Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualiseren Sie auf Edge, Chrome, Firefox.
Olivier Christe

Die Pariser Bank

Ich gehe durch Paris. Setz dich zu uns! ruft eine Stimme von einer Bank. Ich hole mir ein Bier im Laden nebenan und setze mich. Mein Freund, stellt Jerôme seinen Banknachbarn vor. Er wirkt wild, ist aber sehr liebenswürdig. Zu meiner anderen Seite setzt sich Alex. Ein Obdachloser aus der Ukraine. Ich krame meine paar Sätze Russisch zusammen. Sogleich spricht er über die Krankheit der beiden anderen. Golubije, Hellblaue, wie man Homosexuelle auf Russisch bezeichnet. Kaum drei Worte gesprochen, sprudelt auch aus ihm Homophobie. Er unterstreicht seine Worte mit einem Griff zum Herzen. Es macht mir weh, das zu sehen. Seine Hände sind geschwollen. Abgesehen davon gute Typen. Der Freund mit der Gitarre zupft einige Akkorde, singt ein paar Strophen. Ein Afrikaner tritt aus der Nacht und erzählt wankend von seiner HipHop-Vergangenheit. Hohe Stimme, unverständliche Worte, von Pausen durchsetzter Gesang. Ein zweiter Afrikaner tritt hinzu. Er setzt mit einer gewaltigen Stimme ein. Beide singen lauthals in die Nacht. Pigalle pulsiert in der Distanz. Neben mir erzählt Jerôme, der mädchenhafte Züge hat, von seiner Kunst. Sculpteur, photographe, sei er. Er zeigt mir Fotos seiner Werke auf seinem Mobiltelefon. Ich sage: Mir fehlt die Geschichte. Er wird emotional, sagt: Die Geschichte bist du! Wenn ich dir meine Bierflasche auf dein Knie stelle, ist das eine Geschichte. Du machst daraus die Geschichte. Die Flasche aber steht auf dem Boden und zerbricht in einem dumpfen Knall vor meinen Füssen. Ein dritter Afrikaner hat wild gestikulierend dagegen getreten. Seine Augen sind vom Kokain weit aufgerissen, er spricht aggressiv und hektisch. Ruckartig reicht er mir die Hand und entschuldigt sich im Glauben, es sei mein Bier gewesen. Unter einem viel zu grossen, silberfarbenen Jackett trägt er ein T-Shirt mit einem Aufdruck des Eiffelturms. Erst als ich die Entschuldigung annehme, löst er den Griff und zeigt mir das Blut an seinen Händen. Ich bin im Krieg. Aber nicht mit euch Weissen. Mit euch habe ich keine Probleme. Ich bin im Krieg mit meinen schwarzen Brüdern. Er streckt mir den blutigen Finger unter die Nase. Erst vorhin habe ich einen niedergeschlagen. In der Metro. Mit euch habe ich keine Probleme. Ich bin froh, dass du meine Entschuldigung angenommen hast. Auch ich bin froh, dass ich sie angenommen habe und blicke in einem hypochondrischen Zucken auf meine Hand, die vorhin noch in seiner lag. Der zweite Afrikaner mit dem Kopftuch nervt sich. Ich bin in Frieden gekommen. Aber er kommt hierher und verbreitet diese Aggressivität. Vollkommen unverhofft schnellt sein Bein in die Höhe und tritt den mit dem silbernen Jackett fast ins Gesicht. Willst du mein Tak-Wen-Do sehen? kommentiert er. Nur Sekunden später bricht der Fröhliche in ein Gelächter aus, und alle drei singen in den Gitarrenklang, der während all dem nie verklungen ist. Mundlaute, Sprechgesang, angezogenen Klagelaute. Mister Bossa Nova, sagt derMädchenhafte liebevoll zu seinem Freund. Alex, der Ukrainer, wacht auf. Princess, Sigaretta, Sigaretta, ruft er zwei jungen Blondinen zu, die in einem grossen Kreis um uns herumgehen. Die Prinzessinnen werfen einen flüchtigen Blick auf unsere Bank und gehen weiter. In der Ferne überblendet der Blitz ihres Fotoapparats das Lichtermeer für den Bruchteil einer Sekunde, dann ist wieder alles beim Alten.

Der mit der Silberjacke hat inzwischen wieder eine Wut-Attacke, erzählt von den M23-Rebellen im Kongo, dass sie ihm den Schädel aufgeschnitten und sein Hirn freigelegt hätten. Das ist mein Krieg. Und er geht in Paris weiter. Tatsächlich zieht sich rund um seinen Kopf eine gewaltige Narbe, die ich erst jetzt erblicke. In grossen Schritten geht er seinen Weg und verschwindet in der Nacht. Ihm folgen in kurzem Abstand die beiden anderen Afrikaner und das Künstlerpärchen. Plötzlich herrscht vollkommene Stille. Alex und ich bleiben auf der Bank zurück. Er erzählt vom Tod seines Vaters vor zwei Wochen im ukrainischen Krieg. Wie seither der Körper des Vaters fliegend seine Runden dreht und er ihn jede Nacht sieht, an der Decke der Metrostation Blanche, wo Alex sein Lager aufgeschlagen hat.

Alex kramt in seiner Tasche und reicht mir eine Zigarette. Rauch sie an. Ich rauche die Hälfte und gebe sie ihm zurück. Das ganze wiederholt sich noch einige Male. Er fragt mich, ob es wohl möglich sei, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Schau mich an, sagt er, ich bin 33 Jahre alt, meine Beine sind voll Wasser, ich lebe ohne Pass und denke nur daran, wo ich im Winter unterkomme. Ich schreibe ihm meine Mail-Adresse auf ein Stück Papier und wir verabschieden uns. Mit der letzten Metro der Linie 12 fahre ich quer durch Paris bis Pernety. Dass er mir schreiben wird, bezweifle ich.