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Der Balken in meinem Auge

DIE KUNST-MARKT-WELT. INTERVIEW MIT WOLFGANG ULLRICH

RUEDI WIDMER: Kann man, mit Blick auf die heutige Kunstwelt, sagen, dass koloniale Machtverhältnisse überwunden sind?

WOLFGANG ULLRICH: Wir können hier eine Paradoxie beobachten. Einerseits gilt der Bereich der Kunst als einer derjenigen, in dem man machtkritisch und mit besonderer Sensibilität für soziale Verhältnisse agiert. Andererseits haben wir im zeitgenössischen Kunstbetrieb selber Strukturen, die durchaus an koloniale Verhältnisse erinnern. Beispielsweise gibt es so etwas wie einen Backstage-Bereich des Kunstbetriebs – also der Bereich, in dem Kunst produziert, verpackt, auf- und abgebaut, dokumentiert wird –, in dem die Arbeitsverhältnisse oft Sub‑Standard sind. Dazu gehört auch das Ausschöpfen beziehungsweise Ausnutzen von Preis- und Lohnunterschieden weltweit. All das Hehre und Politische, das man der Kunst attestiert, spielt hier offenbar plötzlich keine Rolle mehr.

Wie steht es mit der Kolonialisierung durch die Kunst selbst? Also beispielsweise das Besetzen von Regionen durch Ästhetiken, in denen diese bisher keine Rolle spielten, und das Verdrängen von Ästhetiken, die dort verwurzelt sind?

Dass es solche Vorgänge weiterhin gibt, ist, glaube ich, unbestreitbar. Wobei ich, wenn etwa in Asien grosse neue Museen für Gegenwartskunst entstehen, weniger danach fragen würde, ob dies an sich problematisch ist, als eben nach den Demokratie-, Arbeits- und Nachhaltigkeitsbedingungen, unter denen es zustande kommt. Gerade bei der ökologischen Nachhaltigkeit ist die genannte Paradoxie besonders eklatant. Bei Kunstfestivals und Biennalen entstehen unglaubliche Mengen von Müll. Es gelingt offenbar auch hier, das Symbolische auf der sichtbaren Vorderbühne und das Reale auf der unsichtbaren Hinterbühne separat abzuhandeln. Im Medium Kunst kann man eben vieles, was sonst konfrontativ wäre, vernebeln. Gerade Macht-, Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse eignen sich da gut.

Für Operationen der Vernebelung und Blendung braucht es immer jemanden, der sich blenden lässt. Sie sprachen auch schon davon, wie man sich im Museum von Werken wissentlich und genussvoll aufs Kreuz legen lässt. Was ist, wenn sich ganze Gesellschaftssegmente weltweit durch Kunststrategien und Kunsterfahrungen, die ja in aller Regel aus den nordatlantischen Zentren kommen oder von diesen geprägt sind, aufs Kreuz legen lassen?

Hier ändert sich gerade etwas: Ich glaube nicht, dass es die Einbahnstrasse, auf welcher der Westen den Kanon in die Welt exportierte, noch gibt. Es geht immer mehr auch in die andere Richtung. Das wiederum hat allerdings auch mit der Gefrässigkeit des Kunstmarktes zu tun. Man schuf und schafft durch Eingemeindung immer neue Reize, Befremdungseffekte, Märkte und Spekulationsmöglichkeiten. In dieser Logik, die übrigens auch diejenige des Readymades ist, sind immer wieder Artefakte, die nie als Kunst gedacht waren, in den Kunstbereich aufgenommen worden. Das beste Beispiel sind die Völkerkundemuseen, die um 1900 gegründet wurden. Zwar ist dieser Typ von Museum durch die Postcolonial Studies in die Krise geraten, nicht aber der Kunstbegriff. Das Vereinnahmen mag, etwa durch die damit einhergehende Nobilitierung, auch etwas Emanzipatorisches haben. Gleichzeitig passt es den jeweiligen Gegenstand in die eigene Logik ein.

Glauben Sie, dass es «Welthauptstädte» der Kunst, wie es Paris oder New York schon sind, demnächst auch in Asien, Lateinamerika oder Afrika geben wird?

Ich wüsste nicht, was dem im Wege stehen sollte. Gewisse idealistische Prägungen des westlichen Kunstbegriffs verlieren ohnehin schon an Bedeutung. Damit ist auch der Weg dafür offen, dass etwas, was aus anderen Traditionen kommt, auf dem Kunstmarkt reüssiert. Es weckt ja immer auch neue Spekulationsfantasien, wenn man mit einem neuen Typ von Artefakt konfrontiert ist. Dadurch werden sich fast zwangsläufig auch die Zentren verschieben.

Das hiesse auch, dass angehende Künstlerinnen und Künstler dann in Asien, Lateinamerika oder Afrika in die Schule gehen. Dass sie zum Beispiel aus Europa dorthin pilgern, weil man es von dort aus besser schaffen kann.

Natürlich. Genauso wie man lange Zeit von überall her an die Akademien in Mitteleuropa oder in die USA gegangen ist. Warum nicht an eine Kunstschule in Shanghai oder São Paolo oder Kapstadt? Im Vorteil werden diejenigen Zentren sein, in denen es Menschen gibt, die weit überdurchschnittlich verdienen –  die also in der Situation sind, welche Ökonomen «Anlagenotstand» nennen. Zentren, in denen jemand nicht weiss, wohin mit dem vielen Geld. So kann ein Ort zu einem interessanten oder führenden Kunstmarkt werden, mit allem, was dazu gehört.

Sie unterstreichen die Rolle des zahlungsfähigen Sammlers. Zu prestigeträchtigen Kunststandorten gehört aber, nebst Künstlerstars und Museen berühmter Architekten, doch auch der Kunst-Event, sprich: das Publikum.

Um Spitzenmärkte zu etablieren und Spitzenpreise nach oben zu schrauben, reicht es, wenn die Akteure unter sich sind. Was die status-symbolische Besonderheit der Kunst betrifft, ist hingegen ein öffentlich-mediales Interesse erforderlich. Dieses Interesse darf, im Interesse des Marktes und im Interesse des durch Kunstkäufe ermöglichten Statuszuwachses und Distinktionsgewinns der Käuferinnen und Käufer, nicht zum Erliegen kommen. So muss man schon auch das Publikum bei Laune halten und auch teilhaben lassen. Bei den grossen Events und den grossen Museen muss man ja eher von einer Besucherschar als von Rezipientinnen und Rezipienten sprechen. Die kommen, weil etwas Superlativisches, eben das neue Museum des grossen Architekten oder die lang erwartete Retrospektive, zu erleben ist. Dieses Publikum gleicht den Menschen der vormodernen Welt, welche das Schloss des Fürsten bestaunen und dabei der Differenz zur eigenen Lebenswelt inne werden.

Das Bild suggeriert, denke ich, einen Niveau-Unterschied, den es meines Erachtens so nicht mehr gibt. Geht es nicht auch um Ermächtigung?

Es gibt sicher auch die anderen Formen der Demokratisierung, deren Anliegen es ist, wirkliche Teilhabe zu schaffen, also zum Beispiel der Kunst das Elitäre, das sie der Tendenz nach immer noch hat, zu nehmen. Im Kunstbereich gibt es ja grosse Vermittlungsanstrengungen im Unterschied zu anderen Sparten, in denen man eher davon ausgeht, dass jeder selber findet, was ihm gefällt. Also vom Tempel mit der Ehrfurchtsstarre hin zu einem Ort, an dem sich die Menschen selber als kreativ erleben und beschäftigen. Da geht es auch um eine Demokratisierung des schöpferischen Tuns. Die Rearistokratisierung und die Demokratisierung finden also gleichzeitig statt.

Ist die Demokratisierung nicht auch Ausdruck davon, dass sich Museen über Besucherzahlen legitimieren, also Quote machen müssen?

Ja, aber der Quotendruck ist mit der Idee der Kunst für alle, wie sie in den 60er- und 70er-Jahren aufkam, untrennbar verknüpft.

Ist nicht ein Museum unter Quotendruck in der Konsequenz auch ein Museum, bei dem immer mehr die Besucherinnen und Besucher – wissentlich oder unwissentlich –  zu Co-Kuratorinnen und Co-Kuratoren werden und über das Programm mitentscheiden?

Darauf würde hindeuten, dass die Marktforschung in der Museumswelt schon länger Einzug gehalten hat. Eine neue Dynamik erhält das Phänomen durch die sozialen Medien. So fragen heute Museen die User mitunter auch, welche Werke man noch ausstellen könnte und in welcher Form. Partizipation führt zu Kunstveranstaltungen mit Laienkuratorinnen und -kuratoren, das könnte ein nächster Trend sein.

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Wolfgang Ullrich wurde von Ruedi Widmer am 31. Mai 2016 in Zürich geführt.