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Laura Ferrari

Die Reise zu ihrer Mutter

Der Zug setzt sich langsam in Bewegung. Ein Blick auf die Uhr sagt ihr, dass sie mit einer halben Stunde Verspätung unterwegs ist. Sie wird ihrer Mutter eine Nachricht schreiben müssen. Kurz fährt sie mit der Hand über den Deckel ihres Buches, öffnet es und liest weiter. Die Geschichte des Jungen, der in einem Mädchen- und Frauenkloster aufgenommen wird und mit dem Namen Mary aufwächst, liest sie zum dritten Mal. Sie spielt im frühen fünfzehnten Jahrhundert. Kein Mann darf das Gelände betreten. Die Schwestern erzählen den kleinen Mädchen, das männliche Geschlecht sei ausgestorben. Nur in der Bibel lesen sie noch von diesem anderen, ihnen unbekannten Geschlecht. Doch dann findet eine der Schwestern am Fusse des Berges, auf dem das Kloster steht, ein Baby. Der kleine Junge wird im Kloster aufgenommen, sie nennen ihn Mary. Mary ist, anders als die anderen Mädchen, ein lautes und wildes Kind. Trotzdem wird er von den Schwestern im Kloster vergöttert. Am Ende der Geschichte sprengt der dreizehnjährige Junge Mary das Kloster in die Luft und flieht.

 

Sie klappt das Buch zu, nimmt ihr Notizheft hervor und notiert einige Stichworte. Veränderung. Aufwachsen. Aufwachen. Das Vibrieren auf dem kleinen Tisch lässt sie das Notizheft und ihre Gedanken beiseitelegen.
«Wann kommst du? Soll ich dich abholen?»
Sie tippt schnell die Antwort ein: «Habe eine halbe Stunde Verspätung, nehme den Bus. Musst nicht extra kommen.» Sie wartet kurz, doch keine blinkenden Punkte erschienen. Sie schaltet das Telefon aus und steckt es in die Aussentasche ihres Rucksacks. Ihre Mutter würde in einer Stunde vielleicht am Bahnhof stehen, oder sie würde zuhause warten, vielleicht eine Flasche Weisswein geöffnet, sich bereits einen Schluck genehmigt haben, aus einem ihrer hellbraunen Keramikbecher.

Letzte Woche hatte ihre Mutter sie angerufen. Du hast lange nichts von dir hören lassen. Kommst du mich besuchen? Sie hatte das darauffolgende Wochenende vorgeschlagen, das verschaffte ihr ein wenig Zeit. Erst als sie aufgelegt hatte, bemerkte sie, dass ihre Mutter nicht nach Kaspar gefragt hatte. Ein paar Wochen vorher hatte sie Kaspar erklärt, dass er ausziehen müsse. Kaspar hatte lautlos und mit gesenktem Blick seine Sachen gepackt. An der Tür hatte er sie nochmals angeschaut, da war keine Wut, keine Enttäuschung, sondern Hass. Danach fühlte sie sich befreit. Sie hatte nichts mehr von ihm gehört, war ihm nicht mehr begegnet, wahrscheinlich war er in einen anderen Stadtteil gezogen, möglichst weit weg von ihr.

Aber Kaspar war doch so nett, und so gut zu dir. Du brauchst etwas Konstantes in deinem Leben, jemanden, auf den du dich verlassen kannst. Und Kinder, willst du denn keine Kinder, du machst das so gut mit den Kindern in der Schule, hört sie ihre Mutter sagen, wie sie sprechen würde, sobald sie sich mit ihr auf den Balkon ihrer grossen Wohnung setzen würde. Vielleicht würde sie es schaffen, einen Schluck Wein und eine halbe Zigarette geraucht zu haben, bevor sie antworten musste.

Ihre Mutter hatte es immer gut gemeint. Sie wollte ihren Kindern Verständnis entgegenbringen. Eine Zeit lang sagte sie ihr so oft, wie vollkommen in Ordnung es wäre, wenn sie mit einer Freundin statt mit einem Freund nachhause kommen würde, dass sie irgendwann das Gefühl hatte, sie müsse sich zu Frauen hingezogen fühlen.

Ihre Mutter hat die Männer aufgegeben. Irgendwann muss man sich diese Lügen und Entschuldigungen nicht mehr anhören, es reicht mir, hat ihre Mutter zu ihr gesagt, nachdem sie sich von ihrem Stiefvater getrennt hatte. Jetzt wohnt sie allein in der gemeinsam gekauften Eigentumswohnung.

Sie schliesst kurz die Augen, um die Gedanken an ihre Mutter beiseitezuschieben. Der Zug bremst langsam ab, kommt dann an einem kleinen Bahnhof zum Stehen. Er wird hier für fünf Minuten halten, das reicht für eine halbe Zigarette. Draussen empfängt sie der Geruch von frisch gemähtem Heu, gemischt mit Zigarettenrauch. Ein Mann neben ihr tippt mit nervösen Fingern eine Nachricht in sein Telefon. Er ist so darin vertieft, dass er seine Zigarette vergisst, deren Glut sich immer weiter nach unten frisst, ohne dass die Asche abfallen will.

Der schrille Pfiff ertönt, sie tritt ihre Zigarette aus, bläst den letzten Rauch aus ihrer Lunge und steigt die kurze Treppe hoch. Hinter ihr schliesst sich mit lauten Piepen die Tür. Zurück an ihrem Platz öffnet sie ihren Laptop. Die Geschichte umfasst bereits dreissig Seiten. Dreissig Seiten, die sie wieder und wieder überarbeitet. Sie löscht Sätze, fügt neue hinzu, formuliert sie um. Immer wieder streicht sie ganze Abschnitte, nur um sie dann leicht verändert erneut aufzuschreiben. Dreissig Seiten in vier Wochen.

Früher wollte sie Journalistin werden. Es war ihr ziemlich egal, was sie schreiben würde, so sehr wollte sie schreiben. Ich sehe dich nicht als Journalistin, hatte ihre Mutter gesagt. Du bist ein soziales Wesen, du solltest mit Menschen zusammenarbeiten, dir hat das Praktikum als Lehrerin so gefallen, mach doch in diese Richtung weiter. Und wie willst du dir diese teure Ausbildung finanzieren? Also arbeitete sie ein Jahr lang in einem Bahnhofbistro, sechs Tage die Woche stand sie neun Stunden an einer kleinen Bar und verkaufte verbrannten Kaffee und versalzene Brötchen an Reisende, die sich nach Verlassen des Ladens nicht mehr an sie erinnern würden. Sie legte Geld zur Seite, wachte jeden Morgen weinend auf, zählte die Tage bis zur Aufnahmeprüfung. Sie schaffte die Prüfung nicht, da sie ein Jahr damit verbracht hatte, verbrannten Kaffee zu verkaufen, statt unbezahlte Schreibaufträge anzunehmen. Also besuchte sie am Ende die Pädagogische Hochschule, ihre Mutter gab ihr das Geld. Sie wurde Lehrerin und ihre Mutter war glücklich.

Bis zu dem Tag, als sie ins Büro des Direktors ging und ihm mitteilte, dass sie nach den Sommerferien nicht mehr wiederkommen würde. Noch am selben Tag setzte sie sich zu Hause an ihren Laptop und fing an zu schreiben. Als Kaspar nach Hause kam, schloss sie die Tür zum Arbeitszimmer und öffnete sie erst wieder, als sie ihn die Wohnung verlassen hörte. Ein paar Tage später war er dann weg.

Aber ich dachte, du seist glücklich an der Schule? Das war doch das, was du immer wolltest, und jetzt gibst du das einfach so auf? Um zu schreiben? Wie willst du denn damit Geld verdienen, es kauft doch niemand mehr Bücher heutzutage, nicht einmal ich kaufe noch welche. Seit sie das Telefon aufgelegt hatte, hat sie sich ausgemalt, was ihre Mutter sagen würde. Sie hat sich Antworten zurechtgelegt, hat versucht, sich einen Schutzmantel umzulegen, um nicht von der fehlenden Unterstützung ihrer Mutter verletzt zu werden. Einen Schutzmantel, der seine schützende Kraft auch um ihre Mutter legen könnte, um die Enttäuschung ihrer Tochter aufzufangen und abzuwehren.

Ihre Mutter musste sie und ihren Bruder allein grossziehen. Der Vater hatte die Familie früh verlassen, also arbeitete sie jahrelang sieben Tage die Woche im Krankenhaus und die Kinder lebten hauptsächlich bei ihrer Schwägerin. Jeder Mann, den sie nach Hause brachte, musste sich mit ihren Kindern verstehen, die meisten taten es nicht.

Du weisst, dass du deiner Mutter deswegen nichts schuldig bist, hatte eine Freundin ihr einmal gesagt. Sie weiss nicht, wie sicher sie sich da ist. Es fühlt sich an, als hätte ihre Mutter irgendwann den richtigen Weg für sie beschlossen, und dem war sie gefolgt. Mit dem Wissen, dass ihre Mutter so oft richtig liegt. Und ihre Mutter hatte auch Recht gehabt, sie war gerne Lehrerin gewesen. Doch irgendwann hatte es sich falsch angefühlt, vor der Klasse zu stehen. Es hatte sich falsch angefühlt, zu unterrichten, die Kinder auf ihr Leben vorzubereiten, wo sie doch selbstnichts über das Leben wusste.

 

Im Jahr zuvor wurde bei ihrer Mutter ein Tumor im Gehirn gefunden. Ein kleines, bösartiges Gewebe, fast ein Schatten, der im Zentrum des Gehirns sass und die Hormone ihrer Mutter mit solch einer Macht beeinflusste, dass es ihr in ein paar Jahren das Leben gekostet hätte. Nach zahlreichen Untersuchungen und Wochen im Krankenhaus wurde sie endlich operiert.

Danach fiel ihre Mutter in eine tiefe Depression. Die Gedanken, dass über Jahre ein Tumor ihren Körper und ihre Emotionen besetzt und verändert hatte, gestaltete ihre Rückkehr in den Alltag sehr schwierig. Für ein paar Wochen nahm sie sich deshalb frei und zog bei ihrer Mutter ein. Sie half ihr im Haushalt, kochte für sie und zwang sie jeden Tag zu einem langen Spaziergang. In dieser Zeit fing sie wieder zu schreiben an. Es waren kurze Texte, sie fühlte sich aus der Übung gekommen, so lange hatte das Schreiben keinen Platz mehr in ihrem Leben gehabt. Als sie wieder zuhause war, hatte sie einige Texte geschrieben, von denen sie ein paar für genug gut befand, um sie  zu veröffentlichen. Als sie jedoch die Ausschreibungen durchlas, verliess sie der Mut. Plötzlich war das Geschriebene nicht mehr gut, es war langweilig, schon zu oft gelesen, plump formuliert. Sie las sich durch Artikel und Interviews der zeitgenössischen Literaturszene, schaute sich Literatursendungen an und fühlte sich dieser Welt so fern, dass sie schliesslich ihre Texte vom Desktop in den Papierkorb schob. Danach nahm sie ihre Arbeit an der Schule wieder auf und telefonierte regelmässig mit ihrer Mutter, der es immer besser ging. Doch plötzlich ertrug sie die Stimme ihrer Mutter nicht mehr, plötzlich verspürte sie bei jedem Mal einen Unmut, wenn sie den Namen Mama auf dem Display ihres Telefons las. Etwas war passiert, hatte sich verschoben. Eine Unruhe hatte sie beschlichen, ein Unbehagen, das sie nicht mehr losliess. Die Gedanken blieben, die Unruhe wurde stärker, sie zog sich zurück, sprach kaum noch mit Kaspar, traf ihre Freundinnen nicht mehr und ihrer Mutter sagte sie, sie hätte in der Schule viel zu tun. Das Gefühl der Leere zog sich hin, sie fühlte sich nirgends zuhause. Sie wollte schreiben, hatte nicht den Mut dazu. Und dann kam der Tag, an dem sie frühmorgens beschloss, nicht mehr zu unterrichten und ihre Beziehung zu beenden.

 

Sie steigt aus. An der Bushaltestelle sieht sie ihre Mutter stehen. Langsam geht sie auf sie zu. Als ihre Mutter sie sieht, lächelt sie und kommt ihr ein paar Schritte entgegen. Kaspar ist ein paar Tage verreist, er wäre sonst gerne heute Abend dazu gestossen, sagt sie, während sie ihre Mutter umarmt.

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