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Der Balken in meinem Auge

Die Kunst der Vielstimmigkeit. Interview mit dem Musiker Fred Frith

Oder: Auf welchem Boden ist Musik gebaut, wenn es keine Partitur und keinen Dirigenten gibt?

DAMIAN CHRISTINGER: Lieber Fred, du machst schon lange Musik, seit deinen Teenagerjahren auch professionell. Was ist das eigentlich, ein Musiker?

FRED FRITH: Ein Mensch, der Klänge erzeugt, aus sich selbst und der ihn umgebenden Kultur heraus. Klänge, die von anderen Wesen wahrgenommen, gehört und internalisiert werden. Vielfach im Zusammenspiel mit anderen Musiker*innen, aber nicht notwendigerweise.

Dieses Zusammenspiel interessiert mich besonders. Wie spielt man zusammen, wenn die Musik nicht festgeschrieben ist, wenn alles aus dem Moment heraus entsteht? Du unterrichtest in Basel gerade ein Seminar, in dem es um Improvisation in grossen Gruppen geht. Wie funktioniert so etwas?

Eigentlich gar nicht. Die Improvisation in grossen Klangkörpern, also sagen wir mit mehr als acht oder neun Musiker*innen, ist eigentlich unmöglich. Es gibt die Kräfte der einzelnen Musiker*innen, die spielen wollen. Die andere Kraft, die dafür Raum schafft, gibt es nicht sowieso, man muss sie organisieren. Also studieren wir in einem ersten Teil anhand von Beispielen, wie diese Kräfte in der Vergangenheit organisiert wurden. In einem zweiten Teil geht es darum, dass die Student*innen mit ihren eigenen Systemen experimentieren. In dem institutionellen Rahmen, in dem wir uns befinden, ist es zwar sehr gut, dass man Zeit hat zum Experimentieren, zum Lernen, zum Fehler machen. Aber eigentlich ist es bereits ein Widerspruch, dass man Improvisation in einem akademischen, institutionellen Rahmen studiert. In einem solchen Rahmen hat man sich die Mitmusiker und Mitmusikerinnen, anders als in der freien «Wildbahn», auch nicht selber ausgesucht. Es kann also sein, dass man einige vielleicht gar nicht mag, was zu interessanten Problemen führt.

Was ist an diesen Problemen interessant?
Das Unterrichten in einer solchen Gruppe fängt für mich bei den sozialen Beziehungen an, beim Erkennen von Mustern und dem Verhalten des Einzelnen in einer Gruppe. Was sind die Codes des Anstandes, was eingeschriebene Regeln und was tatsächliches, empathisches Wahrnehmen der Anderen? Das führt in einem ersten Schritt nicht direkt zu interessanten musikalischen Resultaten. Die Mehrzahl meiner Studierenden ist in diesen ersten Schritten ziemlich nervös, was mit ihren Fähigkeiten kollidiert. Sie sind alle bereits gute Instrumentalisten, beherrschen ihre Instrumente und sind technisch hoch versiert. In diesem Moment des Aufeinandertreffens realisieren sie dann, dass dies zum Improvisieren noch nicht ausreicht.

Was ist dann der nächste Schritt?

Selbsterkenntnis. Wer bin ich und wie ich mich in einer Gruppe verhalte. Sie fangen an zu spielen, fühlen sich dabei immer besser, werden lauter, selbstbewusster und fragen sich dann plötzlich: Bin ich zu laut? Mache ich zu viel? Die typische Bewegung hierbei ist wie ein Doppel-Bogen, bei dem das wachsende Selbstbewusstsein des Tuns mit dem wachsenden Bewusstsein der sozialen Situation kollidiert. Das Verlangen, dass alle zufrieden sein sollen, ist ein postiver Aspekt der menschlichen Existenz, führt aber nie zu guter Musik.

Was führt zu guter Musik?

Vertrauen. Dieses entsteht erst durch das Wahrnehmen der Anderen. Was können sie? Was wollen sie? Die eigene Stimme da einzufügen, ist der schwierige Moment. Dieses: «Ich spiele jetzt, die Anderen treten in den Hintergrund, meine Stimme ist jetzt im Zentrum.» In einer Komposition ist dies natürlich gang und gäbe, nur ist es dort aufgeschrieben, die Verantwortung für diesen Akt des sich-in-den-Vordergrund-Stellens trägt dann eine andere Entität. Das Verhältnis der weiblichen und männlichen Musiker beim Spielen ist zum Beispiel eine schwierige Geschichte. Nach den ersten paar Versuchen muss ich jeweils nachfragen: Wer hat zuerst gespielt und wer nicht? Wer drängt sich in den Vordergrund? Das Vertrauen, das sich in diesen Reflexionsprozessen bilden kann, besteht darin, zu verstehen, dass irgendjemand aus der Gruppe diesen Schritt tun kann, um die Musik vorwärts zu bringen. Es muss nicht aufgeschrieben sein, es muss nicht immer dieselbe Stimme sein, es muss nicht heissen: Pimmel zuerst! Wir wissen als Gruppe, dass dies irgendein Mitglied tun kann, dass jeder und jede den Mut aufbringen kann, sich in diesem Moment kopfüber ins Abenteuer zu stürzen, um so eine Vielstimmigkeit zu erzeugen, die berührend sein kann.

Berührend für ein Publikum?

Wenn man beim Improvisieren an das Publikum denkt, wird es schwierig. Wer ist dieses Publikum? Das ist ja keine homogene Gruppe. So wie die Gruppe der Im­pro­vi­sa­teur*innen aus verschiedenen Stimmen besteht, so ist ja auch das Publikum ein Multiversum. Jede und jeder einzelne von ihnen besteht aus einer Vielzahl von Stimmungen, Erwartungen, die sich dann multiplizieren. Die Musiker*innen und das Publikum bilden zusammen einen sozialen Raum, den die Musiker*innen aus sich heraus gemeinsam ausfüllen müssen. Zuerst muss es für den oder die Einzelne stimmen, dann für die Gruppe der Macher*innen. Wenn sich dieses Zusammenspiel dann noch auf das Publikum überträgt, ist jener seltene und seltsame Moment erreicht, der das Grossartige an der improvisierten Musik darstellt.
Was ist dieser Moment? Wie kommt er zustande?
Aus einem Paradox heraus. Ich höre als Musiker einem anderen zu, fühle ihn und seine Stimme und reagiere darauf. Vielleicht gehe ich empathisch darauf ein. Der Andere oder die Andere wiederum spürt diese Harmonie und möchte in diesem Moment einen Bruch, eine Konfrontation und führt diese herbei. Das Publikum hört dies und reagiert mit verschiedensten Emotionen, die von uns wahrgenommen und in unser Tun eingespiesen werden. Vielleicht reagieren wir empathisch darauf oder stellen uns quer, vielleicht reagiert die Andere emphatisch und ich konträr, dieses Feedback speist sich dann wiederum in den sozialen Raum ein und generiert neue Möglichkeiten. Es ist ein unmöglicher Versuch, etwas zu kontrollieren, das sich nicht kontrollieren lässt. Freiheit zu generieren, indem man Freiheiten nimmt und gibt. Meine Hoffnung auf ein bestimmtes Ergebnis meines Tuns wird konstant untergraben, weil immer etwas ganz anderes dabei herauskommt. Hoffnung ist beim Improvisieren ziemlich fehl am Platz. Spontanität und die Bereitschaft, sich immer wieder einzulassen, helfen viel weiter.
Dein Weg als Musiker hatte verschiedene Stationen und viele Wegbegleiter. Als Kind hast du klassisch Klavier und Violine gelernt, ehe du mit der Gitarre begannst. Wie ging es dann weiter?
Meinen ersten professionellen Gig hatte ich 1970, ich spielte klassische Folk-Musik. Ich hatte dann das Glück, mit Henry Cow in einer Gruppe von Musikern und Musikerinnen zu landen, die sich den eben beschriebenen Prozessen stellen wollten. Wir unterschrieben einen Vertrag mit einem aufstrebenden Label und konnten dann intensiv arbeiten und vor allem viel live spielen. England und Europa waren im Umbruch… Diese Zeit hat mich sehr geprägt und mich gleichzeitig Demut und Selbstvertrauen gelehrt.

In einer späteren Phase gingst du dann nach New York und wurdest Teil der dort aufkommenden Avant-Garde der improvisierten Musik.

Ich mag das Wort Avant-Garde nicht besonders, auch weil es die Dinge, die passierten, nicht genau beschreibt. Da war zuerst kein gemeinsames Ziel, ausser aufregende Musik zu machen, wir waren keine Vorhut, keine Expeditions-Einheit einer Armee, sondern eine ständig wechselnde Gruppe von zusammengewürfelten Musiker*innen mit der Bereitschaft, sich aufeinander und die verschiedensten Einflüsse einzulassen.

Und doch entstand etwas Besonderes. Ein spezifischer Moment zu einer spezifischen Zeit. Was war das Besondere an New York?

Dass wir alle von woanders dort zusammenkamen. Musik und Ideen migrieren mit den Menschen, die sie mitbringen. Manchmal treffen Traditionen und Ideen, Gewohnheiten und soziale Bedingungen aufeinander, um kurzzeitig zu etwas Neuem zu verschmelzen, neue Gebäude türmen sich auf, um dann wieder zu zerfallen. Das Konträre und das Gemeinsame verschmelzen beim Musizieren immer wieder anders. New York mit seiner Tradition des Unbeständigen, des konstanten im Fluss-Seins, mit seiner Aura des Meltingpots hat uns geholfen und uns inspiriert. Heute und Morgen kann dies aber genau so in Johannesburg, in Liestal oder Montevideo geschehen. Kunst als Momentum braucht bloss das Zusammentreffen unterschiedlichster Menschen.

Fred Frith (*1949) ist ein Multi-Instrumentalist, Komponist und Dozent. Seit den 1960er Jahren tritt er in einem breiten Spektrum als Musiker in einem breiten Spektrum an Stilen auf und war Mitbegründer der einflussreichen Band «Henry Cow». In einer Karriere, die schon fast 50 Jahre andauert, wurde er vor allem auch als innovativer elektrischer Gitarrist, Improvisations-Musiker und Komponist für Theater, Tanz und Film bekannt.

Das Interview mit Fred Frith wurde von Damian Christinger am 22. Juni 2019 in seiner Küche in Zürich geführt.