Die Unmöglichkeit einer Insel
Zu vergangenen und gegenwärtigen Konstruktionen von Gegenwelten auf der Landiwiese und am Zürichhorn.
Die Landiwiese liegt am linken Ufer des Zürichsees, nah genug an der Zürcher Altstadt und dem Bahnhof, um schnell erreichbar zu sein, und fern genug, um einen Gegenraum jenseits der Stadt zu eröffnen. Diese Hoffnung jedenfalls war seit den Anfängen des Theater Spektakels in den 1980er Jahren mit dem Ort verbunden, und so wurde er immer wieder rezipiert:[1] Jüngst etwa in einem Text einer Forschergruppe der Universität Bern, die sich mit dem Festival beschäftigte.[2] In diesem Text wird das, was sich jährlich im Sommer für rund zwei Wochen auf der Landiwiese ereignet, als «Mikrokosmos» bezeichnet, als «andere Welt», in der sich die Lasten und Zwänge des Alltags zugunsten der Feier, der Ausgelassenheit, vielleicht auch des Rauschs einfach verflüchtigen. Und was in diesem Text zunächst in bunten Farben als zirzensisch-dionysisches Spektakel ausgemalt wird – «riesige Zirkuszelte, kulinarische Düfte aus aller Welt, kleine und große Bühnen, Gaukler_innen und Straßenkünstler_innen und Jahr für Jahr verschiedene Installationen und Bauten» – wird dann noch einmal anders kontextualisiert: Der Ort erwecke den Eindruck einer «nach außen hin abgeschlossenen Insel», der die Eigenschaften einer Heterotopie im Sinne Foucaults aufweise.
Obwohl diese Zeilen wissenschaftlichen Anspruch erheben, artikuliert sich in ihnen weniger eine präzise Beschreibung des Ortes, als eine stark romantisierte Wunschvorstellung. Diese wird mit einer Abfolge von Begriffen und Narrativen heraufbeschworen, von denen einige örtlich konnotiert sind – die Insel, der Mikrokosmos, die «andere Welt» – andere jedoch auch zeitlich: die Bezeichnung des Festivals als «Zürichs fünfte Jahreszeit» etwa, die es zum Ausnahmezustand deklariert, der sich nicht in die periodische Abfolge der Jahreszeiten fügen will. Das Theater Spektakel auf der Landiwiese soll also der alltäglichen Lebenswelt nicht nur räumlich entrückt sein, sondern als «andere Zeit» auch aus ihrer Chronologie austreten. Diese Verklärung trübt den Blick auf die Geschichte des Ortes und die historischen Zusammenhänge, in denen er steht. Sie macht ihn zu einem ahistorischen Paradiesgarten, statt ihn zu kontextualisieren und nach dem zu befragen, was früher war.
Es ist in diesem Zusammenhang ein fast ironischer Zufall, dass sich Foucault in seinem 1967 verfassten Text Andere Räume, in dem er einige Grundsätze der Heterotopie definiert, für eine weitaus komplexere und reflektiertere Lesart einzelner Orte ausspricht. «Wir leben nicht innerhalb einer Leere, die nachträglich mit bunten Farben eingefärbt wird», schreibt er, «wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen definieren».[3] Im Fall der Landiwiese ist es die Schweizerische Landesausstellung von 1939, die dem Uferstreifen hinter dem Bahnhof Wollishofen zum ersten Mal eine Funktion zuweist: Durch Aufschüttung und Verbreiterung wird er zur Ausstellungsfläche gemacht.
Wenn man nun der von Foucault formulierten Prämisse folgen möchte, dass Platzierungen im Raum, also einzelne Orte, von der besagten «Gemengelage von Beziehungen» bestimmt werden, dann lohnte ein Rückblick auf die «Landi», wie sie im Volksmund hiess, von 1939. Man würde dann wohl erschrecken vor dem nationalistisch gefärbten Programm und dem straffen Auftritt dieser Ausstellung, die schon im Geleitwort des damaligen Bundespräsidenten Philipp Etter den «geistigen Aufbruch» und die «Selbstbehauptung […] des grossen schweizerischen Geisteserbes» propagierte.[4] Man würde vielleicht zwischen Erstaunen und heimlicher Bewunderung schwanken angesichts der Schlichtheit und dualistischen Präzision einer Dramaturgie, die auf der rechten, der Landiwiese gegenüber liegenden Seeseite mit dem Nachbau eines Bauerndörfli eine idealisierte Version der Heimat beschwor, um auf der linken Seeseite in immer neuen Variationen den Glauben an den «Sieg der Arbeit»[5] und den Fortschritt zu zelebrieren, der das Land in die Zukunft führen würde.
Vor allem aber würde man bei einer solchen Rückbetrachtung wohl die unbehagliche Entdeckung machen, dass auch die Landesausstellung 1939 schon als eine Art der Gegenwelt funktionieren sollte. In einer Zeit, die durch Wirtschaftskrisen und Kriegsangst geprägt war, wurde das nationalistisch überhöhte Besinnungsprogramm der «Landi» auch als Fluchtmöglichkeit aus dem Alltag begriffen. Als Ende August 1939 für einen möglichen Angriff Nazideutschlands auf die Schweiz mobilisiert wurde, entfaltete vor allem das Dörfli auf der rechten Seeseite sein eskapistisches Potential. Davon erzählt ein Beitrag im Gedenkband, dem Goldenen Buch der LA 1939, der kurz nach dem Ende der Ausstellung erschien: «Die Kriegsangst weicht wie ein böser Traum. Die Welt tut sich wieder auf in rosaroten und himmelblauen Farben. […] Nein, es kann […] nicht zum furchtbaren Weltenbrand kommen!», schreibt die Autorin Ruth Blum, die an einem trüben Samstag die «ganze Dörfli-Herrlichkeit» auf sich wirken lässt, um sich von «diesen unerfreulichen Bildern der Kriegspsychose zu erholen».[6]
Mit seinen Fachwerkattrappen, die während der Dauer der Landesausstellung «gediegenen Heimatwerkgeist» ausstrahlen,[7] seinen Küchlistuben, Jahrmarktbuden, Weinpavillons und Tanzplätzen wird das Dörfli zu einer Idylle stilisiert, in der die Lasten und Zwänge der alltäglichen Lebenswelt auf wundersame Weise suspendiert zu sein scheinen. Feste werden gefeiert, Trachtenumzüge abgehalten, die Besucher finden Ablenkung und Zerstreuung. Doch diese inszenierte Heimatseligkeit sorgt zugleich zuverlässig für eine Art der «inneren Mobilisierung», eine vorauseilende Einschwörung auf die Landesverteidigung, die auch in den offiziellen Publikationen der Landesausstellung immer wieder betont wird. Von «Sammlung, Besinnung und Stärkung» spricht der Journalist Eugen Th. Rimli in seinem Beitrag zum Goldenen Buch, und erkennt in der Ausstellung gar einen «eidgenössischen Gottesdienst».[8]
Natürlich kann man solche Aussagen heute nicht mehr lesen, ohne dazu auf Distanz zu gehen. Festzuhalten bleibt, dass die Landesausstellung 1939 mit dem Dörfli einen Ort besaß, an dem sich die Sehnsucht nach einem Ausbruch aus der damaligen Lebenswelt und der Flucht an einen anderen, scheinbar idyllischen Ort artikulierte. Doch gerade in der Rückschau zeigt sich deutlich, wie sehr dieser Ort selbst ein Produkt, eine Erfindung seiner Zeit war, der die Sehnsüchte der damaligen Gegenwart ausbuchstabierte – sodass diese letztlich doch immer präsent blieb.
Foucaults Definition eines Gegenortes, einer Heterotopie, die er in dem oben erwähnten Text von 1967 vornimmt, geht unter anderem auf diese Verflochtenheit mit der eigenen, kulturellen Gegenwart ein. Die Heterotopie sei dadurch gekennzeichnet, schreibt er, dass in ihr «die wirklichen Plätze innerhalb einer Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind».[9] Es existiert demnach eine präzise Beziehung zwischen der Verfasstheit einer Gesellschaft und ihren Gegenorten – seien es solche, die tatsächlich den von Foucault definierten Grundsätzen einer Heterotopie entsprechen,[10] oder nur solche, die sie sich selbst herbeiträumt und konstruiert. Letzteres war, wie oben gezeigt wurde, bei der Landesausstellung 1939 der Fall. Es war wohl auch bei der «Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit» so, die 1958 auf der Landiwiese stattfand. Die eigens aufgeschüttete «Saffa»-Insel, nach dem Kürzel der Ausstellung benannt, wurde zum Symbolort für die Emanzipation der Frau. Wie die Ausstellung diese Emanzipation allerdings dachte, war mehr oder minder direkter Ausdruck des konservativen Frauenbilds der 1950er Jahre.
Sowohl die Landesausstellung 1939 als auch die «Saffa»1958 waren von politischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen geprägt, die sich von den heutigen erheblich unterscheiden. Was sich an dieser historischen Rückschau dennoch demonstrieren lässt, ist die Notwendigkeit einer kritischen und selbstreflexiven Haltung, die an die Stelle von idealisierenden, unreflektierten Zuschreibungen treten müsste. Auch im Hinblick auf das Theater Spektakel – um den weiten Bogen zurück in die Gegenwart zu schlagen – wäre es an der Zeit, sich von der Verklärung des Festivals zum Gegenort zu verabschieden. Statt es zur Idylle und quasi-verwirklichten Utopie zu stilisieren, sollten Theatermacher/innen, Zuschauer/innen, Kritiker/innen in einen Dialog treten, der nicht zuletzt auch kritische Perspektiven auf das Festival selbst zulässt. Dies könnte den Blick auf die blinden Flecken, die Wunschvorstellungen und Projektionen lenken, die sich hinter den eingangs zitierten, idealisierenden Zuschreibungen verbergen. Denn eines kann man dem Festival gewiss nicht attestieren: die Isolation und Abgeschiedenheit einer «nach aussen hin abgeschlossenen Insel». Es ist wohl vielmehr ein Ort, an dem sich – höchst ambivalente – Elemente unserer Kultur und Gesellschaft verdichten.
[1]Beispielhaft in diesem Artikel der NZZ vom 10.8.2014, in dem in Bezug auf das Theater Spektakel von einem «zirzensische[n] Mikrokosmos», einer «zirzensische[n] Idylle» die Rede ist und ein Protagonist des Textes sich wehmütig an den «wunderbaren «Spektakel»-Mikrokosmos» der frühen 1980er Jahre erinnert. Diese Lesart spiegelt sich auch in einem Beitrag des Tagesanzeigers vom 27.08.2013, der dem Theater Spektakel unter anderem «weltflüchtig-wundersame Momente» attestiert.
[2]Beghetto, Selina/Bonderer, Myrtha/Schai, Noemi: Das Zürcher Theater Spektakel 1980 –2015 . Der Mikrokosmos auf der Landiwiese. In: Beate Hochholdinger-Reiterer/Géraldine Boesch (Hg.): Spielwiesen des Globalen, Berlin, 2016, S. 195.
[3]Foucault, Michel: Andere Räume. In: Barck, Karlheinz u.A. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig, 1992, S. 38.
[4]Etter, Philipp: Die Landesausstellung eine geistige Mobilmachung. In: Landesausstellung im Werden. (herausgegeben vom Pressedienst der Schweizerischen Landesausstellung), Zürich, 1939, S. 3.
[5]o. V.: Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich. Offizieller Führer mit Ausstellungsverzeichnis und Orientierungsplan. Zürich, 1939, S. 13.
[6]Blum, Ruth: Mobilisationseindrücke im Dörfli. In: Wagner, Julius (Hg.): Das Goldene Buch der LA 1939. Zürich, 1939, S. 341-357.
[7]Ebd. S. 342.
[8]Rimli, Eugen Th.: Die Landesausstellung – eine Dokumentation schweizerischer Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeit. In: Wagner, Julius (Hg.): Das Goldene Buch der LA 1939. Zürich, 1939, S. 5f.
[9]Foucault 1992, S. 39.
[10]In dem hier zitierten Text «Andere Räume» definiert Foucault insgesamt fünf Grundsätze der Heterotopie. Dazu gehören ihre Universalität – es gibt keine Kultur auf der Welt, die keine Heterotopien etabliert, ihre Formen jedoch sind sehr unterschiedlich –, ihre Wandelbarkeit innerhalb einer Kultur, die Foucault am Beispiel des Friedhofs illustriert, ihre Fähigkeit, an einem einzigen Ort mehrere und widersprüchliche Räume zusammenzulegen – wie dies etwa auf der Theaterbühne geschieht –, ihre Gebundenheit an Zeitschnitte, die aus Heterotopien auch Heterochronien macht, und ein System von (meist rituell vollzogenen) Öffnungen und Schliessungen, die den Zugang zu einem heterotopischen Ort regeln. Vgl. Foucault 1996, S. 40-45.
Spezialausgabe
Im Welttheater
Eva Mackensen (*1986) studierte Philosophie und Kulturkritik in München. Sie ist Dozentin im Master Kulturpublizistik der Zürcher Hochschule der Künste.