Die Kraft der Sprache
«Soliloquy (I woke up and hit my head against the wall)» ist ein um sich selbst kreisender Monolog des indigenen Künstlers Tiziano Cruz aus Argentinien. Spannend und pointiert eröffnet er dem Publikum neue Perspektiven auf innere wie auch soziale Welten.
Die Schüler:innen in den letzten drei Reihen des Theaterprovisorium Süd sitzen eine Stunde lang mucksmäuschenstill. Kein Getuschel, kein Geraschel, nichts. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass das Stück, das sie wohl gezwungenermassen sehen, zuerst aus einer etwas zu lang geratenen Filmmontage von folkloristischen Tänzen aus Südamerika und dann aus einem übertitelten Monolog auf Spanisch besteht.
Der Text, den Tiziano Cruz an wechselnden Orten auf der Bühne vorträgt, ist dicht, pathetisch; poetische Passagen wechseln sich mit politischen Statements ab, immer dicht daran, in Sozialkitsch abzugleiten. Was er jedoch nicht tut. Der Künstler hat ihn selbst geschrieben. Er beruht auf 58 Briefen, die er seiner Mutter während der ersten Phase der Pandemie 2020 aus der Hauptstadt Buenos Aires in die Provinz Jujuy, seinem Herkunftsort, schrieb.
Das Persönliche und Politische, kollektive und subjektive Erinnerungen und Perspektiven, Jujuy, Buenos Aires und die Welt vermengen sich in diesen Exkursen und werden immer wieder auf den eigenen Körper bezogen, der, mit einer weissen Unterhose bekleidet, auf der Bühne in Zürich steht. Dieser Körper ist hager, die Muskeln zeichnen sich unter der straffen Haut ab. Diese ist indigen. Nicht weiss. Die psychologische und physische Gewalt, die aus diesem Umstand in einer Gesellschaft erwachsen kann, die sich selbst als «europäisch» oder «weiss» begreifen möchte, ist im übertragenen und gegenständlichen Sinne der Hintergrund, vor dem sich die Selbstbefragung und Anklage des Monologes entwickelt.
Auf der Leinwand im Hintergrund werden Slogans projiziert. Kurze Sätze, herausgegriffen aus einem Diskurs, der sich global entwickelt und die Frage des nicht-weissen Körpers, der systemischen Gewalt, der er ausgesetzt ist, ins Zentrum einer Diskussion über Macht und Ohnmacht stellt. Im übertragenen Sinne, weil die Geschichte der Kolonisation Argentiniens und Südamerikas eine Geschichte der Gewalt ist, die sich bis heute fortschreibt. Die Projektion von Slogans ist in dieser Konstellation hochproblematisch, weil die Verkürzung auf Schlagworte wie Extraktionskapitalismus, historisches Unrecht, rassistische Gewalt, der gelebten Realität eines queeren Künstlers wie Tiziano Cruz nicht gerecht wird, der Komplexität einer indigenen Identität im globalen Diskurs nicht gewachsen sein kann.
Vor den Projektionen hält der Künstler jedoch seinen komplexen Monolog. Slogans und politische Analysen werden in diesem durch poetische Passagen unterlaufen, in Frage gestellt und wieder bekräftigt. Das Pathos der Anrufung der Mutter wird durch die Unschärfe der Erinnerungen an die eigene Herkunft konterkariert. Die Sprache, die Cruz nutzt wie ein Skalpell, um den eigenen Körper in verschiedenen Tiefen zu erkunden, ist gleichzeitig scharf und weich, ausufernd und präzise, poetisch. Cruz spricht über die eigene Unsicherheit und Zerrissenheit, über das Problem, dass er als indigener Künstler das Indigene instrumentalisiert, um es in einem Raum der Mehrheitsgesellschaft als Kunst zu verkaufen. Erzählt im nächsten Atemzug von den Schafen der Mutter, die auf der Weide, alleingelassen, von Wölfen gerissen werden. Singt in der nächsten Sequenz ein einfaches Lied, das auf die Geschichte der Kolonisation und das christliche Motiv des Schafes verweist….
Glücklicherweise ist die Übersetzung von Dora Kapusta diesem dichten Gewebe gewachsen, hält die Sprache doch das Stück in einem Gleichgewicht, das einem Publikum in Zürich die Nuancen dieser Performance nahebringt. So wird dieser «Soliloquy», der um sich selbst kreisende Monolog eines indigenen Künstlers aus Argentinien, spannend und pointiert, eröffnet dem Publikum innere und soziale Welten, Perspektiven, die neu, anders und erlebenswert sind. Dafür, dass die Kraft der Sprache auch in einer anspruchsvollen Performance funktioniert, waren die Schüler:innen der letzten drei Reihen der beste Beweis.
Tiziano Cruz (*1988, Argentinien) arbeitet in verschiedenen Medien, entwickelt seine Arbeiten aber häufig in Zusammenarbeit mit verschiedenen Communities als performative Formate. Sie verbinden die visuelle und theatralische Sprache zu künstlerischen Interventionen im öffentlichen Raum. Cruz hat sein Studium in Betriebswirtschaft, Bildender Kunst, Darstellender Kunst und Kulturmanagement an der Nationalen Universität von Tucumán und der Nationalen Universität von Córdoba, Argentinien abgeschlossen und absolviert derzeit einen Masterstudiengang in öffentlicher Kultur an der Nationalen Universität der Künste in Buenos Aires.
Er war Stipendiat des Nationalen Kunstfonds und des Nationalen Theaterinstituts in Argentinien. Tiziano Cruz erhielt die Auszeichnungen als Nachwuchskünstler der Nationalen Direktion für Kulturelle Ausbildung, Argentinien und dem Nationalen Institut für Darstellende Künste, Uruguay, dem Allgemeinen Autorenverband von Uruguay und dem Kulturinstitut von Baja California, Mexiko. Gewinner der Biennale für junge Kunst 2019, Argentinien, mit seinem szenischen Werk «Adiós Matepac (Essay über Erinnerung oder Abschied)».
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Damian Christinger (*1975) ist freier Kurator und Publizist. Als Kulturhistoriker interessiert er sich für globale transkulturelle und transtemporale Bewegungen.