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Der Balken in meinem Auge

Die Schule der Ortlosen. Interview mit Georg Schöllhammer

DAMIAN CHRISTINGER: Wir sitzen hier zusammen am Maidan in Kiew, dem Ort, wo die so genannte Ukraine-Krise mit einem Volksaufstand ihren Anfang nahm. Du bist, zusammen mit Hedwig Saxenhuber, der Co-Kurator der diesjährigen Kiew-Biennale, die ihr «School of Kyiv» nennt und die am 8. September 2015 eröffnen soll. Sind wir in Europa?

GEORG SCHÖLLHAMMER: Wir sind gewissermassen im Kern von Europa. Die Ukraine liegt genau an den historischen und zeitgenössischen Bruchlinien, die Europa konstituieren.

In Zürich wurde dieses Jahr am Theater Neumarkt die «Iphigenie auf Tauris» in einer Inszenierung von Joachim Schloemer gespielt. Seine Inszenierung verweist deutlich auf den Ukraine-Konflikt, Tauris meint im antikisierenden Verständnis ja die Krim. Goethe, Gewalt, Gewissen und die Ukraine – lässt sich dieses riesige Land von der europäischen Klassik her denken?

Die Ukraine ist durchaus von der europäischen Klassik her zu denken. Sie macht den unterdrückten Orientalismus als das Verborgene der europäischen Klassik, ihre osmanischen, asiatischen, aber auch russischen Einflüsse sichtbar. Die Krim ist natürlich Tauris, aber sie ist auch eine Projektion von anderen Seiten: Seit Peter dem Grossen bildet sie für Russland den Zugang zum Süden, zum schwarzen Meer. Die Dame mit dem Hündchen (Roman von Anton Tschechow, Anm. d. Red.) spaziert in Jalta auf der Krim und macht ihre Moskauer Einsamkeit dort breit. Für die Ukraine ist der Verlust der Halbinsel Krim vielleicht wirtschaftlich gar nicht so schlimm. Kulturell jedoch verbindet sie die Krim als Ort, an dem Tartaren leben, mit dem osmanischen Kulturkreis – an einem Platz, der muslimisch ist, spielen diese Projektionen aus der Vergangenheit eine Rolle.

Gleichzeitig ist Kiew seit dem 11. Jahrhundert eine der grossen europäischen Städte. Kasimir Malewitsch, Alexandra Exter, Louise Nevelson, Michail Bulgakow, Nikolai Gogol und Maya Deren stammen aus Kiew, um nur einige der bekanntesten Namen zu nennen. Die europäische Avantgarde schuldet der Ukraine viel. Auch Ilja Repin, der grosse realistische Maler, der die Salons zwischen St. Petersburg, Paris, München und Wien genau so geprägt hat wie etwa Hans Markart oder Adolph von Menzel, wurde in der Ukraine geboren, die er häufig sozialkritisch dargestellt hat.

Der Konflikt in der Ukraine, der Krieg im Osten des Landes, prägt momentan unser Bild dieses kulturellen Raumes. Eine Biennale in Zeiten des Krieges kann natürlich in Frage gestellt werden, und die Biennale wurde von offizieller Seite her auch abgesagt. Ihr habt Euch mit Euren ukrainischen Partnern und Partnerinnen zusammen entschlossen, trotzdem eine Biennale durchzuführen. Weshalb?

DC: Spielt Russland in diesem Raum eine Rolle?

GSch: Wir haben viele russische Künstlerinnen und Künstler eingeladen, das ist uns sehr wichtig. Eines der Hauptziele ist es ja, dass man die Projektionen und Gegenprojektionen auflösen und eine Dialogsituation aufbauen kann. Was gar nicht so einfach ist, weil der Ukraine-Konflikt und die Rhetoriken, die um ihn aufgebaut sind, sich tief in die Denke eingraben. Auch wenn wir viele nicht-europäische Künstler und Künstlerinnen, Theoretiker und Theoretikerinnen eingeladen haben, so steht die Achse Russland-Ukraine-Europa sicher im Zentrum der Biennale.

Weil es der Wunsch von vielen ukrainischen Kunstschaffenden und Intellektuellen ist. Natürlich können wir nicht eine Biennale machen wie die letzte, die während der Fussball-Europameisterschaft den globalen Kunstbetrieb abbildete und mit grossen Namen und Installationen feierte. Das wäre obszön. Wir können aber, jenseits der Diskursverengung auf den Konflikt, einen Raum des zivilen Anderen aufbauen. Also nicht Kunst zeigen, welche die Krise illustriert. Sondern einen Raum schaffen, in dem die Potentialitäten jenseits oligarchischer Herzogtum-Strukturen oder eines europäischen Hinterhofparadigmas aufgezeigt, erarbeitet und vermittelt werden. Wir glauben fast naiv an die Kraft der Kunst, dass sie einen dritten Möglichkeitsraum schafft, über dessen Vermittlung neue Horizonte geöffnet werden können.

Ihr nennt die Biennale ja die «Schule von Kiew», wie wird sich das manifestieren?

Als Ort des Nachdenkens, Lehrens und Vermittelns. Wir sehen uns hier in der Tradition von Malewitsch und vor allem auch von Alexandra Exter, die früh in der Ukraine mir Malochern und Bauern gearbeitet hat. Wir haben sechs Schulen: Die Schule des geraubten Europa, des Bildes und der Wahrheit, wo wir uns mit dem Bild als Waffe in Propaganda-Kriegen befassen, die Schule der Landschaft, auf einem der blutigsten und fruchtbarsten Böden Europas, die Schule des Realismus, den wir in der emanzipatorischen Tradition Europas sehen, die Schule der Einsamen…

Die Schule der Einsamen?

Der Maidan, der Gezi-Park in der Türkei oder Tahrir Platz in Kairo stehen für ähnliche Phänomene. Nach einer politischen Euphorie, den Möglichkeiten eines Aufbruchs, folgt bei den beteiligten, zumeist jungen Menschen starke Ernüchterung, wenn sie sehen, dass sich die Geschichte ins Negative wendet. Nach dem gemeinschaftlichen Gefühl, dass Veränderungen möglich sind, folgt die Einsamkeit der politisch Enttäuschten. Diese Gefühle thematisieren wir. Alle Veranstaltungen können übrigens ohne Entgelt besucht werden, was der ökonomischen Wirklichkeit dieser Stadt entspricht.

Zurzeit halten sich etwa 350’000 Vertriebene aus dem Osten des Landes in Kiew auf, gleichzeitig finden sich hier viele Arbeitsmigranten und Arbeitsmigrantinnen aus dem Kaukasus. Finden sich diese Themen auch in der Biennale?

In der Schule der Ortlosen. Die Ortlosen gibt es ja sozusagen in zwei Variationen. Eine globale, mobile Elite, die mit ihren Laptops von überall her arbeiten kann, viele Kunstschaffende sowie Kuratoren und Kuratorinnen gehören zu dieser Gattung. Und dann gibt es die Menschen, die von ihrer Geschichte, ihrer Herkunft abgeschnitten wurden, weil sie ihr Heimatland verlassen mussten. Hier arbeiten wir mit Künstlern und Künstlerinnen, die dieses Schicksal teilen, aus ihrer eigenen Biographie heraus mit der Ortlosigkeit vertraut sind. Dies kollidiert in der Ukraine mit der Rückprojektion der eigenen Diaspora auf der ganzen Welt.

Dies sind derzeit auch in der Schweiz und in Westeuropa brennende Fragen. Unsere Überforderungen im Umgang mit den Flüchtlingen, mit dem sogenannt «Fremden», mit dem kulturell «Anderen» prägen die Debatten in den Medien. Wir fragen uns, wer wir sind und wie viel des «Anderen» wir ertragen. Kann eine Biennale in Kiew hier ansetzen?

Europa lernt gerade am Beispiel der Ukraine wieder, dass die globalen Konflikte und die globale Machtpolitik nicht der Vergangenheit angehören. Wir haben ja für eine Zeit lang geglaubt, dass sich diese Konflikte im Zuge einer neuen, neoliberalen Weltordnung aufgelöst haben, dass die blutigen Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts im einundzwanzigsten nicht mehr möglich sind. Am Beispiel der Ukraine sehen wir, dass die machtpolitischen Blöcke, das alte Denken, einen Hinterhofkrieg in Europa provozieren. Man kann diesen Konflikt, vor allem aus der Sicht Russlands, als Neuauflage des «Great Game» lesen, bei dem es gegen Grossbritannien um die Vorherrschaft in Zentralasien kämpfte. Diese Reflexe spielen aber auf beiden Seiten. Vor Kurzem hat der Präsident der Ukraine ein Gesetz unterschrieben, das die Entfernung aller sowjetischen Symbole aus dem öffentlichen Raum vorschreibt. Ikonoklasmus ist immer schwierig, weil er geschichtsverleugnend ist. Hier ist es besonders schwierig, weil dies den West-Ost-Konflikt in der Ukraine nochmals verstärkt. Es gibt eine Ukraine, die 70 Jahre lang sowjetisch war, an die drei Generationen Erinnerungen mittragen. Die Symbole, die Sprache dieser Erinnerungen wird ihnen so genommen. Dann erklärt man plötzlich die ukrainischen Nationalisten, die an der Seite der Nazis gekämpft haben, als Freiheitskämpfer – solchem Unsinn müssen wir uns stellen, hier setzen wichtige Diskurse an. Geschichtsklitterungen korrelieren häufig mit einem nationalen und nationalistischen Selbstermächtigungs-Bestreben. Gleichzeitig findet sich hier, und ich bin sehr dankbar dafür, das kennengelernt zu haben, eine ungeheuer weltoffene und reflektierte, gebildete intellektuelle Schicht von Menschen, mit denen und für die wir diese Biennale machen. Diese Menschen können in drei Systemen denken, sie können die Aporien und Widersprüche dieser Systeme erkennen und sie versuchen, diesen eine neue, zivile Art des Denkens entgegenzustellen. Dies ist vielleicht der Ansatz, der in Westeuropa fehlt, dass man das aus der Geschichte heraus in der Gegenwart denken kann. Hier können wir von der «Schule von Kiew» lernen.

Georg Schöllhammer ist Kurator, Autor und Herausgeber. Er lebt ihn Wien. Die Biennale in Kiew, die er zusammen mit Hedwig Saxenhuber verantwortet, eröffnet am 8. September und läuft bis 1. November 2015. Sie hat Klassenräume in 12 europäischen Städten von Istanbul über Karlsruhe und Leipzig bis Trondheim.

Der Balken in meinem Auge ist seit Juli 2015 eine mit Coucou geteilte Rubrik. Das Interview mit Georg Schöllhammer wurde von Damian Christinger am 20. Mai 2015 geführt, es erschien in  der Coucou-Septembernummer 2015.