nicht gerade dem Theater, das sich humanistisch gibt, meist an Humanität fehlt und wie sich eine ethische Verpflichtung gegenüber einem nichtindividuellen Anderen, die jeder Subjektivität vorausginge, theatral denken und realisieren liesse.[29] Denn traditionell ist die Welt nicht deshalb zu Gast bei Freunden (wie es das Motto der Fussball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland wollte), um mit ihr ins Gespräch zu kommen, als vielmehr um sich ihrer selbst zu vergewissern.
Aber, wie bereits ausgeführt: Das, was sich aus dem Inneren einer Blase erkennen lässt, sind höchstens die Ränder der Blase selbst. Und es hat wenig Sinn, dies zu bedauern. Denn vielleicht ist gerade der Unwillen, die eigene Blasenexistenz zu akzeptieren, der Quell aller europäischen Blasiertheit, weil er nur die Kehrseite eines Willens zum Universalismus ist, der für alle sprechen will und sich daher mit der Akzeptanz von anderen Welten und parallelen Universen schwertun muss. Und weil auch dieser Aufsatz darüber nicht hinauskommen kann, kann diese Rede im Grunde nur als Platzhalter für einen anderen Text einstehen und bricht hier ohne Abschluss ab.
Der vorliegende Text erschien erstmals in dem von Beate Hochholdinger-Reiterer und Géraldine Boesch herausgegebenen Band Spielwiesen des Globalen, der 2016 in der Reihe «itw: im dialog – Forschungen zum Gegenwartstheater» im Berliner Alexander Verlag veröffentlicht wurde. Der Inhalt des gesamten Bands steht ausserdem online zur Verfügung.
[1] vgl. u.a. Ashcroft, Bill/Griffith, Gareth/Tiffin, Hellen: The Post-Colonial Studies Reader. London, 2005.
[2] vgl. Latour, Bruno: Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang. Zürich/Berlin, 2007.
[3] vgl. Diederichsen, Diedrich/ Franke, Anselm: The Whole Earth. Kalifornien und das Verschwinden des Außen. Berlin, 2013
[4] Eine Auswahl an verzerrten Weltkarten bietet die Website worldmapper.org
[5] Klett, Renate: Welttheater überall. Vor- und Nachteile des globalisierten Festivalbetriebs. In: Neue Zürcher Zeitung, 27.12.2004.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[9] vgl. Kienzle, Ulrike/Lindner, Thomas: Bayreuth als ästhetische Utopie. In: Bayreuther Festspiele 1998, Programmheft, S. 14-25.
[10] vgl.Sprengel, Peter: Die inszenierte Nation. Deutsche Festspiele 1813-1913: mit ausgewählten Texten. Tübingen,1991.
[11] vgl. Elfert, Jennifer: Theaterfestivals. Geschichte und Kritik eines kulturellen Organisationsmodells. Bielefeld, 2009.
[12] Hofmannsthal, Hugo: Die Salzburger Festspiele. In: ders. (Hg.): Essays, Reden und Vorträge. North Charleston: Create Space Independent Publishing Platform, 2013, S. 17-182.
[13] Ebd. S. 182
[14] Zimmermann, Marie: Vorwort. In: Theater der Welt 2005 Stuttgart. Programmheft, S. 7-9
[15] Ebd.
[16] vgl. Plessner, Helmut: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes. Stuttgart, 1959
[17] vgl.Kosminski, Burkhart/Lilienthal, Matthias: Einleitung. In: Theater der Welt 2014 Mannheim. Programmheft, 2014, S. 8-11
[18] raumlaborberlin: HOTEL shabbyshabby. Beschreibung. In: Theater der Welt 2014 Mannheim. Programmheft, S. 12-14.
[19] Kosminski, Burkhart/Lilienthal, Matthias: Einleitung. In: Theater der Welt 2014 Mannheim. Programmheft, 2014, S. 8.
[20] Carp, Stefanie: Im postkolonialen Raum. Überlegungen zum politischen Kuratieren. In: Hehmeyer, Kirsten/Pees, Matthias (Hg.): Import Export. Arbeitsbuch zum HAU Berlin. Berlin, 2012, S. 97
[21] Ebd.
[22] Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. In: ders. (Hg.): Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Briefe an den Augustenburger, Ankündigung der Horen und letzte, verbesserte Fassung. München, 1967, S. 80.
[23] vgl.Rancière, Jaques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Berlin,2006.
[24] Carp 2012, S. 97.
[25] Schiller 1967, S. 121
[26] Ebd. S. 120
[27] Ebd. S. 113
[28] Ebd. S. 119
[29] vgl. Levinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg im Breisgau,2007;vgl.Levinas, Emmanuel: Humanismus des anderen Menschen. Hamburg, 1989
Spezialausgabe
Im Welttheater
Ulf Otto ist Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Intermedialitätsforschung am Institut für Theaterwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München.